Lifestyle-Linke - Deutschland, voll normal

Die Chefredakteurin der taz findet es „gefährlich“, dass die SPD Politik für „normale Menschen“ machen will – und bestätigt damit unfreiwillig, dass Sahra Wagenknecht mit ihrer Polemik gegen „Lifestyle-Linke“ einen wahren Kern getroffen hat. Eine Replik.

Auch der Paketbote, der der aufgeklärten bürgerlichen Klientel ihre Sachen nach Hause bringt, will von der Politik repräsentiert werden. / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

So erreichen Sie Ulrich Thiele:

Anzeige

Was kann und sollte man Olaf Scholz nicht alles vorwerfen – die Skandale um Wirecard, Warburg, HSH-Nordbank und sein unverschämtes Abblocken jeglicher Kritik an seiner Rolle darin, um nur ein paar Stichpunkte zu nennen. Dass der neue Bundeskanzler höhere Löhne verspricht, als „Anerkennung auch für die, die fleißig sind im Warenlager oder die einen Truck fahren“, gehört mit Sicherheit nicht dazu.

Dort, wo man mit Mindestlohnempfängern vor allem dann in Kontakt kommt, wenn man abends seine Bestellung an der Tür entgegennimmt, sieht man das anders. Die Chefredakteurin der taz, Barbara Junge, beklagte kürzlich in einem Kommentar, dass die SPD auf „Respekt“ und „normale“ Menschen setze. Das sei „ein gefährliches Spiel“, weil es in Abgrenzung gegen Eliten und den „woken“ Mainstream passiere.

Das feine, aufgeklärte bürgerliche Klientel

Schon seit Sommer, so Junge, trage Scholz seine Respekt-Melodie mit einem Unterton vor, „der hellhörig macht und der jetzt von symbolträchtigen Entscheidungen begleitet wird“. Zu den „symbolträchtigen Entscheidungen“, die Junge in solch raunende Besorgnis versetzen, gehört offenbar auch die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro, wie ihre anschließenden Sätze zeigen:

„Die Rede ist viel von sogenannten normalen Menschen, in Abgrenzung gegen die Eliten und im Kern damit gegen jenes aufgeklärte bürgerliche Klientel, das Grüne und FDP repräsentieren. Im Sommer rang Scholz darum, diese normalen Menschen mit dem Begriff des ,Respekts‘ für sich zu gewinnen und hatte damit hinreichend Erfolg. Er verband den Begriff mit der handfesten Versprechung von 12 Euro Mindestlohn. Etwa für die ,Anerkennung auch für die, die fleißig sind im Warenlager oder die einen Truck fahren‘.“

Da steht tatsächlich: „jenes aufgeklärte bürgerliche Klientel, das Grüne und FDP repräsentieren“ (und zu dem die Autorin zwischen den Zeilen auch sich zählt). Bekanntlich versammeln FDP und vor allem Grüne von allen Parteien die meisten Akademiker aus urbanen Milieus mit hohem Einkommen. So schnell werden Menschen abseits dessen, also „normale“ Arbeitnehmer mit „normalen“ materiellen Bedürfnissen (wie Existenzsicherheit), schon implizit zum unaufgeklärten Pöbel gezählt.

Soziale Politik, na gut, aber …!

Junges Prognose für die Ampel-Koalition: „Wenn nicht alles täuscht, wird es nicht ein rot-grünes Lager mit einem liberalen Farbtupfer geben, sondern zwei kleinere Parteien, die hart zu kämpfen haben, um sich gegen den Chef im Kanzleramt zu behaupten.“ Das heißt, die Grünen und Liberalen werden hart zu kämpfen haben, um ihre (zweifellos wichtigen) gesellschaftspolitischen und klimapolitischen Anliegen durchzusetzen, damit sie nicht neben so unwichtigen Anliegen wie dem Mindestlohn (für dessen Erhöhung auch die Grünen sind) untergehen.

Umso unglaubwürdiger muten Junges Alibi-Beteuerungen an, die Sozialdemokratie verdiene es, gerettet zu werden (man versteht sich ja immer noch als irgendwie links, und dazu gehört nun mal soziale Politik, zumindest als Lippenbekenntnis). Es sei nichts dagegen zu sagen, „einen Teil der abwandernden Arbeiterklasse wieder einzufangen“. ABER …

Junge stört sich vor allem an der Formulierung, „Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind nicht bei denen, die sich für was Besseres halten“, weil von dort der Weg nicht weit sei „zu einer Erzählung von der elitären neuen Mittelklasse, die sich auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung bereichert und den Mainstream diktiert, einen woken, natürlich“.

Dazu sollte an dieser Stelle eingeschoben werden, dass der Begriff der neuen Mittelklasse in jüngerer Zeit vor allem durch Andreas Reckwitz große Popularität gefunden hat. Falls ihn jemand nicht kennen sollte: Das ist der Soziologe, der in den vergangenen vier Jahren ungefähr 100.000-mal in Zeitungsartikeln zitiert wurde und mit dessen Büchern sich Christian Lindner und Robert Habeck gerne auf hochgradig ästhetischen Schwarz-Weiß-Fotos festhalten lassen, die sie in bildungshungriger Versunkenheit zeigen.

Die Drei-Drittel-Gesellschaft

In seinem 2017 erschienen Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ hat Reckwitz eine Generaltheorie westlicher Demokratien wie Deutschland entworfen, bei denen er eine Spaltung in drei Klassen sieht. Neben der kleinen Elite der Superreichen gebe es ebenjene neue Mittelklasse, die aus weltoffenen, oft urbanen Akademikern besteht. Sie sind die Profiteure der Globalisierung und des neuen Kulturkapitalismus und interessieren sich entsprechend mehr für Kultur- als für Verteilungsfragen. Nicht der Standard, sondern das Besondere ist laut Reckwitz das Programm, das alle Bereiche ihres Lebens durchzieht: Reise besonders und mache keinen Pauschaltourismus! Sei der Kurator deines eigenen Lebens! Feiere die Differenz!

Der neuen Mittelklasse sieht Reckwitz zwei Klassen gegenüber, die den Kürzeren ziehen. Einmal die alte Mittelklasse, mit klassischen Jobs, oft im ländlichen Raum, hoch qualifiziert und ökonomisch gut abgesichert (interessanterweise oft besser als viele Akademiker in Großstädten). Sie sehen sich jedoch mit einer kulturellen Abwertung ihres Lebensstils konfrontiert, weil sie, grob gesagt, eher das alte Standardideal leben, das zumindest in der kulturellen Repräsentation (Werbung, Serien etc.) etwas aus der Mode geraten ist.

Die dritte Klasse ist die Unterklasse, die teilweise trotz mehrerer Jobs in Armut lebt und sowohl ökonomisch als auch kulturell abgehängt ist. Reckwitz plädiert deswegen für Umverteilung und dafür, kulturell allgemeine, klassenübergreifend verbindende Werte starkzumachen. Es handelt sich wie gesagt um eine Generaltheorie, die Wirklichkeit ist nuancierter und ambivalenter als diese grobe Zusammenfassung.

„Wokeness“ ist kein Hirngespinst

Barbara Junge stört sich also daran, dass die SPD nicht bei denen sein will, die sich für etwas Besseres halten, weil von dort der Weg nicht weit sei „zu einer Erzählung von der elitären neuen Mittelklasse, die sich auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung bereichert und den Mainstream diktiert, einen woken, natürlich“.

Nun ist diese Erzählung nicht aus der Luft gegriffen. Wer glaubt, die Verachtung bei Vertretern der neuen Mittelklasse – die durchaus eine kulturelle und ökonomische Elite sind – gegenüber den anderen Klassen und ein fehlendes Klassenbewusstsein bei akademischen Linksliberalen seien ein Hirngespinst, der möge einige der vielen Bücher zu diesem Thema lesen: zum Beispiel Christian Barons „Proleten, Pöbel, Parasiten. Warum die Linken die Arbeiter verachten“ oder Anke Stellings Roman „Schäfchen im Trockenen“ über das Prenzlauer-Berg-Milieu, in dem sie selbst lebt. Oder dieses lesenswerte Interview mit Anke Stelling. Oder den Kommentar der taz-Chefredakteurin, die die These unfreiwillig bestätigt. Interessanterweise zieht Junge mit ihrem Gerede vom „aufgeklärten Klientel“ der Grünen und der FDP selbst eine elitäre Grenze, um anschließend die Kritik an dieser Grenzziehung als „gefährliche“ Erzählung abzutun.

Auch die Kritik an überzogener, an Einfluss gewinnender „Wokeness“ aus der neuen Mittelklasse ist nicht unbegründet. Wenn ein mächtiger globaler Großkonzern wie Amazon irrsinnige und ins Identitäre kippende „Diversity-Regeln“ für seine Filmstudios aufstellt, ist das sicherlich nicht das Ergebnis aufrichtiger Sorge in der Amazon-Geschäftsführung um fehlende Sensibilität.

Anti-wokes Geschäftsmodell

Junge hat einen Punkt, wenn sie anmerkt, dass die Bild ein anti-wokes Narrativ „mit großer Lust bedient und es zum Widerstandsmotiv stilisiert“. Das Boulevardblatt hat sogar eine Art Anti-Wokeness-Beauftragte, die es zum Geschäftsmodell gemacht hat, gegen das Geschäftsmodell von Woken zu polemisieren. Das Vorgehen ist immer das gleiche: Es wird nach möglichst grellen Beispielen für überzogene Wokeness im Netz gesucht, das Ergebnis wird öffentlich aufgeblasen, und die Gleichgesinnten, die natürlich mit gesundem Verstand ausgestattet sind, empören sich in genüsslicher Selbstbestätigung über die irren Woken. Erkenntnisgewinn gleich null.

Nur ändert das populistische Geschäftsmodell der Bild nichts daran, dass die Kritik an woken Phänomenen einen wahren und berechtigten Punkt hat. Dasselbe gilt für den Begriff der „Normalität“, den viele – man erinnere sich an die Debatte um Wolfgang Thierse – so problematisch finden, vor allem, weil die AfD mit „Normalität“ für sich wirbt.

Was die AfD mit Normalität meint, ist hinreichend bekannt – ein reaktionäres, nationalidentitäres Programm, das sich den schnurrige Harmlosigkeit suggerierenden Normalitätsbegriff aufsetzt. Meint die SPD hingegen mit Normalität eine im Sinne von Andreas Reckwitz den „alten Klassen“ verpflichtete Politik, ist das nur zu begrüßen. Denn die von Scholz genannten Arbeiter im Warenlager, also die „Normalen“, deren Jobs keine tagtägliche Imagepolierung in Werbespots erfahren, sind auch Migranten (gerade im Niedriglohnsektor) und/oder Homosexuelle.

Auch Akademiker brauchen Sozialpolitik

Wenn Barbara Junge schreibt, „der Weg sei nicht mehr weit“, ist das so schlagkräftig wie der berühmte „Applaus von der falschen Seite“. Es ist so schwammig, dass es jederzeit herausgeholt werden kann, wenn Kritik geäußert wird, die auch von „den Falschen“ aufgegriffen und verdreht werden kann. Oder soll man etwa Olaf Scholz nicht mehr für seine Warburg-Geschichte kritisieren, weil man dafür von der AfD gefeiert wird?

Das Schöne ist: Auch Akademiker würden von wirklich sozialdemokratischer Politik profitieren. Man denke an die Bewegung „Ich bin Hanna“, die die „flexiblen“ (also ausbeuterischen) Arbeitsbedingungen an Universitäten für das akademische Prekariat inklusive befristeter Verträge anprangert. Auch bei der taz dürfte man von echter sozialdemokratischer Politik profitieren. Die Honorare für freie Autoren sollen ja furchtbar mager sein.

Anzeige