Meinungsfreiheit - Auch die Rede muss frei sein

Ohne freie Meinungsäußerung gibt es keine Freiheit. Darum kämpften die Revolutionäre von 1848 nicht nur für die Freiheit der Gedanken, sondern auch für die Freiheit der Rede. Um die ist es derzeit schlecht bestellt

Bernd Lucke konnte seine Vorlesung in Hamburg nicht halten / picture Alliance
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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„Die Gedanken sind frei“, heißt es in einem alten deutschen Volkslied. Das mag sein, doch Gedankenfreiheit ist im Grunde billig. Denken kann ich schließlich alles Mögliche. Wirkliche Freiheit ist Freiheit daher erst dann, wenn ich meine Gedanken auch frei äußern kann. Ohne die Freiheit der freien Meinungsäußerung bleibt jede Freiheit ein Witz. Aus diesem Grund kämpften die Revolutionäre von 1848 nicht nur für die Freiheit der Gedanken, sondern auch für die Freiheit der Rede, letztlich für Parlamentarismus und Demokratie.

Aber das war zu kurz gedacht. Auch Demokratie ist Herrschaft, die Herrschaft der Mehrheit nämlich. Und die Mehrheit ist auch nicht zwangsläufig toleranter als ein König, ein Fürst oder eine Einheitspartei. In Zeiten der klassischen repräsentativen Demokratie fiel das zunächst weiter gar nicht auf, da Institutionen die Rechte der Minderheit schützten. Zudem gab es keine mediale Möglichkeit, außerinstitutionell ein Meinungsklima zu schaffen. Und eine Großdemo bedeutet noch keine Deutungshoheit.

Über die Freiheit

Dafür muss man Schlüsselpositionen der Meinungsmacher einnehmen: im Stadttheater nebenan, in der Filmbranche, im Kulturmanagement, bei Stiftungen, in Medienhäusern, Redaktionsstuben und im Wissenschaftsbetrieb. Und im Zeitalter von Twitter ist eine Meute empörungswilliger Lemminge sicher hilfreich. Dann braucht man nicht einmal eine Mehrheit, um ein beklemmendes Meinungsklima zu schaffen. Dann kann eine Minderheit einer Mehrheit eine ganze Agenda des Meinens und Redens oktroyieren.

Wie das funktioniert, das wusste in brillanter Voraussicht schon John Stuart Mill, britischer Philosoph, Ökonom und Klassiker des Liberalismus. In der Einleitung zu seinem Essay „Über die Freiheit“ schreibt er prophetisch: „Schutz gegen die Tyrannei der Behörde ist daher nicht genug, es braucht auch Schutz gegen die Tyrannei des vorherrschenden Meinens und Empfindens, gegen die Tendenz der Gesellschaft, durch andere Mittel als zivile Strafen ihre eigenen Ideen und Praktiken als Lebensregeln denen aufzuerlegen, die eine abweichende Meinung haben, die Entwicklung in Fesseln zu schlagen, wenn möglich die Bildung jeder Individualität, die nicht mit ihrem eigenen Kurs harmoniert, zu verhindern und alle Charaktere zu zwingen, sich nach ihrem eigenen Modell zu formen.“

Meinungsäußerung braucht eine Kultur des Dissens

Mill schrieb diese Worte 1859, und es ist im Grunde ein Armutszeugnis unserer ach so pluralistischen Gesellschaft, dass jedem, der sie liest, ein beklemmendes Gefühl überkommt. Denn Meinungsfreiheit bedeutet in einer demokratischen Gesellschaft nicht das juristisch verbriefte Recht, seine Meinung frei sagen zu dürfen. Das sollte selbstverständlich sein. Freie Meinungsäußerung bedeutet vielmehr, eine Kultur der freien Meinungsäußerung und des Dissenses zu leben.

Um diese Kultur der freien Meinung ist es in Deutschland aber schlecht bestellt, wie einmal mehr eine aktuelle Umfrage zeigt. Erst im Mai veröffentlichte das Institut für Demoskopie in Allensbach eine Studie, wonach sich zwei Drittel der Befragten davon überzeugt zeigten, man müsse heute „sehr aufpassen, zu welchen Themen man sich wie äußert“. Nun veröffentlichte Infratest Anfang der Woche eine Sachsen-Umfrage mit einem sehr ähnlichen Ergebnis (69 Prozent). Ein Alarmzeichen, aber keine Überraschung.

Zeit, gegenzusteuern

Denn wer die hysterische Debatte um Dieter Nuhrs Kritik an Klimaaktivistin Greta Thunberg mitbekam – um nur dieses eine Beispiele zu nehmen –, der darf sich nicht wundern, dass Menschen Sorge haben, ihre Meinung öffentlich zu äußern. Erst recht, wenn sie den Eindruck haben, ihre berufliche Karriere, ihr Sozialleben oder das ihrer Kinder sei bei unerwünschten Ansichten in Gefahr.

Dieser Tendenz entgegenzutreten, darf allerdings nicht die Aufgabe des Staates sein, es ist unser aller Aufgabe. Es ist Zeit, gegenzusteuern. Zunehmend hat man den Eindruck, dass unsere öffentlichen Debatten dysfunktional werden und sich vor lauter Korrektheiten, Tabus und Vorsicht selbst abzuwürgen drohen. Für eine offene Gesellschaft eine verhängnisvolle Entwicklung.

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