Literaturen im August - Memoiren, Müller, Moral

Ewald Frie erzählt seine Familiengeschichte vom Bauernhof, Herta Müller feiert ihren 70. Geburtstag mit einem Textband und Michael Lüders analysiert die deutsche Außenpolitik.

Literaturen im August
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Zurück zum Bauernhof

Ewald Frie hat mit seiner Autobiografie „Ein Hof und elf Geschwister“ den Deutschen Sachbuchpreis gewonnen. Eine nicht ganz einleuchtende Entscheidung.

Dass Historiker Autobiografien schreiben, ist nichts Ungewöhnliches. Schließlich ist die Historisierung vergangenen Geschehens ihr Fachgebiet. Das oft unübersichtliche Nebeneinander vor- und rückwärtsgewandter Entwicklungen mit Sinn und Struktur zu versehen, ihre Expertise. Historiker sind im besten Fall große Erzähler, talentierte Entwerfer übergreifender Narrative. Warum also sollten sie nicht auch sich und ihr eigenes Leben historisieren?

Im Genre „Historiker-Memoiren“ gibt es große Vorbilder. Der Holocaust-­Historiker Saul Friedländer etwa brachte es im ersten Teil seiner Autobiografie unter dem Titel „Wenn die Erinnerung kommt“, erschienen 1979, in der Verknüpfung von Lebens- und Zeitläufen zu literarischer Meisterschaft. Gleiches gelang seinem Kollegen Raul Hilberg mit seinem Buch „Unerbetene Erinnerung“ aus dem Jahr 1994. Höchst originell zu lesen ist auch Tony Judts „Chalet der Erinnerungen“ von 2012, das der britisch-amerikanische Historiker kurz vor seinem frühen Tod auf dem Krankenbett verfasste.

Der Aufstieg der Familie Frie

Unter deutschen Historikern ist das Schreiben von Memoiren nicht sehr etabliert, deshalb ist es umso bemerkenswerter, dass mit Wolfgang Hardtwig (Jahrgang 1944) und Ewald Frie (geboren 1962) nun gleich zwei Geschichts­professoren im Abstand von wenigen Monaten ihre „Aufstiegs“-Biografien vorgelegt haben. Beide deuten schon im Titel an, dass es auch um eine Geschichte des ländlichen Lebens in der alten Bundesrepublik geht. In „Der Hof in den Bergen“ erzählt Hardtwig, lange Jahre Lehrstuhlinhaber an der Humboldt-Universität Berlin, von seiner Kindheit und Jugend in Oberbayern. In „Ein Hof und elf Geschwister“ berichtet Frie, seit 2008 Professor an der Universität Tübingen, vom Aufwachsen im Münsterland. Beide Titel haben schon mehrere Auflagen erreicht: Hardtwigs Buch drei, Fries Werk sogar zehn. Letzteres Buch fand sich sogar auf den Bestsellerlisten wieder, wozu sicher auch die Verleihung des Deutschen Sachbuchpreises Anfang Juni beigetragen hat.

Die beiden Protagonisten des Buches von Frie sind sein Vater, ein erfolgreicher und vielfach ausgezeichneter Rinderzüchter, und seine Mutter, die selbst aus bäuerlichen Verhältnissen stammt. Die beiden heirateten 1943, lebten und arbeiteten gemeinsam auf der zwischen Coesfeld und Münster gelegenen Bauerschaft Horst und wurden zwischen 1944 und 1969 Eltern von zwölf Kindern, von denen elf das Erwachsenenalter erreichten. Mithilfe von Zeitzeugeninterviews mit seinen zehn Geschwistern beschreibt Frie den raschen gesellschaftlichen Wandel, der das bäuerliche und religiöse Leben seiner Eltern prägte. 

Unter Zuhilfenahme von Archivquellen, wie Kirchenbüchern und Steuerakten, verfolgt Frie die Geschichte des elterlichen Hofes über mehrere Jahrhunderte. Zugleich bettet er den Lebensweg seiner Eltern in eine Kulturgeschichte der Geselligkeit und der Vereine, später auch der Freizeit auf dem Land ein und erzählt von den Biografien seiner Geschwister, von denen fast alle als „soziale Überläufer“ die Bauerschaft hinter sich ließen und ein Großteil sich für pädagogische Berufe entschied.

Wo ist die Innovation?

Nur Fries ältester Bruder Heinrich, der nach dem Ende der Hochzeit der Rinderzucht in den 1950er Jahren unter anderem durch das künstliche Besamen in den 1970er Jahren auf die massenhafte Ferkelproduktion und Schweinehaltung umgestiegen ist, lebt noch heute auf dem Hof. Frie schreibt so, angereichert mit Sekundärliteratur aus der Agrarsoziologie und der Agrargeschichte, en passant eine „andere“ Geschichte der alten Bundesrepublik jenseits der sonst dominierenden Städte.

Mit Fries „Ein Hof und elf Geschwister“ hat sich die Jury unter den nominierten Büchern für den renommierten Sachbuchpreis wohl für das konventionellste und solideste Werk entschieden – und zugleich für das am wenigsten politisch angreif- und skandalisierbare. Mit „Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität“ des Philosophen Omri Boehm etwa war ein sehr viel anregenderes, ja mutig-provokantes und geistreich-gelehrtes Buch für den Preis nominiert. 

Die Jury lobt Fries Werk „als inspi­rierendes Beispiel für innovative Geschichtsschreibung“. Nun ja, so sympathisch der Preisträger ist und so charmant seine Geste, nach der Preisverleihung in der Hamburger Elbphilharmonie seine zehn Geschwister auf die Bühne zu holen, wirkt, will nach der Lektüre nicht so recht einleuchten, was an seinem Buch – das mit der Zeitzeugenbefragung einer historischen Methode verpflichtet ist, die in den 1980er Jahren ihren Höhepunkt hatte –, was an einer seither etablierten und oft geschriebenen Geschichte des Alltags jenseits der „großen Männer“ „innovativ“ sein soll. 

Unterschiedliche Beziehungen zur Landwirtschaft

Einiges muss man sicher an Preisverleihungsprosa mit ihren leicht austauschbaren Satzbausteinen einkalkulieren. Dennoch: „Feldarbeit in der Sonne war anstrengend“ und „Die Jahre unserer Mutter waren alles in allem gute Jahre“ – solchen Sätzen von Frie attestiert die Jury zu Recht eine „verblüffend einfache“, aber auch „zugleich poetische Sprache“? „Das fand ich richtig toll, dass er so richtig viele Schweine hatte“ (O-Ton der jüngsten Schwester Fries), ist einer der „großen Gedanken“ dieses „erkenntnisreichen Buches“ (O-Ton Jury), das ansonsten auch mit Kalenderweisheiten wie „Wir alle reisen in neue Zukünfte. Aber die Vergangenheit wird uns begleiten“ oder „Dennoch bleiben wir durch unsere Herkunft geprägt“ aufwartet.

Vor einigen Jahren untersuchte der Literaturwissenschaftler Jörg Magenau in einer lesenswerten Monografie, welche Bestseller die Geschichte der Bundesrepublik prägten und was die zu ihrer Zeit meistverkauften Bücher über die jeweilige Gesellschaft aussagen. Das bäuerliche Leben kennen hierzulande die meisten Menschen nur aus dem Fernsehen, speziell aus einer Serie, in der Bauern die vermeintliche Liebe fürs Leben suchen. Während in den dem Münsterland benachbarten Niederlanden eine Bauernpartei bei den anstehenden Parlamentswahlen stärkste Kraft werden könnte. René Schlott

Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwister. C. H. Beck, München 2023. 191 Seiten, 23 €

Die Wut und die Würde

Zum Siebzigsten von Herta Müller erscheint ein schmaler Band mit Texten, die es in sich haben.

Das meiste, was ich über Freiheit und Würde gelernt habe, habe ich aus den Mechanismen der Unterdrückung gelernt“, schreibt Herta Müller im ersten Text ihres neuen Buches. Der Aufsatz erschien zuerst 2022 im literarischen Sammelband „Das Grundgesetz“. Und angesichts der Biografie dieser Autorin verwundert es nicht, dass sie von Artikel 1 GG sehr bald bei dem ankommt, was Diktaturen mit der menschlichen Würde ihrer Bewohner machen. 

Herta Müller, geboren vor 70 Jahren im Banat, wurde in Rumänien bedroht, verleumdet, unterdrückt, weil sie sich weigerte, für die Securitate zu spitzeln. Mit ihrer Ausreise im Jahr 1987 hörte das nicht auf, der Arm des Geheimdiensts reichte bis nach Westberlin. Auch, wie sie berichtet, dank der von IM unterwanderten banatschwäbischen Landsmannschaft. Davon ist nichts vergessen, wie diese Aufsätze aus zwei Jahrzehnten ganz deutlich machen.

Bei der Aufnahme in den Orden Pour le Mérite im Juni 2022 sprach sie über ihre Zahnbürste, die sie in Rumänien immer in der Handtasche dabeihatte; schließlich wusste man nie, ob man von einem Verhör nach Hause oder ins Gefängnis kommen würde: „Der Vernehmer sagte: Was glaubst du, wer du bist. Ich sagte: Ich bin ein Mensch wie Sie. Darauf sagte er: Das glaubst du. Wir bestimmen, wer du bist.“

Die Prominenz der Literaturnobelpreisträgerin nutzt Herta Müller, um denjenigen Stimme und Gedächtnis zu geben, die Opfer dieser „Mechanismen der Unterdrückung“ sind. Ihre erinnernde Klage ist zugleich Anklage gegenwärtiger Verhältnisse. 

Furchtlos zu allen Seiten

2011 würdigte sie den kurz zuvor aus China geflohenen Dichter Liao Yiwu. Die Rede trägt den vielsagenden Titel „Mit diesseitiger Wut und jenseitigen Zärtlichkeiten“. Darin geißelt sie das Regime ebenso wie dessen Unterstützer hierzulande – neben „ehemaligen Managern großer deutscher Unternehmen“ nennt sie namentlich ihre Kollegin Juli Zeh. Bei anderer Gelegenheit ruft sie das gestörte Verhältnis tonangebender Kreise zu den vom NS ins Exil Getriebenen ins Bewusstsein, das „Beschweigen“ und das Verächtlichmachen, von Adenauer und Franz Josef Strauß bis zu den Akteuren der Gruppe 47, und schlägt den Bogen zu denen, die heute vor Krieg und Gewaltherrschaft flüchten und „Heimweh nach Zukunft“ haben. Und immer setzt sie die Gewalterfahrung der anderen in Beziehung mit ihrer eigenen, was dank der Präzision ihrer Beobachtung nirgends anmaßend oder wehleidig wirkt. 

Obwohl viel von Angst die Rede ist, scheint Herta Müller in ihrem Schreiben furchtlos. Vor allem fürchtet sie sich nicht, irgendwo anzuecken. Hier schreibt eine, die innerlich unabhängig ist von den „Juste Milieus“ links wie rechts. Die Kraft dazu, auch das ist hier zu erfahren, bezieht sie aus dem Grund ihrer Sprache: dem jahrzehntelangen „In-den-eigenen-Kopf-Denken“, dem Überstanden-Haben, ohne sich gemein zu machen, der Übung, klein zu werden, um sich nicht preiszugeben. Welche Poesie auf diesem Boden wächst, zeigt der letzte Text, der dem Band den Titel gegeben hat: „Eine Fliege kommt durch einen halben Wald“ ist hochverdichtete lyrische Prosa voller Einsamkeit, Sehnsucht und Trauer, eine Litanei vom Ertragen des Unerträglichen. Julia Schröder

Herta Müller: Eine Fliege kommt durch einen halben Wald. Hanser, München 2023. 128 Seiten, 24 €

Jenseits von Gut und Böse

Michael Lüders rechnet mit der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik ab.

Der deutsche Politikwissenschaftler und Publizist Michael Lüders scheut nicht die Kontroverse. Vielen ist übel aufgestoßen, dass er in seinen bisherigen Publikationen insbesondere die USA einer falschen, konfliktverschärfenden Nahostpolitik bezichtigt.

Und auch sein neues Buch „Moral über alles?“ dürfte Kritik herausfordern, stellt es doch eine scharfe Abrechnung mit der westlichen, vor allem aber deutschen Außen- und Sicherheitspolitik dar. Das sollte jedoch nicht von der Lektüre abhalten. Im Gegenteil: Das Buch bietet eine umfassende argumentative Grundlage, sich mit der aktuellen deutschen Außenpolitik auseinanderzusetzen.

Fraglich ist aber, ob Politiker wie Röttgen, Roth oder Hofreiter das ebenso sehen würden. Sie könnten Lüders Buch ignorieren, wähnen sie sich doch im Besitz der politisch und medial herrschenden Meinung zum Ukrainekrieg – und um diesen geht es in diesem Buch. 

Sie dürften schon Lüders’ Vorwurf nicht akzeptieren, „in einer Scheinwelt rund um Werteorientierung und Waffenlieferungen an die Ukraine zu leben“. In der Zweiteilung der Welt in Gut und Böse – so Lüders – seien Verständigung, Kompromiss oder gegenseitiger Respekt kaum möglich. Dabei berge die Moralpolitik, die allein auf das Militärische und auf Sanktionen setze, das gefährliche Risiko der wirtschaftlichen Selbstzerstörung. Dazu weist Lüders insbesondere auf das Ende der deutschen Energiepartnerschaft mit Russland und auf Anzeichen einer Deindustrialisierung hin.

Orientierung am Durchsetzbaren

Lüders macht den Ukrainekrieg zum Beispielfall einer verfehlten Außenpolitik. Er wirft der Bundesregierung vor, sich zum Vasallen der USA zu machen. Denen gehe es lediglich um die Verteidigung ihrer hegemonialen Machtansprüche; sie nähmen letztlich keine Rücksicht auf europäische Interessen. 

Selbst wenn man den amerikakritischen Ausführungen nicht in allen Punkten zustimmen will (allerdings sollten die Amtszeiten von George W. Bush und Donald Trump auch den eingefleischtesten Transatlantikern zu denken geben), so kommt man doch nicht umhin, Lüders’ ungeschminkter und auf mehr als 250 Seiten differenziert ausgeführter Analyse im Grundsatz zuzustimmen. So darf auch die Mitverantwortung des Westens für den Krieg durch die Nato-Osterweiterung nach dem Kalten Krieg nicht einfach geleugnet werden. 

Und diejenigen, die ohne ideologischen Ballast die Vorgeschichte des Krieges wie auch die möglichen Folgen analysieren, dürfen nicht als Putin-Trolle verunglimpft werden. Arroganz und Überheblichkeit – auch daran ist an dieser Stelle zu erinnern – sind in der aktuellen Debatte unangebracht.

Das Buch bietet also einen erfrischenden Beitrag zur aktuellen Debatte, der allen an Außenpolitik Interessierten zu empfehlen ist. Er ist seriös belegt und argumentiert. Und er ist gut lesbar, auch da er manche der Einsichten schmissig-­polemisch formuliert auf den Punkt bringt. Beispiel: „Das Gutmenschentum bewohnt vorzugsweise ein geistig-moralisches Bullerbü und hat nur wenig Gespür für wirtschaftliche und geopolitische Realitäten.“ Und um Realitäten geht es – in dem Buch wie in der Welt. Denn Realpolitik ist eine Politik, die sich an dem Durchsetzbaren orientiert. Für eine solche Politik aber fehlt heute vielfach das Verständnis. Rüdiger Lüdeking

Michael Lüders: Moral über alles? Goldmann, München 2023. 256 Seiten, 18 €

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

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