Literatur - Europa nach dem Krieg

Von dem, was derzeit in der Ukraine geschieht, wäre man vielleicht weniger überrascht gewesen, hätte man den warnenden Kassandra-Rufen aus dem Bereich der Kultur zugehört. Wenn es irgendwann darum geht, die Orientierungslosigkeit nach dem Krieg zu überwinden, sollten die Stimmen von Schriftstellern aus Russland und Osteuropa - von Svetlana Alexijewitsch, Julia Kissina oder Andrzej Stasiuk - mehr Gewicht bekommen.

Jurij Andruchowytsch ließ schon vor 30 Jahren seinen Kiewer Roman-Protagonisten im Sowjetsystem untergehen / dpa
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Jürgen Wertheimer ist Professor em. für „Internationale Literaturen“ an der Universität Tübingen.

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Es ist höchst erstaunlich. Noch vor ein paar Wochen herrschte großes Rätselraten über die Pläne Putins. Jetzt schießen allenthalben Experten aus dem Boden, die allesamt behaupten, genau gewusst zu haben, was sich anbahnt. Tatsache ist: Das Grübeln über verpasste Möglichkeiten und übersehene Vorzeichen hilft im Moment der Eskalation wenig, und das gilt ebenso für Schuldzuweisungen jeder Art. Es ist trist genug, einmal mehr erlebt zu haben, dass die gewaltigen Datenmengen, die die Geheimdienste – Satelliten- und KI-gestützt – seit Monaten sammelten, im Grunde nichts bewirkten. Jedenfalls den Westen nicht daran hinderten, sehenden Auges in jede von einem gerissenen, strategisch eiskalt denkenden Usurpator aufgestellte Falle zu tappen.

Man fragt sich nach alldem, ob unser Werkzeugkasten an Prognose-Tools möglicherweise doch nicht so komplett ist, wie wir glauben; ob wir nicht irgendetwas Wichtiges vergessen haben.

In der Tat, wir haben etwas vergessen: den gesamten Chor der Kassandra-Stimmen aus dem Bereich der Kultur. So als ob die Stimmen von Musik und Theater, Film und Literatur nicht ständig Signale der Warnung senden würden. Als würden sie nicht entscheidende Informationen über die wirklichen Gefühle der Menschen übermitteln, die an den Bruchzonen der Systeme leben, und damit Hinweise auf die der Politik und Diplomatie oft unzugänglichen Sedimente der Mentalitäten geben. In seinem Roman „Moscoviada“ läßt Jurij Andruchowytsch seinen Kiewer Protagonisten Otto bereits vor 30 Jahren in die Ab- und Unterwelt des Sowjetsystems im wahrsten Sinne des Wortes eintauchen und letztlich auch in ihnen untergehen. Seine geplante Rückfahrt nach Kiew wird zu einem Menetekel, das die tragischen Entwicklungen der Gegenwart nahezu halluzinatorisch antizipiert.

Länder im Zustand heilloser innerer Gespaltenheit

An warnenden Stimmen hat es also nie gefehlt. Aber man hat diese Stimmen überhört, obwohl, vielleicht weil sie oft Jahre vor einer Eruption das Grollen im Untergrund hörbar, spürbar machen. Weil sie den Sound der Erregung, der Ängste, der Bedürfnisse der Menschen übermitteln. Weil sie zum Umdenken, zum Nachdenken, zum Handeln führen würden. Weil sie zur Erkenntnis führen würden, dass nicht die sogenannten „Fakten“, sondern „Fiktionen“ unsere Wirklichkeit bestimmen.
So auch jetzt. Während die Experten aus Politik und Militär über den Ausgang des Krieges spekulieren, wäre es dringend geboten, sich bereits jetzt Gedanken über die Monate und Jahre danach zu machen. Und den fatalen Kreislauf des Wartens auf die nächste Finte des Kremlstrategen zu durchbrechen.

Ob Herta Müller oder Svetlana Alexijewitsch, ob Olga Tokarczuk, Serhij Zhadan oder Jurij Andruchowytsch – bei aller Unterschiedlichkeit der Positionen im Einzelnen: Alle stimmen in der Kernaussage überein, dass ihre Länder sich im Zustand heilloser innerer Gespaltenheit befinden. Selbst bei der extrem systemfeindlichen Svetlana Alexijewitsch gibt es Momente einer fast nostalgisch getönten Erinnerung an die große sowjetische Zeit. Europa ist und bleibt für die allermeisten ein vager Hoffnungsschimmer, freilich vollgesogen mit enttäuschten Erwartungen.

 

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Nach dem Krieg – wie immer er endet – wird die Orientierungslosigkeit, werden die inneren Widerstände und Widersprüche nur noch mehr an die Oberfläche treten. Es wird mit Sicherheit keine Zeit der eindeutigen Zuordnungen sein. Wer immer dann an den Verhandlungstischen sitzt, um an einer neuen Friedensordnung zu basteln, wäre gut beraten, wenn er/sie folgende indirekten „Einflüsterungen“ der Kulturschaffenden ins Kalkül ziehen würde.

Hybride Realitäten bauchen hybride politische Antworten

1.) Wir müssen den Umgang mit hybriden Realitäten lernen. Die meisten Länder Osteuropas, ob Estland, Lettland, Litauen, die Ukraine, Polen oder Moldawien, leben seit Jahrzehnten, häufig seit Jahrhunderten, im Zustand tiefer innerer Gespaltenheit. Oft nur unterschwellig – aber im Spiegel der Künste erkennbar. So zeigt etwa Olga Tokarczuk in ihrem Roman „Die Jakobsbücher“ Territorien mit  sieben Grenzen, fünf Sprachen und drei großen Religionen vermeintlich unter dem Zeichen eines Landes vereint. Wie sie zeigt, eine äußerst trügerische Vereinigung. 2014 stellt Szczepan Twardoch in „Drach“ die Trennlinien zwischen Polen, Deutschen, Juden, Schlesiern in Schlesien dar. Eigentlich herrscht immer ein verdeckter Kriegszustand. Auch wenn es oft nur ein Krieg der Wörter ist – Wörter einer verhassten und gewaltgeladenen Sprache.

Auch unter der Illusion temporärer Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Seite schwelen Konflikte weiter. Es macht deshalb keinen Sinn, auf eindeutige Zugehörigkeit zu pochen, wenn Patchwork-Identitäten die Signatur der Wirklichkeit darstellen. Hybride Realitäten bauchen hybride politische Antworten und Strukturen. Jetzt wie die EU zu sagen, „wir wollen euch drin“ bzw „ihr müßt noch warten“ ist die größtmögliche strategische Ungeschicklichkeit.     

2.) Wir müssen Europa zu einem Kontinent der Ambiguitäten umbauen. Ob wir es wollen oder nicht, ein Gürtel „neutraler Zonen“ zwischen den östlichen und westlichen Teilen Europas, also Russlands und Kerneuropas, muss ernsthaft angedacht werden. Neutralität ist dabei nicht mit Schwäche gleichzusetzen, sondern entspricht dem Status eines Privilegs. Die erwähnten Länder fungieren gleichsam als Scharniere, die Europa zusammenhalten. Als Brücken und Transiträume zwischen den Systemen. Offen nach beiden Seiten, geschützt von beiden Seiten. Eine Illusion, werden viele sagen, denen alleine der Begriff der „Neutralität“ Schauer der Bündnistreue über den Rücken jagt. Dennoch sollte man mit dem Versuch dieses Brückenbaus beginnen und dessen Potential ausloten. Wie dies z.B. Andrzej Stasiuk in seinem „Der weiße Rabe“ (1998), seinen „Galizischen Geschichten“ (2002), „Unterwegs nach Babadag“ (2005) und „Der Osten“ (2015) tut. Er entwirft darin exemplarisch  die Vorstellung einer Einheit aller  Regionen südöstlich von Polen.

Europa von seinen Rändern her verstehen

3.) Wir müssen es lernen, Europa als bewegliches, fluides System zu begreifen. Europa hat immer am besten als offenes System funktioniert. Eingezwängt in starre, strikt voneinander separierte Zonen und getrennt durch scharfe Grenzen, kommt es fast zwangsläufig zum Aufstauen und zur Blockade kultureller Energien. Kultur beweist permanent, dass es auch anders geht: Vielstimmigkeit, Unterschiedlichkeit, trügerische Ähnlichkeiten und scheinbare Unvereinbarkeiten gehören zu ihrer Grundlage. Transkultureller Austausch darf nicht nur auf den Feldern von Kunst und Kultur stattfinden – er muss in einem überlebensfähigen, auf Heterogenität fußenden Europa zur Grundlage auch der politischen Agenda werden. Was passiert, wenn anders gedacht wird, steht in Vladimir Sorokins „Manaraga“ (2017): Europa zerfällt in kleine Einheiten, Republiken, Diktaturen, Monarchien, und Bücher ersetzen Holzkohle.

4.) Wir müssen es lernen, Europa von seinen Rändern her zu ordnen und zu verstehen. Und seine unterschiedlichen Narrationen und Stimmungen dort ernst zu nehmen. Julia Kissina zeigt in „Elephantinas Moskauer Jahre“ (2016), dass Prägungen und Mentalitäten von früher, wie der russische „Kosmopolitismus“, letztlich noch immer nichts an Aktualität eingebüßt haben. Von der unersprießlichen Alternative hierzu, von nicht enden wollenden Kriegen und Bürgerbewegungen am Rande Europas (Berg Karabach), schreibt Olga Grjasnowa in „Der Russe ist einer, der Birken liebt“.

Eine artistisch komplizierte Balance im Verhältnis zu Russland

Nur wenn es uns gelingt, den baltisch-osteuropäischen wie den Balkanraum, aber auch die Regionen Nordafrikas und des Mittelmeerraums so zu integrieren, dass ihre Autonomie und Eigenständigkeit gewahrt bleibt, wird es gelingen, Konfliktpotential zu absorbieren und entstehende Spannungen im Vorfeld abzufangen. Dazu bedarf es keiner Grenzzäune, sondern intelligent angelegter Grenzräume und nicht nur hektischer Aufrüstung – deren Umsetzung Jahre dauert –, sondern das Leben der Menschen verbessernder, großzügig angelegter Freihandelszonen.

All diese Maßnahmen können kleine Beiträge zum Vermeiden dessen sein, was wir nun drastisch erleben. Ohne eine neue, vielleicht artistisch komplizierte Balance im Verhältnis zu Russland wird das alles nicht viel nutzen. Vladimir Sorokin skizziert  in „Der Tag des Opritschniks“ (2006) die Wucht dieses bedrohlichen Potentials, das nicht allein an der Figur eines angeblich paranoiden Putin festzumachen ist: In seinem Roman dirigiert im Jahr 2027 ein fiktiver, brandgefährlicher Handlanger der Macht, die „russische Bärin“. Auch in Viktor Jerofejews „Enzyklopädie der russischen Seele“ (2021) sucht das zerrissene Russland nach einer mythischen Figur: dem Grauen, um wieder zu einer Großmacht zu werden. Von der Verführbarkeit des Menschen, wenn die Gier nach Macht zum stärksten Motiv seines Handelns wird, erzählt Viktor Martinowitsch in „Revolution“ (2021).

Es wäre schön, wenn dieses „modest proposal“ und die warnenden Stimmen der Autorinnen und Autoren Eingang in das Denken der Entscheidungsträger finden könnten.

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