Literaturen im August - Grauen, Gestank, Gelsenkirchen

Ralf Rothmann beschreibt die seelischen Verheerungen einer verlorenen Generation, Gregor Sander will nicht mehr die ostdeutsche Seele erklären. Ferner: Schicksal und Geschichte des Schweins. Belletristik und Sachbücher im August.

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Die Normalität des Grauens

Ralf Rothmanns erschütternder Roman über die seelischen Verheerungen einer verlorenen Generation.

Ralf Rothmanns Domäne ist seit einiger Zeit die Ästhetik des Schreckens. Bereits in den Romanen „Im Frühling sterben“ (2015) und „Der Gott jenes Sommers“ (2018) hatte er seine Leser in den innersten Kreis der Hölle geführt. Hier erzählte er von den existenziellen Verstörungen jener verlorenen Generation, die im jugendlichen Alter in das Inferno des Zweiten Weltkriegs geriet und nie mehr in ein bürgerliches Leben zurückfand. 

„Das Normale, das war das Grauen“: Eine lakonische Notiz der Ich-Erzählerin in Rothmanns jüngstem Roman deutet an, dass auch hier alles auf die Begegnung mit der grausamen Realität des Krieges zuläuft. Hatte Rothmann in „Im Frühling sterben“ von den bedrückenden Gewalterfahrungen des jungen Melkers Walter Urban erzählt, der von der SS zwangsrekrutiert und im Februar 1945 als letztes Aufgebot an die Front nach Ungarn geschickt wird, so rekonstruiert nun der Roman „Die Nacht unterm Schnee“ die lebenslange Traumatisierung der Kellnerin Elisabeth Isbahner.

Flucht in die Literatur

Im Winter 1945 wird Elisabeth auf der Flucht aus Westpreußen von russischen Soldaten vergewaltigt, diese sadistische Demütigung kann sie in ihrem Leben nie mehr abschütteln. Was hier vom Lebensalltag Elisabeths und ihrer unglücklichen Ehe mit dem Melker Walter berichtet wird, ist – wie immer bei Rothmann – stark autobiografisch grundiert. Die mühsame Plackerei seiner Eltern auf einem Landgut in Südschleswig und die spätere Kohlenhauer-Existenz in einer Zechensiedlung im Ruhrgebiet hat er, beginnend mit dem Roman „Milch und Kohle“ (2000), bereits zuvor in zahlreichen Werken thematisiert. 

Nun erzählt er das Leben seiner Mutter aus der Perspektive der Bibliothekarin Luisa, die zur heimlichen Nebenbuhlerin der Heldin wird, als sie sich in den introvertierten Walter verliebt. Ergebnis von Rothmanns neuerlichem Versuch, die Geschichte der eigenen Familie zu erzählen, ist das berührende Porträt einer Frau, die sich ihre Träume weder in der Ehe mit dem Melker und Bergmann Walter erfüllen kann noch in den zahllosen amourösen Abenteuern, in die sich die liebeshungrige Heldin hineinstürzt.

An manchen Stellen übertreibt es Roth­mann mit seiner Apologie des einfachen Landlebens, als wolle er gegen die Digitalitäts- und Metropolen-Seligkeit der Gegenwartsliteratur einen markanten Kontrapunkt setzen. Die gelegentlich aufblitzende ländliche Idylle wird aber in kurzen schockhaften Rückblenden auf die letzten Kriegstage brutal ernüchtert. Die beklemmenden Szenen, in denen hier Elisabeth zum sexuellen Beuteobjekt der russischen Soldateska wird, sind in ihrer Drastik schwer zu ertragen.

„Die Nacht unterm Schnee“ lässt sich als ein schonungslos desillusionierendes Buch über die seelischen Versehrungen einer verlorenen Generation lesen, der durch die Konfrontation mit dem Entsetzlichen jede Liebesfähigkeit geraubt wurde. Nur „der Sohn des Melkers“, als der sich Rothmann am Ende des Romans vorstellt, hat einen Ausweg aus dem beschädigten Leben gefunden: durch die folgenreiche Flucht in die Literatur.   Michael Braun

Ralf Rothmann: Die Nacht unterm Schnee. Suhrkamp, Berlin 2022. 304 Seiten, 24 €

 

Der Seitenverkehrte

Der Schriftsteller Gregor Sander will nicht mehr die ostdeutsche Seele erklären. Deshalb bricht er in seinem neuen Roman in den tiefsten Westen auf, nach Gelsenkirchen.

Das Schreiben hat er gehasst. Irgendwas daran war falsch. Alles an ihm war irgendwie falsch. Trotzdem, als er angeben musste, was er werden will, in der fünften Klasse in der DDR, sagte er „Schriftsteller“. Und weil er so ungern mit der Hand schrieb, trieb er schließlich, als er Teenager war, eine Schreibmaschine auf.

Aber erstmal wurde Gregor Sander Schlosser. Und dann Krankenpfleger. Und auch hier war wieder was falsch an ihm, dieses Zittern in der Feinmotorik, wenn es stressig wurde und er die Kanüle aufziehen musste. Das kriegte er nicht hin. Er wollte Schriftsteller werden und studierte statt dessen Medizin, drei lange Semester, wie man das eben so macht, wenn man sich dauernd in der Schreibrichtung irrt, und dann sechs Semester Germanistik, weil er ja Schriftsteller werden wollte, und irgendwie war er ständig überreizt und auf der Hut.

Verkehrte Welt?

Nach einem Jahr Journalistenschule ging es endlich mal los, den ersten Erzählband, „Ich aber bin hier geboren“, wollten gleich zwei der großen Verlage. Er handelte von schlecht gelaunten Figuren an der Nordsee und begeisterte die Kritik, weil so viel Eigensinn darin lag. Das war vor 20 Jahren, seitdem hat Sander sieben Bücher geschrieben, Familiengeschichten, Beziehungskonflikte, Generationenporträts – und noch mehr Preise und Stipendien abgeräumt. Wenn man ihn fragt, welcher Autor, welches Buch ihn am meisten geprägt hat, dann nennt er nicht sowas von Faulkner oder Henry James, sondern Johanna Barbara Sattler: „Der umgeschulte Linkshänder“. 

Sander war schon über 40, als er die Rückschulung von rechts auf links machte, bei einer Ergotherapeutin. Er war glücklich, als er die ersten Bücher mit links signierte. Seitdem erinnert er auch ein paar kurze Szenen aus seiner seitenverkehrten Kindheit, aber nur wie durch Milchglas. Ansonsten ist alles wieder klar. „Und ich hoffe, dass ich jetzt offener geworden bin, weniger begrenzt, experimentierfreudiger.“ 

Der 54-jährige mag keine Rollen, er will sich beim Schreiben nicht langweilen, und es ärgert ihn schon lange, dass er, der gebürtige Schweriner, dauernd den Osten erklären soll. Und weil „die aus dem Westen uns ununterbrochen beschreiben, filmen und betrachten“, wie es in seinem neuen Roman „Lenin auf Schalke“ heißt, verdreht er jetzt einfach die Seiten und guckt auf Gelsenkirchen im Ruhrpott, die ärmste Stadt Deutschlands.

Das Alter Ego Schlüppi

Er macht das aber nicht von sich aus, es ist Schlüppi, sein rachsüchtiges Alter Ego, das gern an alten Trabbis schraubt, ab und zu Gras vertickt und eine Pilotenbrille trägt, das ihn auf literarische Mission schickt. Schlüppi würde am liebsten jedem Westdeutschen das Nasenbein brechen, der wissen will, wo er den Tag des Mauerfalls verbracht hat, „und nichts wissen will vom Davor und Danach“. 

Auf Lesungen fragen alle, ob es Schlüppi, der so heißt, weil er morgens bei der NVA mal zum Spieß gesagt haben soll: „Ich hab keinen sauberen Schlüppi mehr und muss daher im Bett bleiben“, wirklich gibt. Alle lieben diesen fünfzigjährigen Jungen mit seinem leicht verwitterten Gesicht, der so crazy ist wie der Familienvater Sander bodenständig, aber Sander lässt bei dieser Frage nur die Augen blitzen. Sie sind übrigens genau so hellblau wie die von Schlüppi. Wobei die von Schlüppi manchmal ins Fassadengrau kippen, wie Sander schreibt und damit kürzer als kurz auch den Osten skizziert; genau jenes Grau.

Seine Figuren machen sich selbstständig

Es ist wohl dieses Karge, aber niemals Schroffe, das ihn zum erfolgreichen Schriftsteller gemacht hat, und nur eine Sache beherrscht er eben nicht, die Kunst der Rache. „‚Was genau willst du denn?‘, schrie ich zurück in den Hörer. ‚Rache? Wiedergutmachung? Verblühende Landschaften?‘ ‚Mann‘, seufzte Schlüppi. ‚Alles, was ich von dir will, ist Unverständnis und ein bisschen Überheblichkeit. Das wird doch wohl nicht so schwer sein.‘“ 

Doch anders als Schlüppi ist Sander einfach nicht der Typ zum Nasenbeinbrechen, eher jemand, der vergisst, sich zum Interview die Haare zu kämmen, und sein chiraler Angriff auf den Westen mündet im hinreißend einfühlsamen Porträt einer völlig abgewrackten Stadt, in einer Mischung aus Hoffnungslosigkeit und Komik, die an Billy Wilder erinnert, aber eine Etage mehr untertreibt.

Ob es Schlüppi also wirklich gibt? „Ich bin es gewohnt, dass meine Figuren sich selbständig machen, also rennt er vielleicht tatsächlich irgendwo rum.“ Irgendwo in der Twilight-Zone zwischen DDR und BRD, zusammen mit uns, in jenem Dämmer der Geschichte, wo die Wahrheit den selben verdrehten Schleier trägt wie die Erfindung. Alles hier hat seine eingespielte Laufart.

Schon irre, dass da jemand kommt und plötzlich mit der anderen Hand schreibt.   Sophie Dannenberg

Gregor Sander: Lenin auf Schalke. Penguin Random House, München 2022. 192 Seiten, 20 €

 

Du arme Sau!

Es haust im Gestank seiner Exkremente, wird millionenfach gegessen, mit Antibiotika aufgepumpt: Zwei Bücher widmen sich dem Schicksal und der Geschichte des Schweines.

 Das Schwein, welches uns, träfen wir es je, mit neugierigen Augen und verspieltem Sinn inspizieren würde, das sich mit uns anfreunden, mit uns spielen und uns, bei entgegengebrachter Sympathie, die Schuhe bringen würde, es unterteilt sich in zwei vordere und zwei hintere Viertel, die beizeiten auseinandergesägt werden, dazu kommt noch das sogenannte fünfte Viertel: Haut, Haare, Fett, Blut, Knochen, Herz, Lunge, Nieren, Zunge, Magen, Luftröhre, Därme, Ohren, Rüssel, Schwanz und so fort. 

Wie wir in Rudolf Buntzels Buch „Pig Business – Vom Hausschwein zum globalen Massenprodukt“ lernen, gehen die Einzelteile unseres nie gekannten Spielkameraden den Weg weltumspannender Wirtschaftskreisläufe: Die Kotelettrippen landen in Deutschland und Kanada, die Innereien reisen nach China und Hongkong, das Hirn wird dringend in Ungarn erwartet, während das Ohr eine Abzweigung nach Litauen nimmt.

Die älteste Tier-Mensch-Beziehung

Die Wege des Hausschweins und unserer Spezies sind seit langem dieselben. Als der Mensch zum Menschen wurde, zum Kulturträger mit allem, was dazugehört – Schmuck, Kunst, Jagd, Herrschaft und Kriege –, da malte er erst mal ein Schwein: Die älteste bekannte Tierzeichnung findet sich in einer Höhle auf Sulawesi in Indonesien, sie ist mindestens 45 000 Jahre alt. Das Schwein hat auf dem Bild die Höflichkeit, uns nicht in die Augen zu schauen, sondern bietet seine üppige Flanke dar, in die wir unseren Speer werfen könnten, um es dann, nach einiger Hatz, im Nahkampf zu töten, derweil es blutete, strampelte, quiekte. Dieses Schwein ließe uns, um ein altertümliches Wort zu verwenden, seine Seele spüren. Wir äßen es im vollen Bewusstsein, dass eine leidensfähige Kreatur für uns gestorben ist.

Wann begegnet man heute je einem Schwein? Auf dem Kinderbauernhof um die Ecke liegt ein Riesenklops von Hängebauchsau und sie dämmert ihrem Ende an Altersschwäche entgegen. Von einem Peta-Plakat schaut ein süßes Ferkel und spricht: In sechs Monaten werde ich getötet. Lesend denkt man: Ja, ich weiß, was die meinen, aber man bringt es trotzdem nicht zusammen, den Tod und dieses Tier.

Einer der Gründe dafür ist, dass man gar nicht mehr weiß, wie die lebendige Gegenwart eines Schweins sich anfühlt. Mehr als 20 Millionen von ihnen leben in Deutschland, man trifft eher einen Grünspecht. Für sein Buch „Saugut und ein wenig wie wir – Eine Geschichte über das Schwein“ hat der norwegische Autor Kristoffer Hatteland Endresen sich daher aufgemacht, die Begegnung zu suchen – gar nicht so leicht! Wo ist das nette, familiäre Außengehege, an dessen Rand die Viecher gestürzt kommen, um dem Besucher Hallo zu sagen? Wo fändest du hier und heute die klassische Haltungsform – das Tier als x-tes Haushaltsmitglied, das mitlebt und mitmümmelt, das einen Namen hat und nur dann geschlachtet wird, wenn außergewöhnlicher Bedarf besteht?

Massenstall als Ort des Hasses

Wenn der Hund der beste Freund des Menschen ist, dann ist das Schwein unser Geschwister: ein sozial lebender, kluger und verspielter Allesfresser, dessen Haut und Organe erstaunliche Ähnlichkeit mit denen der Menschen aufweisen. Diese Nähe kommt das Schwein teuer zu stehen: Es wird in militärischen Versuchsreihen zerschossen, zu Trainingszwecken von Medizinern zerschnitten, ihm wird das Herz entnommen – weil wir können. Den Tag der Rache bereiten Zigmillionen Schweine vor, die im Ammoniakgestank der eigenen Exkremente gehalten und fleißig mit Antibiotika aufgepumpt werden – auf diese Weise werden sie zur Zuchtstation multiresistenter Bakterien, die dann eines Tages über uns kommen. Bis zu diesem Tag leiden die Schweine still weiter und fressen einander vor Langeweile an, im Umgang mit ihnen erkennen wir eine Denke, die Empathie als überflüssig verworfen hat, erkennen wir den durchökonomisierten Blick.

Was dieser Blick aus dir macht, Endresen erlebt es am eigenen Leib und Gefühlshaushalt: Er findet einen Mastbetrieb, in dem er ein paar Monate als Praktikant mittun darf, die Bauern dazu sind verhältnismäßig aufgeschlossene Menschen, er geht in den Massenstall. Versucht anfangs noch, eine menschlich-­schweinische Verbindung herzustellen. Sucht Augenkontakt mit denen, deren Gefängniswärter er ist – siehe da, der Kontakt gelingt nicht. Die Tiere wollen so wenig mit ihm zu tun haben wie er nach einer Weile mit ihnen: Das Schwein wird ihm zur arbeitsintensiven rosa Masse, und mit ein paar aufsässigen Kollegen in Box 1 hat er sogar richtig Ärger. Als er schließlich dem Schlachttag beiwohnt, findet er die Vorgänge weitgehend okay. 

Beim Hund wäre der Aufschrei gewaltig

Er hat es für uns getan. Hat sichtbar gemacht: Wir huldigen den Göttern der Sattheit und der Bequemlichkeit, indem wir ausländische Arbeitssklaven halten, die die Tötung und Aufbereitung unserer Tiersklaven für uns erledigen. Damit die Kinder, die gestern das Hängebauchschwein streichelten, heute früh eine Fleischrestewurst mit einem Smiley drauf essen können. Eine neuere psychologische Studie belegt, sagt Endresen, dass Schlachthofarbeiter oft dasselbe Posttraumatische Stresssyndrom aufweisen, das auch Kriegsheimkehrer quält.

Wo hört die Zivilisation auf, fängt die Barbarei an? Zivilisation bringt immer Ordnung, Ordnung ist immer ab einem bestimmten Punkt neurotisch bis grausam. Muss man heute, um etwas empfinden zu dürfen, in die betrügerischen Angebote von Religion und Esoterik flüchten? Die Vermutung des Unterzeichnenden: Ein Nachmittag mit einem netten Ferkel würde uns von vielem kurieren.

In China gibt es sogar Hochhäuser, in denen Schweine wohnen, bis zu 13 Stockwerke hoch. Dort leben sie zusammengepfercht, ohne je das Tageslicht zu sehen. Wären sie Hunde, der Aufschrei unserer ach so aufgeklärten Westwelt hörte nicht auf. Denn der Hund, lieb und anhänglich wie das Schwein, bloß etwas doofer, ist unser bester Freund. Das Schwein nur unser Geschwister.   Klaus Ungerer

Rudolf Buntzel: Pig Business. Vom Hausschwein zum globalen Massenprodukt. Oekom, München 2022. 344 Seiten, 25 €

Kristoffer Hatteland Endresen: Saugut und ein wenig wie wir. Eine Geschichte über das Schwein. Westend, Frankfurt am Main 2022. 272 Seiten, 24 €

 

Diese Texte stammen aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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