Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich - „Die Autonomie-Idee der Kunst hat sich erschöpft“

Der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich deutet die Diskussion um antisemitische Kunstwerke auf der Documenta 15 als Symptom eines sich wandelnden Kunstbegriffs. An die Stelle des unabhängigen Werkes tritt mehr und mehr die Vorstellung einer vernetzten, situativen Kunst, die ein soziales Anliegen vermittelt.

„Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts war es in der Kunstwelt nicht mehr so dramatisch wie heute“: Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich / Felix Adler
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Autoreninfo

Tilman Asmus Fischer studierte Geschichte, Kulturwissenschaft und evangelische Theologie. Er lebt und arbeitet als freier Journalist in Berlin. Die Themen seiner Arbeit verdanken sich einer sozialethischen Perspektive auf Politik und Zeitgeschehen.

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Wolfgang Ullrich ist Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler. In zahlreichen Büchern analysiert er das Ineinandergreifen von zeitgenössischer Kunst, Popkultur und öffentlichem Diskurs. Zuletzt erschien von ihm „Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie“.

Herr Ullrich, die diesjährige Documenta in Kassel fand vor allem wegen eines Antisemitismus-Skandals öffentliche Aufmerksamkeit. Hat die Debatte Sie überrascht?

Diese Documenta ist Ausdruck eines Paradigmenwechsels, der sicher auch als solcher gewollt war. Die international zusammengesetzte Findungskommission hat bewusst entschieden, mit Ruangrupa das erste Mal einem Kollektiv die kuratorische Verantwortung zu übertragen, zudem einem Kollektiv aus Indonesien. Das ist eine Region der Welt, wo man nicht mit dem westlich-modernen Verständnis von Kunst sozialisiert ist – und so auch nicht mit der dafür zentralen Idee autonomer Kunst. Damit war zumindest vorhersehbar, dass es zu größeren Konflikten kommen würde.

Was bedeutet denn die Idee autonomer Kunst konkret?

Seit Ende des 18. Jahrhunderts hat sich innerhalb der westlichen Kunstphilosophie die Überzeugung entwickelt, dass Kunst dann am wirkungsmächtigsten sein kann, wenn sie sich innerhalb der Gesellschaft nicht vernetzt, ja wenn sie nicht mit anderen Bereichen kooperiert, sondern sich möglichst rein für sich allein hält, sich also unabhängig von anderem, allein nach eigenen Kriterien und Ansprüchen entwickeln kann. Eine solche Kunst, die unkorrumpiert von äußeren Einflüssen entsteht, erreicht – so die Theorie – eine Art von Totalität, Reinheit oder Ganzheit. Damit soll sie aber zugleich diejenigen, die sie rezipieren und sich auf sie einlassen, reinigen oder von Einseitigkeiten und Idiosynkrasien befreien. In der konkreten Kunstentwicklung gab es freilich vor allem im 19. Jahrhundert auch etliche konträre Bewegungen, hier hat sich die Idee der Autonomie erst mit den Avantgarden voll durchgesetzt. 

Woran lässt sich das festmachen?

Zunächst einmal haben die Künstler versucht, sich von ihren klassischen Auftraggebern zu emanzipieren: von den Kirchen, politischen Machthabern und wirtschaftlichen Eliten. Dadurch wurde Kunst im Idealfall ein Feld, auf dem sich Werke ohne Rücksichtnahme auf irgendwas anderes ganz frei entwickeln können und dann einen Vorbildcharakter bekommen, aufgrund dessen sie in die Gesellschaft hineinwirken können. Das lässt sich etwa beim Bauhaus oder im Konstruktivismus beobachten. Zuerst einmal im Sinn von Grundlagenforschung entwickelte, formal hoch reflektierte Werkfolgen erfahren dann eine Anwendung in der Gestaltung von Alltagsobjekten.

Warum aber gibt, wie Sie angedeutet haben, die europäische Kunstwelt – und namentlich die Documenta – einem solchen Erfolgskonzept den Laufpass?

Seit dem späten 20. Jahrhundert lässt sich beobachten, dass sich die Autonomie-­Idee der Kunst offensichtlich erschöpft hat. In der Postmoderne, in der ein starkes Bewusstsein für Gleichheit und Gleichberechtigung existiert, störte man sich daran, dass der Kunst in der Moderne eine Sonderrolle zugetraut oder auch zugemutet wurde. Auf einmal fragte man, ob Kunst wirklich etwas aufgrund ihrer Autonomie gleichsam Höheres ist, der Profanität enthoben. Und wie sollte eine solche Sonderstellung zu begründen sein? Die Kritik an der Autonomie-Idee kam zuerst also aus dem westlichen Kunstbetrieb selbst. Inzwischen aber gibt es andere Entwicklungen, die zum Teil auch von außerhalb kommen und die das Autonomie-Paradigma schwächen. 

In Gestalt von Kollektiven wie Ruangrupa oder Taring Padi, das in seinem umstrittenen Wandbild antisemitische Stereotypen bedient?

Vielleicht etwas grundsätzlicher und weniger skandalisierend: Im Zuge der Globalisierung – und zwar sowohl der Globalisierung des Kunstmarkts wie auch der Globalisierung des Großausstellungsbetriebs – sind mittlerweile immer mehr Akteure in der Kunstwelt aktiv, die aus ganz anderen Traditionen als der des westlich-autonomen Kunstbegriffs kommen. Für sie ist es daher naheliegender, Kunst als etwas zu denken, das möglichst stark vernetzt ist in der Gesellschaft, um ganz unmittelbar in andere Bereiche hineinwirken zu können. Von Kooperationen verspricht man sich dann viel mehr als von Autonomie.

Also eine Rückkehr zu den Auftraggebern der vorautonomen Kunst – oder wer sind die Kooperationspartner von heute? 

Hier kann es zum einen um Kooperationen zwischen Kunst und NGOs mit einer aktivistischen Agenda gehen. Man denke an jemanden wie Ai Weiwei, aber auch an Künstler wie Virgil Abloh oder Kerry James Marshall, die in Zusammenhang mit der Black-Lives-Matter-Bewegung stehen. Auf der anderen Seite gibt es immer häufiger Kollaborationen von Künstlern mit Mode- oder Designlabels, aber auch global erfolgreiche Art Toys wie die Companions von Kaws, die in immer neuen Kooperationen mit berühmten Marken auf den Markt gebracht werden.

Im Falle der Documenta scheint es ja eher um politisch-aktivistische Kooperationen als um solche mit der Konsumwirtschaft zu gehen.

Durchaus. Kunst hat für Ruangrupa Bezüge zu unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Feldern, kann überall ansetzen und hineinwirken, hat etwas sehr Situatives. Kunst ist hier nicht unbedingt werkförmig, besteht also oft gerade nicht in auf Dauer und zur Betrachtung angelegten Artefakten. Dafür hat sie immer auch ein soziales Anliegen, ist oft mit einer Idee der Reparatur oder einer gesellschaftlichen Veränderung verbunden. Das wollte man jetzt im großen Stil hierher bringen … 

… was aber ganz offensichtlich nicht konfliktfrei funktioniert hat.

Das könnte daran liegen, dass man im Vorfeld nicht genug die Konsequenzen reflektiert hat, die aus dem neuen postautonomen Kunstbegriff folgen.

Inwiefern?

Wenn Kunst eng mit anderen Bereichen der Gesellschaft verbunden ist, dann wird sie eben auch so wie anderes im gesellschaftlichen Leben betrachtet und mit denselben Maßstäben bewertet, hat tatsächlich keinen Sonderstatus mehr. Gemäß einem postautonomen Begriff von Kunst werden Künstler somit genauso beurteilt wie Akteure aus den Bereichen, mit denen sie jeweils kooperieren. Wenn Kunst also nicht nur Kunst, sondern zugleich Mode, Design oder Aktivismus sein will, dann kann ein Künstler nicht mehr sagen, dass ihn Diskurse etwa über Nachhaltigkeit oder Gendergerechtigkeit, die in diesen anderen Bereichen geführt werden, nicht interessieren. Vielmehr muss er sich, zumal wenn er zugleich in einem kunstfremden Bereich eine Rolle spielen will, auch auf die dort relevanten Diskurse und Ansprüche einlassen.

 

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Muss man also in Anlehnung an Wortschöpfungen wie „gerechte Sprache“ bald auch von „gerechter Kunst“ sprechen – oder von „nachhaltiger Kunst“?

Nehmen wir den Aspekt der Nachhaltigkeit: Noch vor zehn Jahren hätte ein Ausstellungskurator auf die Frage, ob es nicht ökologischer Wahnsinn sei, nur für ein paar Wochen und für ein paar Tausend Besucher Tonnen von Material um die halbe Welt zu fliegen, geantwortet, dass es doch um die Kunst gehe. Die Frage wäre also als spießig und kleingeistig zurückgewiesen worden. Das ändert sich jetzt. Die Ökobilanz einer Ausstellung, eines Ausstellungshauses wird zunehmend Gegenstand der Diskussion. Und es gibt erste Reaktionen darauf. So lädt etwa der Berliner Gropius Bau inzwischen außereuropäische Künstler für längere Zeit als „Artists in Residence“ ein, statt sie nur kurzfristig für Vernissagen und Finissagen einfliegen zu lassen. Oft geht es aber auch um Debatten, in denen Verantwortung, Sensibilität und Gerechtigkeit im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Deshalb sind jetzt auf einmal ganz unterschiedliche Themen voll im Kunstbetrieb angekommen. Es wird also etwa problematisiert, wie Frauen lange Zeit dargestellt wurden oder wie Minderheiten dargestellt oder auch gar nicht sichtbar werden.

Aber bedeuten solche externen Ansprüche an Kunst nicht einen schleichenden Prozess der Einschränkung von Kunstfreiheit?

In dem Moment, in dem man der Kunst keine Sonderrolle mehr zugesteht und diese selbst von immer mehr Künstlern abgelehnt wird, wird man sagen müssen: Kunst hat sich genauso an Standards der Zivilisiertheit und Höflichkeit zu halten wie alles andere auch. Und wie ein Modeunternehmen einen Shitstorm bekommt, wenn es sich etwa von einer unterdrückten Kultur etwas aneignet und das dann als High Fashion vertreibt, so bekommt nun eben auch ein Künstler einen Shitstorm, wenn er gegen moralische Konventionen verstößt.

Dann zeigt jedoch der Fall Documenta, dass das in beide Richtungen gilt: Ebenso wie „kulturelle Aneignung“ durch westliche Designer oder Künstler problematisch wird, müssen sich außereuropäische Künstler bei einer Kunstausstellung in Deutschland mit den hiesigen „Codes“ auseinandersetzen, zu denen eben auch die Ächtung von Antisemitismus gehört. Oder ist das etwa zu „politisch korrekt“ gedacht?

Nein, das ist es nicht. Allerdings ist zu konstatieren, dass nicht alle in der Kunstwelt bereit sind, diesen Paradigmenwechsel mitzumachen. Einige – Künstler, Sammler, Galeristen – bekennen sich weiter zur Autonomie-Idee und fühlen sich jetzt natürlich angegriffen, bedroht, unterdrückt, gecancelt, als Opfer der Political Correctness oder wie auch immer die Formulierungen dann lauten. Diese sind aber gerade Ausdruck davon, dass Kunst auf einmal eine andere Rolle in der Gesellschaft einnimmt. Man kann einerseits sagen: dank der vielfältigen Vernetzungen und Kooperationen eine größere, zentralere Rolle, weil sie jetzt viel sichtbarer ist, an viel mehr Orten der Gesellschaft auftaucht als bisher, ja weil sie mehr Menschen erreicht. Aber man kann andererseits auch sagen, dass sie an Bedeutung verloren hat, weil sie keinen Sonderstatus mehr hat, ja weil Sonderrechte für sie zunehmend merkwürdig und unzeitgemäß erscheinen, Sonderrechte, die in Deutschland in gewisser Weise bis ins Grundgesetz gelangt sind, in dem die Kunstfreiheit ja eigens von der Meinungsfreiheit unterschieden wird. Daraus leiten einige Künstler bis heute ab, dass sie gegenüber anderen Menschen privilegiert sind.

Liegt dann aber nicht die Pointe der Documenta-Debatte darin, dass hier Vertreter des traditionellen autonomen Kunstbegriffs absolute Kunstfreiheit für Künstler und Kunstwerke einfordern, die selbst einem postautonomen Kunstverständnis verpflichtet sind und die für sich selbst niemals einen solchen Sonderstatus in Anspruch nehmen würden, sondern sich selbst vielmehr als gesellschaftlich involviert und engagiert verstehen?

Das hat wirklich eine gewisse Ironie. Und es gab in dieser Debatte tatsächlich noch ein paar, die in der alten Logik argumentiert und gesagt haben: „Kunstfreiheit über alles – da müssen wir jetzt eben auch antisemitische Bilder ertragen.“ Sie unterstellen, dass es sich bei dem Wandbild von Taring Padi um ein Kunstwerk westlichen Verständnisses handelt – zwar gesellschaftskritisch wie bei Otto Dix oder Jörg Immendorff, aber mit dem Gestus autonomer Kunst und in der Erwartung gemalt, dass es allein in für Kunst frei gehaltenen Räumen, allein für ein rezeptionserfahrenes Kunstpublikum sichtbar wird und daher auch nur mittelbar, gleichsam in reflektierter Form auf den politischen Diskurs einwirken kann. Dies aber geht am Selbstverständnis eines Künstlerkollektivs wie Taring Padi vollkommen vorbei, das gerade keine autonomen Kunstwerke schaffen will, sondern die eigene Arbeit als politischen Aktivismus, als unmittelbaren Protest versteht. Dann aber kann man auch nicht in Anspruch nehmen, unwidersprochen provozieren, grenzenlos polemisieren zu dürfen, ja dann muss man auf radikal-absolutistische, autonomieselige Formeln wie „Kunst muss wehtun“ oder „Kunst darf keine Kompromisse eingehen“ verzichten. 

Damit obliegt dann aber nicht nur Künstlern wie Taring Padi, sondern auch Kuratoren wie Ruangrupa oder den Veranstaltern eine hohe Verantwortung.

Ja – und daher wird auch mit gewissem Recht gefordert, dass die Verantwortlichen die Werke im Vorfeld einer Ausstellung wie der Documenta daraufhin sichten, was für Empfindlichkeiten und Verletzungen sie auslösen könnten. Ähnliches gilt auch für die diesjährige Biennale in Berlin und den dortigen Fall von Abu-Ghraib-Bildern, die in einer Arbeit von Jean-Jacques Lebel groß präsentiert werden. Hier beklagen Leute aus dem Irak, dass nur noch einmal vorgeführt wird, wie brutal sie gequält wurden. Beide Beispiele zeigen, dass jetzt auf verschiedenen Feldern immer wieder der gleiche Typ von Konflikt aufkommt: Die einen stehen auf dem Standpunkt, die Kunstfreiheit erlaube das, während andere fragen, ob eine bestimmte Form von Provokation überhaupt konstruktiv oder nicht vielmehr diskriminierend ist. Sie wollen wissen, ob und wann es denn etwa ein Gewinn sein kann, andere auf eine Opferrolle zu reduzieren. Und das ist wirklich eine interessante Frage. 

Ist dann das hierzulande gängige Konzept von Kunstfreiheit noch zeitgemäß?

Also in der Form, wie es von manchen Autonomievertretern als Sonderrecht interpretiert wird, würde ich sagen: nein! Zeitgemäß ist es jedoch insofern, als man damit daran erinnert, dass Kunstwerke einen anderen Charakter als irgendwelche Meinungsäußerungen haben. Es handelt sich um Bilder, Performances oder anderes, das immer auch einer Interpretation durch die Rezipienten bedarf und das damit nicht so funktioniert wie ein einfacher Aussagesatz. Dass man also zwischen einer Meinung und einem Werk unterscheidet und für beides eigens definiert, was die grundgesetzlich garantierte Freiheit meint, halte ich für wichtig  – nicht zuletzt mit Blick auf Kunst, die unter den Bedingungen des westlich-modernen, autonomen Kunstverständnisses entstanden ist oder immer noch entsteht.

Das Grundgesetz wird aber doch landläufig so verstanden, als gestehe es der Kunst mehr Rechte als anderem zu.

Ich bezweifle, dass das von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes wirklich so intendiert war. Neben der Kunstfreiheit wird ja auch die Wissenschaftsfreiheit in Artikel 5.3 geregelt. Das Grundgesetz unterscheidet Kunst- und Wissenschaftsfreiheit von der Meinungsfreiheit meiner Auffassung nach allein deshalb, weil ein Kunstwerk beziehungsweise eine wissenschaftliche Theorie andere Manifestationsformen sind als alltägliche propositionale Aussagen. Und weil die Geschichte gelehrt hat, dass diese Formen, zumindest solange sie neu sind, oft für Verwirrung sorgen und starken Widerständen ausgesetzt sind. Daher bedürfen sie besonderen Schutzes. Würde man das nun aber so deuten, dass Künstler und Wissenschaftler mehr Rechte, mehr Freiheiten haben als andere Menschen, wäre das ein Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtsgleichheit.

Müssen wir uns also künftig auf ein Ende der Autonomie von Kunst und dem überkommenen weiten Verständnis ihrer Freiheit einstellen?

Natürlich ist nicht von einem Tag auf den anderen – und auch nicht von einem Jahrzehnt auf das andere – jegliche Autonomie verschwunden. Aber das 200 Jahre hier im Westen unumschränkt herrschende Bild von Kunst wird jetzt doch sehr brüchig oder gerät in die Defensive. Hier ist also etwas in Bewegung geraten; es ist ein extrem spannender Moment, den wir gerade erleben. Ich würde sogar sagen: Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts war es in der Kunstwelt nicht mehr so dramatisch wie heute.

Das Gespräch führte Tilman Asmus Fischer.

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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