Liberalismus in Zeiten des Kriegs - Aufrüsten für die Freiheit

Während Putin einen Krieg gegen die Ukraine führt und damit auch Demokratie und Freiheit den Kampf ansagt, beschwören wir täglich unsere Werte. Doch dieses Bekenntnis ist hohl geworden. Denn der Westen hat es verlernt, seine Werte zu lieben, für sie einzustehen und zu kämpfen.

Friedensdemo von Fridays for Future am 3. März auf dem Marktplatz von Tübingen / dpa
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Autoreninfo

Clemens Schneider, Jahrgang 1980, ist Direktor des liberalen Thinktanks Prometheus - Das Freiheitsinstitut.

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Oligarchen, Kleptokraten, die monströse Kitschorgie am Schwarzen Meer, die uns Nawalnys Recherche-Team minutiös vor Augen geführt hat. Eine Perspektive auf Putinland zeigt uns ein heruntergewirtschaftetes und ausgeplündertes Land mit Bananenrepublik-Charme. Im Kampf um die Stimmung im Land selbst ist es auch eine schlüssige Strategie, der russischen Bevölkerung dieses Narrativ vor Augen zu führen, weil es sie und den Diktator im Kreml gleichermaßen bei der Ehre packt. Aber man sollte sich davor hüten, es für die bestimmende Realität in der jetzigen Situation zu halten. In Russland im 23. Jahr Putin ist mit Gewalt die Macht der Ideen wirksam.

Putin ist im Armageddon-Modus. Seine Taten, sein Auftreten und seine Narrative, die sich allesamt über die vergangenen 30 Jahre gut nachverfolgen lassen, sind nicht primär von dem Ziel nach persönlicher Bereicherung bestimmt. Der groteske Luxus und perverse Reichtum des modernen Zaren sind schmückendes Beiwerk, nicht Ziel oder Inhalt seines politischen Handelns.

Putins Diktatoren-Sehnsucht

Schon 1994 schwadronierte der damalige 2. Bürgermeister von St. Petersburg darüber, dass Russland einen Diktator nach dem Muster Pinochet gebrauchen könne. 2005 stellte er seine berühmt gewordene Behauptung auf, der Untergang der Sowjetunion sei die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts gewesen. Und zuletzt machte er im Sommer einen sich wissenschaftlich gebenden Aufschlag mit einem Essay, in dem er die völkische Einheit von Russen und Ukrainern beschwor.

Der zunehmende Geschichtsrevisionismus, der sich von jeder Menge Staatspomp über die Errichtung monumentaler Museumsparks bis zu einer faktischen Rehabilitierung Stalins zieht, ist viel zu konsistent, um nicht ein wirkliches Herzensanliegen des Kremlbewohners zu sein. Die Tiraden gegen „Gayropa“ und das Hofieren der orthodoxen Nationalkirche sind authentische Ausdrucksformen eines Mannes, der dem Weltbild Samuel Huntingtons und seines Anfang der 1990er Jahre herbeibeschworenen „Kampfes der Kulturen“ sicherlich weit mehr abgewinnen kann als dem egomanen Gehabe populistischer Polit-Influencer vom Schlage Trumps oder Bolsonaros. Dass Putin kaum Personenkult um sich betreiben lässt, zeigt seine Selbstkontrolle. Nicht Eitelkeit leitet diesen Mann, sondern Sendungsbewusstsein.

Und damit trifft er die westliche Welt an ihrem vielleicht verletzlichsten Punkt. Es gibt einen guten Grund dafür, dass wir das Narrativ des Bananenrepublikaners Wladimir Wladimirowitsch so gerne geschluckt haben; dass wir dachten, wir könnten ihn durch eine Mischung aus persönlichen Schmeicheleien, Übersehen von Korruption und politische Zugeständnisse zähmen. Es ist nämlich für sehr viele von uns schlichtweg nicht mehr vorstellbar, dass jemand aus aufrechtem Idealismus heraus handelt. Weder die Kommentatoren der Tagesschau noch die Schwesigs und Söders dieses Landes konnten sich hineinversetzen in die Seele eines Menschen, der tatsächlich an etwas glaubt. Weil sie selbst an nichts mehr glauben. Weil ihr Bekenntnis zu Klimaschutz oder Flüchtlingshilfe für sie eine Form der Selbstdarstellung ist, wie man sie von Instagram oder tiktok kennt – nur, dass sie dort ehrlicher auftritt. Weil sie vom Beifall leben und das Format des Bekenntnisses für sie umso peinlicher wird, je mehr Einblicke es in ihre Seele bieten könnte.

Der Westen verliert seine Seele

Putin und seine Mitstreiter haben das schon ganz gut erkannt: Der Westen ist dabei, seine Seele zu verlieren. Man hat das in den letzten Jahren beobachten können. Denn nicht nur dem Kreml und seinen Auguren ist dieses Problem aufgefallen. Insbesondere am rechten Rand des politischen Spektrums in Europa und den USA sammeln sich seit rund 20 Jahren die Kräfte, die versprechen, dem Westen seine alte Seele wiederzugeben. Diese von ihnen proklamierte alte Seele hat viel mehr gemeinsam mit der endzeitlich geprägten Weltsicht Putins als mit der tatsächlichen Realität des Westens. Deshalb ließen sich Le Pen, Salvini, Orbán und Trump so gerne in Moskau hofieren (und finanzieren).

Man kann versuchen, Putin Einhalt zu gebieten. Durch Sanktionen, Waffenlieferungen an die Ukraine (und womöglich andere bedrohte Staaten wie Georgien) und eine Ertüchtigung der Nato und ihrer Armeen. Aber auf einem entscheidenden Gebiet sind wir im Westen fast hoffnungslos unterlegen: beim Kampf der Ideen.

Wir glauben nicht mehr an das, was wir doch Tag für Tag praktizieren. Wir profitieren vom ungehinderten Austausch von Waren und Dienstleistungen, einer zunehmend globalisierten Marktwirtschaft. Wir haben in den zurückliegenden 50 Jahren einen beispiellosen Emanzipationsschub erlebt: zunächst in der Gesellschaft und dann im Gesetz. Zig Millionen von Gastarbeitern, Kriegsflüchtlingen und Menschen, die aus dem Elend ihrer Heimat entkommen wollten, haben sich in unserem Land eingefunden und stellen inzwischen ein wesentliches Rückgrat unserer ökonomischen und akademischen Erfolge. Ideale und Wirtschaftskraft des Westens haben erheblich dazu beigetragen, den Eisernen Vorhang zum Einsturz zu bringen, und sind seit Jahrzehnten Anziehungspunkt und Vorbild in allen Teilen dieser Welt. Westliche Kultur wird konsumiert von der Mongolei bis Mozambique. Technik, Wissenschaft, Wohlstand, individuelle Freiheit – überall hat die offene Gesellschaft einen beispiellosen Siegeszug vorzuweisen.

Leben im Luxus ohne Gefühle

Und wir? Wir leben in diesem Luxus – materiell und immateriell – ohne Gefühle. Wir lieben nicht unsere moderne Welt mit der Leidenschaft eines dankbaren Herzens. Bisweilen hintergehen wir auch die Grundlagen dieser Welt, wenn wir uns als Globalisierungskritiker stilisieren, während wir im bequemen Ikea-Sessel auf unserem Smartphone Instagram-Posts liken und am fair gehandelten Kaffee nuckeln. Uns schmerzt das Weglassen oder das Verwenden des Gendersterns mehr als das Leid der Menschen, die unter Tyrannis und Unfreiheit leben müssen in Belarus und Myanmar, im Iran und im Kongo, in Turkmenistan und Venezuela. Der missionarische Eifer, unsere Werte auch anderen Menschen zu vermitteln und zu ermöglichen, ist verpönt als Kulturimperialismus. Anstatt sie begeistert zu feiern, verstecken wir sie verschämt in einem komplexen rhetorischen Gebilde, das sich ganz bundespräsidial irgendwo um die Begriffe Diskursethik, Verfassungspatriotismus und Mittelweg herumwindet.

Gewiss, liberale Gesellschaften sind immer mit einem erheblichen Marketingproblem konfrontiert, denn das Ideal des Liberalismus ist ja ein Miteinander von Menschen, das entpolitisiert ist. Wo man sich nicht mehr über Gesetze und Gelder streitet, geschweige denn über Identitäten, sondern wo jeder Mensch seines eigenen Weges gehen kann mit denjenigen Menschen, die ihm behagen oder nutzen. Der Liberalismus ist im Kern ein ideologisches Abrüstungsprogramm. Und das macht ihn so verletzlich und angreifbar. Das wissen seine linken und rechten Gegner. Das weiß Putin.

Wir stehen im Krieg. Nicht nur unsere Schwestern und Brüder in der Ukraine. Und nicht erst seit Ende Februar. Seit der Zeit, als die Welt vor 30 Jahren allenthalben das Ende der Geschichte bejubelte und den Sieg von Demokratie, Marktwirtschaft und Freiheit feierte, sammeln sich die Truppen derer, die es als Bedrohung empfinden, wenn Menschen ihre eigenen Wege gehen: in den Parteizentralen in Peking, den Koranschulen in Kabul und den Militärakademien in Moskau.

Der Westen hat es verlernt, seine Werte zu lieben, für sie einzustehen und zu kämpfen. Leidenschaftslos sind wir völlig aus der Übung, was es eigentlich bedeutet, für eine Idee zu brennen. Und darum ist neben der Aufrüstung unserer militärischen Fähigkeiten die Aufrüstung unserer Ideenarsenale und unserer Wertestreitkräfte die wichtigste Aufgabe dieser Zeit.

Im Kampf der Ideen bestehen

Zu Zeiten des Kalten Krieges haben viele im Westen das recht gut beherrscht. Aber sie hatten auch Übung darin, weil die verschiedenartigen Barbareien des 20. Jahrhunderts ihnen wieder und wieder vor Augen geführt hatten, wie wertvoll das ist, wofür sie einstehen. Heute müssen wir nach Hongkong, Minsk und Kiew blicken, um zu sehen, welche Strahlkraft von der Freiheit ausgehen kann. Hier sind Menschen bereit, im Zweifel ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen für die Grundpfeiler unseres einzigartigen Lebensstils hier im Westen.

Der Kampf um die Freiheit ist nicht umsonst zu haben. Hierzulande muss noch keiner sein Leben aufs Spiel setzen. Aber wir müssen anfangen, ebenso massiv Ressourcen dafür aufzubringen, wie wir es derzeit für unser Militär tun. Lebenszeit und finanzielle Mittel sind nötig, um im Kampf der Ideen bestehen zu können. Wir brauchen Idealisten, die sich, ihr Leben, ganz dieser Aufgabe widmen, und wir brauchen Menschen, die bereit sind, diesen Idealisten die nötigen Mittel zur Verfügung zu stellen.

Wir sollten einen Putin nicht unterschätzen, ebenso wenig wie einen Xi Jinping, der gerade genauestens beobachtet, was passiert, und natürlich all die vielen unauffälligeren Freiheitsfeinde, die sich zum Teil mitten unter uns finden. Wir sollten ihr Sendungsbewusstsein nicht unterschätzen und nicht ihre Opferbereitschaft.

Rüsten wir jetzt auf und machen uns bereit für den Einsatz, den der brasilianische Sklavenbefreier Joaquim Nabuco (1849-1910) beschrieb mit den Worten: „Erzieht eure Kinder, erzieht euch selbst, die Freiheit der anderen zu lieben. Denn nur so ist sichergestellt, dass eure eigene Freiheit nicht nur ein Zufallsgeschenk des Schicksals ist. Dann werdet ihr ihren Wert erkennen und den Mut finden, sie zu verteidigen.“

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