Landauf, landab - Donner im Dorfidyll

Alle drücken im Herbst Blumenzwiebeln in die Erde. Alle schützen ihre Kleintierzucht. Alle bemitleiden die Städter und fühlen sich verhältnismäßig sicher auf dem Land. Doch wohin flüchten, wenn der Krieg trotzdem kommt? Vielleicht ins Moor.

Illustration: Soeren Kunz
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Autoreninfo

Sophie von Maltzahn ist Schriftstellerin und lebt in Mecklenburg. In Cicero blickt sie als Kolumnistin monatlich vom Land aus auf die Welt. Foto: Carolin Saage / Kiepenheuer & Witsch

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Im Grunde hat die Welt unser kleines Dorf in Dunkel-­Deutschland, wo man die Sterne noch sieht, vergessen. Nicht mal die Menschen aus der Umgebung waren schon mal hier. Arkadische Traumlandschaften haben sie zu Hause selbst. Dass die zwölf Häuser einen eigenen Namen haben, wissen sie nur von dem grünen Ortsschild auf der Landstraße. 

In der einzigen Straße, in die auch ohne extra Verbotsschild nur Anlieger und Lieferanten einbiegen, sieht man selten einen Dorfbewohner, und es dauert Jahre, bis du alle zu Gesicht bekommen hast. Das Leben findet uneinsichtig in Lauben und Garagen oder hinter opaken Spitzengardinen statt, als wären die Lehren aus dem DDR-Überwachungsstaat weiterhin gültig. 

Gleichzeitig bleibt nichts unbeobachtet. Jedes bekannt gewordene Detail aus dem Privatleben der anderen hat Nachrichtenwert. Begegne ich einem unbekannten Gesicht, dann weiß ich deshalb schon alles über diese Person – und sie alles über mich. 

Reichsbürger, Alt-Kommunisten, Landadel

Ohne Gentrifizierung leben hier auf einer Strecke von wenigen hundert Metern Reichsbürger, Alt-Kommunisten mit Neonazi-Nachwuchs, Künstler-Eremiten, Akademiker-Rentner und Arbeiter-Rentner nebeneinander. Es gibt noch die  Öko-Selbstversorger und es gibt uns: liberale Landadelige mit regionaler, 800-jähriger Familiengeschichte und Grundbesitz. Alle irgendwie aus der Zeit gefallen. 

Alle sind weiß. Alle drücken im Herbst Blumenzwiebeln in die Erde. Alle schützen ihre Kleintierzucht vor Fuchs, Marder und Wolf. Alle bemitleiden die Städter und fühlen sich verhältnismäßig sicher: vor gefährlichen Viren, vor gewaltbereiten Protestmärschen, sogar vor der Teuerung, weil man hier mit Gewächshaus, hauseigener Schlachtung und dem Tauschhandel mit den Nachbarn fähig zur Selbsthilfe ist. 

Alle hören Tag und Nacht den Fluglärm der Kampfjets, der die ländliche Stille durchschneidet. Mal grollend wie Donner. Mal bedrohlich leise hinter einer dichten Wolkendecke. 

Wir verstecken uns im Moor

„Wohin würden wir flüchten?“, hat mich meine Nachbarin in Panik gefragt, als 2022 der Krieg gegen die Ukraine ausbrach. „Wohin? Wir bleiben hier. Wir verstecken uns im Moor. Die werden schon nicht bleiben. Was sollen sie denn hier? Hier gibt’s doch nichts.“ 

So bezwingen wir unsere German Angst – und denken jetzt an jene, die heute keine Chance mehr haben werden, sich vor dem Horror zu verstecken, weil auf jedem Quadratmeter um sie herum gekämpft wird. Blutstropfen des Schmerzes quellen aus meinem Herzen. Niemand sieht sie außer dem Universum. Dona nobis pacem.

 

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