Nahostkonflikt im Westen - „Feindbild Israel als identitätsstiftendes Merkmal“

Die Eskalation im Nahen Osten führt zu einer zunehmenden Polarisierung muslimischer Einwanderergruppen. Im Interview erklärt der Politik- und Religionswissenschaftler Hüseyin Cicek, warum man dies aber nicht per se als Zeichen gescheiterter Integration werten sollte.

Demonstration in Wien / dpa
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Ilgin Seren Evisen schreibt als freiberufliche Journalistin über die politischen Entwicklungen in der Türkei und im Nahen Osten sowie über tagesaktuelle Politik in Deutschland. 

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Dr. Hüseyin Cicek emigrierte als Siebenjähriger mit seiner Familie nach Österreich. Der promovierte und habilitierte Politik- und Religionswissenschaftler arbeitet am Institut für Religionswissenschaft der Universität Wien und ist derzeit Fellow an der AIA („Academy of International Affairs“) in Bonn. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die alevitische Diaspora in Europa, die innen- und außenpolitische Agenda der Türkei und Radikalisierungsprozesse innerhalb der türkischen Gemeinden Deutschlands und Österreichs. 

Herr Cicek, der Nahostkonflikt polarisiert die politischen Debatten. Gerade für muslimische Migranten scheint das Thema sehr emotional besetzt zu sein. Welche Folgen hat diese Emotionalisierung für verschiedene migrantische Gruppen in Deutschland?

Der Konflikt eint selbst sonst miteinander rivalisierende Gruppen. In der Türkei haben wir sogar gesehen, dass sowohl religiös radikale als auch linke Gruppierungen gemeinsam gegen Israel demonstrierten. Eine gemeinsame Demonstration dieser sonst sehr heterogenen Gruppen war bis dahin schwer vorstellbar. 

Also eint der Konflikt diese sonst rivalisierenden Gruppen?

Das Feindbild Israel kann als identitätsstiftendes Merkmal fungieren, indem es diese sonst unterschiedlichen Gruppen im Aufzeigen einer gemeinsamen Ursache vereint. Das geschieht oft in den Kontexten, in denen politische oder soziale Spannungen bestehen und dann ein externes Feindbild als Mittel zur Konsolidierung interner Gruppenidentitäten gebraucht wird.

Die Kritik an Israel entsteht auch auf der Basis einer gemeinsamen Wahrnehmung von Unterdrückung. Spannend hier ist, dass die AKP, andere rechte Gruppen und ihre Sympathisanten ja selbst nicht davor zurückschrecken, Gewalt gegenüber Andersgläubigen, Liberalen oder Minderheiten auszuüben. 

Insofern wirkt das Ganze mit Blick auf die Türkei und den Entwicklungen dort an den Haaren herbeigezogen, wenn man sich die Politik der Regierung mit Blick auf Minderheitenrechte und Kopenhagener Kriterien anschaut. Was das Problem der türkischen Linken ist, wobei ich die CHP nicht als links bezeichnen würde, sondern als Mitte-Rechts-Partei: Auch hier dominiert eher eine Überzeugung, die sich gegenüber Minderheiten nicht nach europäischen Mustern verhält. Somit ist das Ganze, was in der Türkei passiert, sich ein Stück weit auf die Fahnen zu schreiben: „Wir sind auf der Seite der Gerechten“, während sie die Massaker der Terrororganisation Hamas gar nicht thematisieren. Israel wird also genutzt, um von den eigenen Problemen abzulenken. 

Durch Deutschlands positive Haltung zu Israel fühlen sich viele Migranten in ihrer ablehnenden Haltung gegenüber dem „unmoralischen Westen“ gestärkt. Kann diesen Gruppen eine ablehnende Haltung gegenüber Deutschland attestiert werden?

Ich bin nicht sicher, ob nur Deutschlands Haltung allein dafür sorgt, dass es in diesen Gruppen zu einer Polarisierung kommt. Ich glaube, dass der Unmut grundsätzlich dem gilt, dass viele migrantische Gruppen der Meinung sind, dass für die Palästinenser in Gaza zu wenig gemacht wird. Hier werden viele komplexe historische und aktuelle Entwicklungen übersehen. Das Massaker der Terrororganisation Hamas kann beispielsweise vonseiten Israels nicht unbeantwortet bleiben. 

Dass es durch die Polarisierung innerhalb der deutschen Gesellschaft zu verschiedenen Konflikten kommen kann, lässt sich nicht verschleiern oder leugnen. Aber ich wäre da vorsichtig, zu sagen, dass diese gegenwärtige Entwicklung mit der negativen Haltung gegenüber Israel dazu führt, dass es zu einer größeren Ablehnung gegenüber der deutschen Gesellschaft kommt. 

Diese Diskurse können auch das Gegenteil bewirken, dass sich eben wegen dieser polarisierenden Diskussionen Gesprächspartner einander nähern müssen, damit sie voneinander gehört werden. Die Polarisierung durch den Nahostkonflikt sollten wir nicht als gescheiterte Integration werten.

Es gab in den vergangenen Wochen oft genug auch laute Stimmen, die die politische Haltung dieser migrantischen Gruppen im Nahostkonflikt als Indiz für eine gescheiterte Integration werteten. Wie sehen Sie das?

Ich würde nicht sagen, dass die Integration gescheitert ist. Denn viele muslimische Migranten haben sich in wichtige Instanzen der deutschen Mehrheitsgesellschaft hochgearbeitet. Natürlich finden wir auch Stimmen unter den Eingewanderten, die möglicherweise mit Blick auf die Entwicklungen zu Irritationen führen. Das, was wir auf der einen Seite haben, der Unmut muslimisch-migrantischer Gruppen auf den Straßen, das ist nicht nur gegen Deutschland gerichtet, sondern gegen die Geopolitik der letzten 15 bis 20 Jahre. Da kommt alles zusammen. 

Insofern ist Deutschland hier nur ein Teil der Kritik dieser Menschen. Die Mehrheit der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland geht jeden Tag von Montag bis Freitag arbeiten, erfüllt die Erwartungen. Natürlich sollten die Terrorwarnungen der vergangenen Wochen nicht kleingeredet werden, aber das ist nur ein kleiner Teil von dem, was funktioniert. 

Im Moment ist der Blick auf Israel so emotional geladen, dass die meisten Menschen gar nicht zuhören, was die andere Seite argumentiert. Aber auch die arabischen Staaten haben diese Geopolitik des Westens in den letzten 20 Jahre mitgetragen. Wenn hier immer wieder vom unmoralischen Westen gesprochen wird, ist das sehr einseitig. Die geopolitische Einschätzung des Konflikts ist so komplex, dass es nicht funktioniert, das Ganze nur auf Deutschland runterzubrechen.
 

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Von dieser Polarisierung profitieren auch Autokraten. Sie zeichnen den Westen als Ort des moralischen Verfalls und der Dekadenz. Wie nutzt der türkische Staatspräsident diese Rhetorik für seine geopolitischen Interessen?

Die AKP betreibt seit 20 Jahren eine Identitätspolitik, vor allem, weil sie mit osmanischer und islamischer Symbolik und anderen Mitteln die türkische Identität, also den strengen Nationalismus, versucht, neu zu gewichten. Wir haben in Deutschland Gruppen, Anhänger der AKP, die sich seit vielen Jahren hier etabliert haben, verschiedene Thinktanks gegründet haben, die ganz bewusst für die Politik Erdogans lobbyieren. Es geht hier nicht um Menschen, die erst eingewandert sind, sondern um Strukturen, die sich in den letzten zehn bis 15 Jahren etabliert haben durch Kinder der ehemaligen Gastarbeiter, die hier in Europa die Politik der AKP weiterführen, die Rhetorik, die Symbolik und die geopolitischen Interessen der AKP oder der Türkei unter der AKP laut mittragen und immer wieder laut publik machen. 

Es geht darum, die eigene Identität mit religiöser Rhetorik über die anderen zu stellen. Identitätspolitik basiert ja auch auf dem Schaffen eines „Wir gegen sie“-Narrativs, das ist ja auch nichts Neues. Durch dieses Narrativ wird eine Politik manifestiert, die den Westen als unmoralisch deklariert. Dies funktioniert, indem man sagt, der Westen habe keine familiären Werte – was unter anderem daran festgemacht wird, dass LGBT-Personen die gleichen Rechte genießen wie Heterosexuelle. 

In diesem Weltbild ist Heterosexualität mehr wert, und Homosexualität führt dazu, dass die gesellschaftliche Ordnung zusammenbricht. Diese Strategie dient dazu, politische Unterstützung in religiösen Gruppierungen zu konsolidieren. Eben auch bei den Gruppen in Europa, die dann bei den Wahlen für Erdogan stimmen. Das sind alles Entwicklungen, die zusammenhängen und gemeinsam gesehen werden müssen.

Allerdings verstehen sich nicht alle Deutschtürken als Befürworter der türkischen Außenpolitik. Unter den Eingewanderten sind viele Minderheiten, Liberale, Progressive. Gilt Ihre Analyse auch für diese Gruppen?

Innerhalb der türkischen Community gibt es natürlich sehr unterschiedliche Gruppierungen. Allerdings muss man hier vorsichtig sein, denn Nationalismus spielt in der Türkei eine große Rolle. Es gibt Gruppen, die bei der Identitätspolitik der AKP nicht mitziehen, aber die AKP versteht es natürlich, die religiöse und nationalistische Identitätspolitik zu kombinieren, so dass sich viele Gruppen gar nicht zu Wort melden, damit sie nicht als Vaterlandsverräter gelten. 

Deswegen würde ich sagen, die einzelnen Stimmen der liberalen Minderheiten, die wir hier zu hören bekommen, werden als „nicht wirklich wahre“ Türken dargestellt und als solche, die die Türkei von außen zersetzen wollen. Das heißt, diese Stimmen bekommen nur bedingt ein Gewicht. Diese Gruppen tragen die Identitätspolitik der AKP nicht mit, aber viele dieser Gruppen teilen einen ausgeprägten türkischen Nationalismus, der davon ausgeht, dass er eben die Einheit nicht nur errichten, sondern auch erhalten will. Von daher schwebt die Politik Erdogans nicht im luftleerem Raum, sondern greift auf diese beschworene Einheit zurück. Diese Identitätspolitik Erdogans wird also nicht von jeder dieser Gruppen 1:1 kopiert, ist aber in anderer Ausprägung in allen Gruppen wiederzufinden.

Die konservativen Türken wurden zuletzt von Erdogan dazu aufgerufen, die AfD zu wählen. Welche Strategie steckt hinter dieser Wahlempfehlung?

Es waren ja eigentlich linke Parteien, die sich für die Gleichstellung der Eingewanderten einsetzten. Allerdings kann ihre Haltung zum Beispiel zur gleichgeschlechtlichen Ehe im Widerspruch zu konservativen Werten der Eingewanderten stehen. Das führt zu einer komplexen Situation, dass sich nicht wenige mit seinem Aufruf, die AfD zu wählen, identifizieren können. Was konträr zu den eigenen Interessen wäre. Würde die AfD an die Macht kommen, entstünden keine Vorteile für Migranten. 

Erdogan will mit seiner Politik nicht nur die Unterstützung seiner konservativen Wähler in Deutschland sichern, sondern auch die deutsche Regierung schwächen und so seine politischen Interessen durchsetzen. Eben in dem er der deutschen Regierung zeigt, dass er durch die deutsch-türkische Diaspora in Deutschland auch hier polarisieren kann und Macht hat. „Auch wenn ich nicht vor Ort bin, kann ich eure Politik beeinflussen“ – so lautet seine Botschaft.

Gleichzeitig gibt es im völkischen Flügel der AfD durchaus Sympathien für Erdogan. Besteht hier das Potential einer für das westliche Demokratieverständnis „unheilvollen Allianz“?

Natürlich ist das eine Gefahr für die Demokratie. Teile der AfD setzen sich zum Ziel, den deutschen Staat aufzulösen oder ihn in dieser Form, wie er ist, nicht zu akzeptieren. Erdogan versucht hier, politisch Einfluss zu nehmen. Das mit der Allianz würde ich vorsichtig angehen. Natürlich wissen die konservativen türkischen Wähler, dass sie im Falle einer Wahl der AfD möglicherweise ihre politischen Rechte einbüßen könnten. 

Im Moment ist das ein bisschen Säbelrasseln, ich glaube aber nicht, dass viele – auch wenn sie den autoritären Führungsstil Erdogans favorisieren – sich diesen Stil für Deutschland wünschen würden. Die AfD hat wiederum Sympathien für autoritäre Führungsstile, weil sie ja als Partei agieren will, die das Politische etwas unkomplizierter machen möchte. Also zum Beispiel Entscheidungen viel schneller treffen will, ohne lästige demokratische Verfahren. Insofern ist für diese Gruppen wahrscheinlich nicht nur Erdogan eine sympathische Führungsfigur, auch Putin dürfte in diesen Kreisen Sympathie genießen.

In Anbetracht der Polarisierung der letzten Wochen mehren sich kritische Stimmen, die den sozialen Frieden gefährdet sehen. Teilen Sie diese Auffassung?

Grundsätzlich leben wir in einem demokratischen Verfassungsstaat, der Regeln und Normen hat, an die sich jeder Bürger halten muss. Ob er jetzt hier geboren ist oder nicht. Das Zusammenleben hier ist bereits geregelt, und innerhalb dieser Ordnung gibt es auch ein sehr gutes Zusammenleben. Ich möchte darauf hinweisen, dass gerade die Entwicklungen der letzten Wochen nicht hergenommen werden dürfen, um zu sagen, dass alles gescheitert sei. Es gibt wichtige und gute Geschichten mit türkisch-muslimischen Migrationshintergrund, die in der deutschen Gesellschaft eine ganz wichtige Rolle spielen. Ich rede hier nicht von einzelnen Leuten. 

In der Mehrheitsgesellschaft existieren Gruppierungen, wie beispielsweise rechtsradikale Gruppen, die darauf abzielen, den demokratischen Staat zu untergraben und eine Homogenisierung der Gesellschaft nach ihren Vorstellungen zu erreichen. Das Zusammenleben in Deutschland funktioniert, wir haben aber natürlich einzelne Herausforderungen, die uns emotional herausfordern. Viele Einwanderer finden sich in der Mehrheitsgesellschaft wieder und werden von ihr auch akzeptiert. 

Allerdings kann es eben im Falle von geopolitischen Spannungen zu Konflikten kommen. Ich sehe auch nicht, dass der soziale Frieden gefährdet ist, wie oft behauptet wird. Es gibt einzelne Gruppen, die immer wieder versuchen zu polarisieren. Wir haben auch ein Strafrechtssystem, das darauf reagiert und Maßnahmen ergreift. Deutschland tut viel dafür, dass sozioökonomische Ungleichheiten und Diskriminierung verschwinden. Ich würde dafür eintreten und sagen, wir haben einen sozialen Frieden, aber Entwicklungen in einzelnen Bereichen, die stark emotionalisiert sind.  

Das Gespräch führte Ilgin Seren Evisen. 

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