Zur Debatte um „kulturelle Aneignung“ - Die Menschheitsfamilie wird getrennt

Alles, was lebt, verändert sich – kopiert, immigriert und dockt irgendwo an. Der Vorwurf der kulturellen Aneignung verkennt unter anderem, dass Kulturen wie Subkulturen immer schon dazu neigten, sich gegenseitig zu kannibalisieren.

Der Jazzmusiker Miles Davis bei einem Konzert in der Wiener Stadthalle im Jahr 1969 / picture alliance
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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März 1961. Im Columbia Studio in New York sitzen fünf meistenteils schwarze Männer auf Hockern und leicht angeranzten Campingstühlen herum und improvisieren zunächst noch schläfrig über einige Blues Scales. Irgendwann, nachdem sie bereits einen melancholischen Track namens „Pfrancing“ und eine weitere, eher abgedämpfte Nummer mit Namen „Drad Dog“ eingespielt haben, erklingt wie aus einem Hinterhalt der vorwärtstreibende Pulsschlag einer gezupften Basssaite: bum-bum-bum-bum.

Hinzu kommt der leicht klirrende Sound eines Schlagzeugbeckens, gespielt von Jimmy Cobb, einem damals 32-jährigen Hardbop-Drummer, der in den 1940er-Jahren sogar mal mit Billy Holiday auf der Bühne gestanden haben soll. Bum-bum-bum. Spannung liegt in der verrauchten Studioluft. Und dann plötzlich, nachdem auch noch Wynton Kelly zunächst noch zaghaft ein paar auf Moll heruntergetunte Kadenzen ins Piano gehauen und den Groove auf Dreivierteltakt heruntergekühlt hat, legt der Trompeter los: Wie aus dem Nichts dreht sich sein Instrument hoch; eine zärtlich aufjaulende Sirene.

40 Sekunden sind bis zu diesem Moment bereits vergangen. Dann stellt der Mann, den alle Welt als „Mr. Cool“ kennt, seine ersten Sound-Bits in die Stille des noch heute legendären Columbia Studios in Manhattans 30. Straße. Er spielt sie so, als wären diese leicht wackelnden Töne nicht das Intro zu einem weiteren unvergesslichen Jazz-Evergreen, sondern der Ausläufer einer schwülen Wetterfront, die bald ganz Amerika erfassen sollte.

Eine Provokation für viele weiße Amerikaner

„Someday My Prince Will Come.“ Eigentlich eine Liebesschnulze aus dem Walt-Disney-Zeichentrickfilm „Schneewittchen und die sieben Zwerge“. 1937 hatte das Stück der weiße Filmkomponist Frank Edwin Churchill der glockenklaren Stimme einer gewissen Adriana Caselotti auf den Leib geschrieben. In dieser unvergesslichen Version von Miles Davis aber, dem Geburtshelfer der schwarzen Coolness Amerikas, ist es eine Mischung aus Unschuld und schwüler Erotik geworden.

Für viele weiße Amerikaner war das gleichnamige siebte Studio-Album, das Davis damals mit seinem Quintett für Columbia eingespielt hatte und das wenige Monate später in die Läden kam, eine Provokation. Ein schwarzer Musiker hatte es hier doch tatsächlich „gewagt“, die Klangwelten einer weißen Märchenidylle anzufassen. Ja, mehr: In einer Mischung aus Voodoo und musikalischer Alchimie schien er Schneewittchens Scham in gefährlich echt klingenden Eros transponiert zu haben. Und auch die Vermarktung des von dem Armenier George Avakian produzierten Albums war wie eine Umkehrung des wohlsortierten Zeichenhaushalts der weißen Mehrheitskultur.

Das Schneewittchen auf dem Cover von „Someday My Prince Will Come“ nämlich war nicht weiß wie Schnee, es war – um im Märchenbild zu bleiben – schwarz wie Ebenholz. Mit hochgezogenen Augenbrauen und frei gelegter Schulterpartie lächelte auf der Plattenumhüllung das Gesicht der schwarzen Tänzerin Frances Taylor in die Kamera. Die war eine zu jener Zeit nicht ganz unbekannte Broadway-Tänzerin, die durch Leonard Bernsteins „West Side Story“ berühmt geworden war und die später sogar zur ersten afroamerikanischen Ballerina im Pariser Opern Ballett avancieren sollte.

Ein „Schneewittchen of Color“ auf dem Cover

Eine Prinzessin also, die Nachfahrin einstiger Sklaven war, wurde hier von einem Bebop-Prinzen aus East St. Louis hofiert, der gerade erst wieder mal wegen Heroinbesitzes aus dem Gefängnis freigekommen war. Was für eine Provokation! Und das mitten im Amerika der frühen 1960er-Jahre – einem von Rassenunruhen aufgewühlten Land, das noch drei Jahre auf den erlösenden „Civil Rights Act“ warten musste. Vier Jahre vor dieser legendären Recording-Session im Columbia Studio waren Frances Taylor und Miles Davis ein Paar geworden. Und die Art, wie er sie auf dem Cover wie ein „Schneewittchen of Color“ präsentierte, glich dem, was der amerikanische Musikjournalist Ira Gitler kurz darauf über das gesamte Album schreiben sollte.

„Someday My Prince Will Come“, nicht nur für Gitler war diese Adaption weißer Populärkultur durch einen der bekanntesten schwarzen Trompeter der USA „süß und sauer“ in gleicher Weise. Es war voller Ironie, aber ebenso war es reich an bitterem Spott; es hatte Leichtigkeit und Verspieltheit, spiegelte aber zugleich auch die Ernsthaftigkeit und Schwere, die die von der weißen Mehrheitsgesellschaft nicht gerade gehätschelten Jazzkünstler erleben mussten, wenn sie auf die Straßen des von Rassentrennung geteilten Landes traten. Wenn er ein weißer Musiker gewesen wäre, soll Davis in dieser Zeit einmal zu Frances Taylor gesagt haben, dann wäre er in seiner Karriere vermutlich viel weiter gekommen.

War „Someday My Prince Will Come“ also die Appropriation einer anderen, weil vornehmlich eben weißen Kultur, mit der „Blackbird“ Miles Davis hier in vollkommen fremden Gefilden unterwegs war? Waren Schneewittchen, Frank Edwin Churchill und die alte Liebesschnulze in F-Dur von ihm vielleicht angeeignet, ja sogar geklaut worden, um sie der eigenen Sache einzuverleiben? Oder war es nicht vielleicht sogar normal, dass in einem sogenannten Schmelztiegel wie den USA die Zeichen und Codes immer wieder derart wild durcheinandergingen, dass längst nicht immer auszumachen war, wem nun genau die Blue Notes und wem die Naturtonreihen, wem die reine Quinte und wem die „Flatted Fifth“ gehörte?

Immerhin war ja sogar der Jazz selbst letztlich aus einem impulsiven Crossover aus Swing, Spiritual, Gospel und der klassischen europäischen Liedform geboren worden. Und nicht zuletzt in der Besitzergreifung von ursprünglich auch Fremdem war er vollkommen und endgültig zu sich selber gekommen.

Kultur als Einbahnstraße von oben nach unten?

In seinem Buch „Ethik der Appropriation“ weist der deutsche Kulturjournalist Jens Balzer daher darauf hin, dass gerade die massenbegeisternde Popkultur – und in diese war der Jazz allem Gerede von einer „amerikanischen Klassik“ zum Trotz ja eingemeindet – stets von der Aneignung des Unbekannten und von der Einverleibung des je anderen gelebt habe.

Balzer erwähnt in diesem Zusammenhang aber ein auf den ersten Blick vollkommen anderes Beispiel: die sogenannten „Minstrel Shows“, eine Art musikalisches Straßentheater, für das zu Beginn des 19. Jahrhunderts weiße Schauspieler in die Rolle von Schwarzen geschlüpft waren. In diesem Akt hohnlachender Metamorphose schminkten sie sich mit einer Paste aus verbranntem Kork und Wasser ihre Gesichter schwarz („blackfacing“), um im Schutz der Maskerade jegliche Stereotype auf die Bühne zu bringen, die sich ein vornehmlich weißes nordamerikanisches Arbeiterpublikum von den Sklaven in den Südstaaten erzählte.

Der bis heute wohl bekannteste Minstrel-Darsteller war in diesem Sinne der New Yorker Sänger Thomas D. Rice. Mit seinem angeblich einem schwarzen Stallknecht abgelauschten Song „Jump Jim Crow“ wurde der nicht nur in den USA über Nacht berühmt; während einer Europatour Ende der 1830er-Jahre soll Rice auch jenseits des Atlantiks wie ein früher Popstar gefeiert worden sein. Rice gab den „dummen August“ mit schwarz eingefärbtem Gesicht. Seine Erfolgsgeschichte, so zumindest Jens Balzer, zeige daher, „wie kulturelle Aneignung kommerziell wirken kann. Weiße Musiker und Schauspieler eignen sich die Kultur der schwarzen Sklaven an und werden damit zu erfolgreichen, wohlhabenden Künstlern, während jene, die ihnen die Inspiration […] liefern, davon nicht nur nichts haben, sondern auch noch parodiert und verhöhnt werden.“
 

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In dieser Lesart ist das, was man heute als „Cultural Appropriation“ bezeichnet, in den letzten Jahren immer wieder neu beschrieben und als Phänomen einer vornehmlich weißen Herrschaftskultur meistenteils auch verurteilt worden: Kulturelle Aneignung, so heißt es immer wieder in Zeitungsartikeln, in Buchbeiträgen oder innerhalb von zumeist linken Aktionsgruppen, sei im Kern ein Akt der Verhöhnung und der erneuten Ausbeutung der historisch ohnehin immer wieder Ausgebeuteten.

Die Politologin und Migrationsexpertin Deborah Krieg etwa schreibt in diesem Sinne in ihrem 2019 erschienenen Essay „Alles nur geklaut“, dass kulturelle Aneignung in feindlicher Absicht immer auch „historische Ausbeutungsbeziehungen, Machtgefälle und Übergriffe“ fortschreibe. Auf diese Weise, so Krieg, würden Elemente der Kultur einer anderen Gruppe – Kleidung, Musik, Schmuck, Symbole – übernommen oder kopiert. So verstanden wäre „Cultural Appropriation“ also stets und in jedem Fall eine Art semiotische Einbahnstraße.

Auf der vermeintlich falschen Seite der Geschichte

In Fortschreibung kolonialer Repressionsbeziehungen müssten unter „Cultural Appropriation“ stets nur jene leiden, die qua ethnischer oder kultureller Zugehörigkeit auf der vermeintlich falschen Seite der Geschichte geboren wurden. Sie wären es dementsprechend auch, deren Ausdrucksweisen von einer Herrschaftskultur folklorisiert, infantilisiert, romantisiert oder exotisiert, die pathologisiert oder essenzialisiert würden. Und doch, diese Lesart sollte hinterfragt werden.

Nicht nur nämlich definieren Autoren wie die US-amerikanische Bürgerrechtlerin und Juristin Susan Scafidi das Phänomen der „Cultural Appropriation“ wesentlich weiter – für Scafidi fällt unter kulturelle Aneignung bereits jegliche Übernahme von intellektuellem Eigentum oder von kultureller Ausdrucksweise eines anderen, egal in welchem Machtverhältnis diese Individuen oder Gruppen zueinander auch stehen mögen.

Auch zeigen Geschichten wie eben die von Miles Davis, dass der Zeichentransfer ebenso von schwarz nach weiß wie von unten nach oben verlaufen kann. Denn ist nicht auch sein „Someday My Prince Will Come“ in gewisser Weise ein semiotischer Angriff auf jene Mittelschichtsspießigkeit, der Adriana Caselotti mit ihrem weltberühmten Schneewittchen-Song ihre fiepsende Unschuld eingeschrieben hatte? Und wurden nicht auch bei Miles Davis der ursprüngliche Sinn und die Bedeutung des Disney-Liedes wenn nicht ignoriert, so doch mindestens spielerisch umkreist und persifliert? Niemand aber würde das ernsthaft problematisieren wollen. Im Gegenteil: That’s what Jazz is all about …

Verschiebung von Styles, Codes und Signifikanten

Diese Form des Code-Shiftings, von Aneignung und Umkehrung aber, so hat es zumindest den Anschein, wird gerade von jenen gerne übersehen, die die Lehre von den flüchtigen Zeichen für ihre politische Zwecke einspannen und die für Aneignungsprozesse, die von unten nach oben verlaufen, lieber von Akkulturation oder Assimilation sprechen. Dabei ist vollkommen offensichtlich, dass es von jeher das Lebenselixier jeglicher Popkulturen gewesen ist, sich über zumeist spielerisch genutzte Phänomene wie Zitat, Sample, Fusion oder Mashup zu verjüngen oder gar ganz neu zu erfinden.

Man mag das moralisch mögen oder eben nicht, aber Kulturen wie Subkulturen neigen dazu, sich gegenseitig zu kannibalisieren. Sprachverdrehung wie Stilverkehrung sowie die Einverleibung artfremder Zeichensysteme sind der Stoff, mit dem sie sich in die je eigene Zukunft hinübergerettet haben. Die Geschichte der Popkultur ist somit immer auch als eine Geschichte der großen Zeichenverschiebungen zu lesen – Verschiebungen, die von jeher nach allen Seiten hin offen waren.

Das, was man im Hip-Hop etwa als „Signifying“ bezeichnet – also als oberflächliche Verschiebung von Styles, Codes und Signifikanten jeglicher Art, ist nie stilistische Ausnahme, es ist die innerste Regel von „Kulturation“. Und gerade in der schwarzen Jugendkultur, die sich im Akt der Einverleibung vermeintlicher Herrschaftssprache in genau diesem Sinne auch gerne selbst als „Ghetto-Kultur“ bezeichnet, ist derlei Verschiebung immer auch als ein politischer Akt der Emanzipation verstanden worden. Ein befreiendes Spiel mit der harten Semantik der Wirklichkeit.

So schrieb etwa der deutsche Journalist Ulf Poschardt in seinem 1995 erschienenem Buch „DJ Culture“ über einen solchen Kulturtransfer auf Ebene der Sprache – er hätte es aber auch genauso gut am Beispiel von Musik, Mode, Design oder sonstigen Ausdrucksformen von Rap, Hip-Hop oder Jazz schreiben können: „Das schwarze Signifying versucht, Sprache aus der Eindeutigkeit der weißen Herrschaft zu reißen und die Wörter in einen neuen Kontext zu werfen, um zu sehen, was dann noch überlebt. Signifying ist Spiel und gleichzeitig Selbstsetzung, die über den Gewinn einer eigenen Sprache Selbstbewusstsein schafft.“

Romantischer Reinheitszwang

Nicht einmal 30 Jahre ist dieser Satz heute alt. Doch irgendwie scheint mit dem Spiel längst Schluss zu sein. Die Debatte um kulturelle Aneignung nämlich hat aus vollkommen fluiden Formen statische Objekte werden und Kulturen so Stück für Stück aushärten lassen. Die „Family of Men“, gestern noch ein gern gesehenes Patchwork, das gerade vonseiten der Linken möglichst offen und plurizentristisch zu denken war, ist auseinandergerissen worden. Und das Gerede um Aneignung und Appropriation hat einen eigentümlichen Reinheitszwang in die Debatte gebracht.

Ein Feld von Homogenität und Sauberkeit ist eröffnet, das wenig auf Realitäten, dafür aber auf romantischen Bildern von eben diesen Realitäten fußt. Es war der deutsche Dichter und Philosoph Johann Gottfried Herder, der bereits 1774 in seiner Epoche machenden Schrift „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ erstmals den Gedanken aufbrachte, dass man sich Kultur – ein Begriff, der in jener späten Phase des 18. Jahrhunderts überhaupt erst populär geworden ist – als eine in sich geschlossene und homogene Kugel unter Dutzenden anderen Kugeln denken müsse.

„Jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt“, so Herder, der mit diesem vielgliedrigen Sphärenmodell erstmals das bis weit in Romantik und Biedermeier, am Ende aber leider auch bis in den Nationalsozialismus reichende Konzept einer Nationalkultur formulierte, die in der Vorstellung Herders zu einer „zweiten Genesis des Menschen“ beitragen könne. In diesem Ansatz aber gab es keinen Platz für Vermischung. Jedweder Transfer über die Grenzen einer einzelnen Kulturkugel hinaus war schier undenkbar und Reinheit nach innen wie nach außen gebotene Notwendigkeit.

Es sind romantische Zerrbilder. Doch gerade die werden dieser Tage wieder brandaktuell: Denn wenn jetzt bis zum Tezett darüber gestritten wird, ob man sich zu Fasching noch als Inder oder gar Indianer kostümieren dürfe und westliche Esoteriker dafür angeprangert werden, sollten sie sich indische Philosophie oder gar taiwanesische Buddha-Plastiken ins Haus holen, wenn das woke Missy Magazine darüber fabuliert, ob Weiße denn noch Dreadlocks tragen sollten und am Ende sogar Tribal Tattoos, ja die kulinarischen Genüsse „beim Chinesen“ von nebenan zum moralischen No-Go erklärt werden, dann haben Herders Kulturkugeln wieder größte Aktualität.

Man sollte sich daher zunächst und vor allem darüber verständigen, welche Kulturen es denn eigentlich genau sein sollen, die in den oben benannten und in unzähligen weiteren Fällen angeblich angeeignet oder gar verhöhnt und missbraucht, am Ende vielleicht sogar verzerrt werden. Schnell dürfte man dann erkennen, dass es weder eine einheitliche chinesische Küche noch einen seit den Tagen Siddhartha Gautamas durchgängigen Buddhismus gegeben hat. Alles, auch das vermeintlich noch so andere und Entfernteste, lebt eben nur von Entwicklung, von Übergang und von Transfer. Und oft ist längst hier, was man im Rahmen eines kulturellen Ordnungszwangs ganz woanders vermutet hatte.

Wie dem Faust’schen Pudel der Scolast

So sind, um nur eines der oben genannten Beispiele noch einmal aufzugreifen, die östlichen Techniken von Meditation und Versenkung nicht erst durch den Kolonialismus des 19. Jahrhunderts oder durch spätere Grenzgänger wie Karlfried Graf Dürckheim oder Hugo Lassalle von Asien aus gen Westen gelangt, es waren bereits christliche Wüstenväter, die über Alexandria – einem Melting Pot der Antike – buddhistische Denkweisen appropriiert und ins frühe Christentum integriert haben.

Alles, was lebt, verändert sich eben – kopiert, immigriert und dockt irgendwo an. Und es ist wohl nicht ganz ohne Ironie, wenn nun gerade jene, die sonst eher um die Abschaffung und Auflösung der ethnologischen Sammlungen Europas bemüht sind, mit dem Pranger der Appropriation alles abtöten und musealisieren, was irgend noch lebt und nach dem anderen strebt. Und doch: Die Mortifizierung, ja die Abtötung jeder Prozesshaftigkeit und kulturellen Fortentwicklung scheint der Debatte um „Cultural Appropriation“ von Anfang an innegewohnt zu haben, wie dem Faust’schen Pudel der Scolast.

Schaut man sich nämlich genauer an, wie seit den frühen 1980er-Jahren der Gedanke einer „Cultural Appropriation“ als Wurmfortsatz eines noch älteren Diskurses um kulturellen Kolonialismus in die Welt kam, so fällt auf, dass es bei dem großen Geraune über ent- und angeeignete Kulturen zunächst und vor allem nicht um ästhetische, semiotische oder soziale, sondern um vordergründige Eigentums- oder Rechtsfragen ging. Kultur, das ist im Verständnis derer, die das Denkmodell von der verdammenswerten „Cultural Appropriation“ in den letzten Jahren immer weiter vorangetrieben haben, eben gerade nicht mehr das lebendig Organische; Kultur ist in dieser Lesart zum Marx’schen Warenfetisch verkommen, zum entseelten und starren Objekt, das sich allenfalls noch über seinen Tauschwert definieren ließe.

Ein Mensch aus Fleisch und Blut

In diesem Sinne definiert etwa auch die oben bereits zitierte Deborah Krieg „Cultural Appropriation“ als einen Akt, bei dem „die Anerkennung von Urheberschaft und Leistung oder eine angemessene Beteiligung an Erfolgen und Profiten versagt bleibt“. Und die Encyclopedia Britanica spricht von kultureller Aneignung u. a. dann, wenn „ein Mitglied einer Mehrheitsgruppe finanziell oder sozial von der Kultur einer Minderheitengruppe profitiert“.

Würde man Kultur in diesem Sinne also vornehmlich auf Eigentums- und Copyrightaspekte reduzieren, so dürfte irgendwann auch der Letzte die immer enger werdende Sackgasse bemerken, in die die Debatte hineingerät. Denn seitdem die aufkommende bürgerliche Gesellschaft im 18. Jahrhundert das geistige Eigentum als ein schützenswertes Gut entdeckte, war Urheberschaft stets etwas, was sich mit einer natürlichen Person, also mit einem Menschen in seiner Rolle als Rechtssubjekt, beschäftigt hat.

Schöpfer konnte demnach immer nur ein Mensch aus Fleisch und Blut, keinesfalls aber eine ganze Ethnie oder eine Kultur sein. Zwar verhandelt die Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) mit ihren 185 Mitgliedsstaaten seit 2001 über mögliche Schutzmaßnahmen für traditionelles Wissen, traditionelle kulturelle Ausdrucksformen sowie genetische Ressourcen, eine Einigung zwischen den Verhandlungspartnern konnte bis dato aber nicht gefunden werden.

Am Ende droht die Agonie

So bleibt am Ende vielleicht eine tragische, aber sicherlich erhellende Pointe: Lediglich einmal nämlich ist es bis dato gelungen, die Rechtsstellung des Werkschöpfers zugunsten einer Gemeinschaft zurückzudrängen: in der Zeit des Nationalsozialismus. In der damaligen Konzeption für ein neues Urheberrecht ging man davon aus, dass ein Urheber zwar Schöpfer eines Werkes, der Akt der Schöpfung aber nur möglich sei, da der Schöpfer Teil der Gemeinschaft sei, aus deren kulturellem Fundus er schöpfe.

„Wo immer die Interessen des Volkes mit denen des Urhebers kollidierten, sollten letztere zurücktreten“, schreibt in diesem Sinne der Bayreuther Jurist Simon Apel in einem Aufsatz über das Urheberrecht im Parteiprogramm der NSDAP. Und: „Er [der Urheber, d. Verf.] hatte bei der materiellen Verwertung seiner schöpferischen Leistung stets die ‚natürlichen Grenzen‘ zu beachten, die ihm durch seine ‚ideelle Verbindung mit der Volksgemeinschaft‘ gezogen wurden.“

Hitlers Hausphilosoph Alfred Rosenberg hatte es zuvor einmal so formuliert: „Kunst ist immer die Schöpfung eines bestimmten Blutes.“ Vielleicht braucht es ja zuweilen die Erinnerung an den absoluten Tiefpunkt einer Debatte, um einen Irrweg zu verlassen. Eines nämlich ist ganz gewiss: Wo Kultur nicht mehr hybrid und durchlässig ist, droht am Ende die Agonie.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Cicero-Buch „Die Wokeness-Illusion - Wenn Political Correctness die Freiheit gefährdet“, erschienen im Verlag Herder (2023). 

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