Schwerfällig wie ein alter Gaul
Péter Nádas schildert ein Dorf im Ungarn der 1960er-Jahre – doch bietet statt eines roten Fadens ein ganzes Knäuel loser Schnurreste.
Eigentlich passiert fast nichts in Péter Nádas’ neuem Roman „Schauergeschichten“. Nur gepimpert wird reichlich. Zumeist auf einem Plumpsklo. Hier lässt die Gemeindematratze Rosa alle Notgeilen ran. Zwar wissen alle, dass „niemand anderer so laut furzen könne“, aber der „pelzige(n) Möse“ der geistig Zurückgebliebenen widerstehen die wenigsten, wenn sie Druck haben. Falls sie nicht da ist, springt eine Kneipenfrau ein. Auch über sie wissen die abgehalfterten Provinzbullen ganz genau Bescheid: „Besser als das Zwerglein bläst und vögelt niemand.“ Hauptsache, „der Männersamen steigt ins Hirn“ – und das über fast 600 anstrengendste Seiten hinweg.
Gewiss, dass sich der 1942 in Budapest geborene Autor in der Schilderung eines Dorfes im Ungarn der 1960er-Jahre allerlei Derbheiten bedient, hat seinen Grund. Er will Denken und Sprechen eines Soziotops erfassen, in dem patriarchale Riten dominieren. Flankiert werden die unendlichen Schleifen des Bespringens und Benutzens durch allerlei christliche Flüche wie „Himmelsakrament“. Gewalt und Gebet liegen in dieser Atmosphäre der Bigotterie eben eng beieinander. Auch Aberglauben, Hexensprüche sowie Exorzismen finden sich in dem Sud aus Porno-Stil und leerem Kirchensingsang wieder.
Unendlich zäh
Wenn einmal weder Teufel noch die Lust ausgetrieben werden, bläst der Autor mit anderen Mitteln seine Story auf. Immer mehr Figuren treten in das Kabinett der Skurrilitäten und Abnormitäten ein. Eine Bäuerin wird von Verstorbenen heimgesucht, ein an Muskelschwund leidender Junge stürzt sich vom Rollstuhl ins Wasser, eine angehende Heilpädagogin studiert den jungen Imre, in dessen Seele sie – nicht zuletzt nachdem dieser einen Hund gequält hat – eine bald ausbrechende Brutalität vermutet.
Statt eines roten Fadens bietet Nádas ein ganzes Knäuel loser Schnurreste. So wie man darin vergeblich nach einer Ordnung sucht, so wenig gibt sie der Text her. Ohne Kapitel schreibt hier ein Autor drauflos, widmet sich neben den Beschreibungen weiblicher Genitalien mal Kochrezepten, mal sich unaufhaltsam im Kreis drehenden Dialogen. Es gilt bei alledem wohl nur ein Grundsatz: Ellenlang und zäh muss es sein.
Eine Charakteristik kann zum Gedächtnistraining werden: „Der unglückselige Krüppel, der übrigens einen parodistischen Sinn und einen mit Selbstironie hatte und der mit wachem Geist über Rhythmik und Systematik der Wiederholung nachdachte, sah die Verbindungen von grundverschiedenen Ereignissen und Phänomenen in einem holistischen Raum, wenn er über die Macht der Monotonie, über die Menge der Modulationen und über die luftigen Fiorituren nachdachte“ – an dieser Stelle des lediglich zur Hälfte zitierten Satzes sei ein Cut gesetzt. Klarer wird die Aussage ohnehin nicht mehr.
Obgleich sich der Schriftsteller thematisch treu bleibt, indem er seinen Fokus vor allem auf die Ära des Kommunismus in seinem Heimatland richtet, bleibt dieses Werk weit hinter seinem Können zurück. Entstanden ist ein Buch so schwerfällig wie ein altes Pferd, das auf seine letzten Tage noch den Pflug durch den trockenen Acker wuchten muss. Nein, weder auf diesen Gaul noch sein erbärmliches Umfeld sollte man setzen. Björn Hayer
Péter Nádas: Schauergeschichten. Rowohlt, Hamburg 2022. 576 Seiten, 30 €
Hohelied auf die Philosophie
Julian Barnes versucht, Ordnung in seine vielen Gedanken und Lebenssplitter zu bringen.
Literatur imitiert nicht das Leben, sie konserviert nur die vielen Menschen und Gedanken, die uns in eben diesem Leben begegnet sind. Das gilt auch für die Literatur des inzwischen 76 Jahre alten britischen Bestsellerautors Julian Barnes. In einem Nachruf auf seine langjährige Freundin, die Booker-Preisträgerin Anita Brookner, schrieb er 2016: „Sie war geistreich, funkelnd intelligent, reserviert und unberechenbar, und zwar noch viel mehr, als sie selbst beabsichtigte.“
Liest man Barnes’ gerade auf Deutsch erschienenen Roman „Elizabeth Finch“, so beschleicht einen das Gefühl, der Autor hätte seine Freundin nun in eine Romanfigur transformiert. Der Nekrolog auf Brookner könnte auch einer auf Elizabeth Finch sein. EF, wie sie im Roman verkürzend genannt wird, unterrichtet an der Abendschule Philosophie. Die scharfsinnige und etwas unnahbar wirkende Frau scheint eine brillante Intellektuelle zu sein, die ihre Ansichten präzise auszudrücken vermag. Sie verlangt von ihren Studenten nichts geringeres als „selbst zu denken“.
Ein merkwürdiger Nachlass
Vor allem der Student Neil ist von dieser befreienden Art des Unterrichts fasziniert. Vielleicht, weil der Mittdreißiger in seinem Leben bisher vor allem eines geübt hat: das Scheitern. Ihr Unterricht aber, schwärmt er, bringe ihn zum Umdenken, und EF würde sogar Sterne in seinem Kopf zum Platzen bringen. Und dennoch: Am Ende des Kurses gelingt es ihm nicht, eine Abschlussarbeit einzureichen. Trotzdem halten die beiden Kontakt. Sie verabreden sich regelmäßig zum Lunch. Alle Treffen dauern exakt 75 Minuten: Mittagessen, Zigarette, Kaffee, dazu je ein kleiner philosophischer Diskurs. Es ist stets das gleiche Ritual.
Irgendwann aber stirbt EF. Und in ihrem Nachlass findet sich etwas Merkwürdiges: eine Bibliothek mit unzähligen Aufzeichnungen über Julian Apostata. Der hatte als römischer Kaiser im vierten Jahrhundert versucht, das Christentum noch einmal zurückzudrängen, und sich für diese heidnische Mission ganz der Vielgötterei verschrieben.
EF also schien eine glühende Anhängerin des polytheistischen Götterhimmels und seines längst verstorbenen Apologeten gewesen zu sein. Ihrer Ansicht nach war der Monotheismus eine einzige Katastrophe. Wie Neil durch ihre Notizen erfährt, beschäftigte sie sich zeitlebens mit der Frage, ob die Welt vielleicht sogar eine bessere gewesen wäre, hätte Kaiser Julian nur ein paar Jahre länger gelebt.
Ordnung in die Gedanken
Und wieder gilt: Was die Romanfigur beschäftigt, das scheint auch Julian Barnes umzutreiben. In einem Interview mit Le Monde hat er einmal erklärt, dass er nicht religiös sei und dass für ihn alle Religionen nur Fiktionen darstellten. Er glaube aber, dass polytheistische Religionen erfolgreicher seien.
Man muss diesem Gedankenspiel, nach dem es in einer heidnischen und laut Barnes toleranteren Welt automatisch auch weniger Kriege gegeben hätte, nicht folgen. Dennoch kann man seinem neuen Roman bei aller Rätselhaftigkeit etwas abgewinnen. So wie der Monotheismus aus dem Götterhimmel eine Einheit zu bilden versucht hat, so versucht auch Barnes am Ende seiner Karriere noch einmal Ordnung in seine vielen Gedanken und Lebenssplitter zu bringen. Sein Buch ist ein Hohelied auf das freie Denken und die Philosophie. Maria Winkler
Julian Barnes: Elizabeth Finch. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2022. 240 Seiten, 24 €
Dieser Text stammt aus der Dezember-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.
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