Kultur nach Corona - Nichts bleibt, wie es war

Die Klassik freut sich auf die erste Saison nach Corona. Doch ist die Unsicherheit ist groß: Gibt es überhaupt noch ein Publikum für all die vielen Konzerte und Opern? Was planen die Häuser, was wollen sie ändern? Ein Überblick der Trends, Themen und Namen, die 2021/2022 wichtig werden.

Premiere im Autokino wegen Corona: Die Staatsoper Berlin zeigt Puccini auf dem Tempelhofer Flugplatz / David Baltzer
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Autoreninfo

Axel Brüggemann ist Musikjournalist und lebt in Bremen. Zuletzt erschien der von ihm herausgegebene Band „Wie Krach zur Musik wird“ (Beltz&Gelberg-Verlag)

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Das Ende der Selbstverständlichkeit prägt die kommende Klassik-Saison. Vorbei die Gewissheit, dass Bach, Beet­hoven oder Brahms Teil der Kulturnation Deutschland sind. Viele Künstlerinnen und Künstler fühlten sich während der Pandemie im Stich gelassen – von der Politik, aber auch vom Publikum. Soloselbstständige kämpften mit dem Existenzminimum, viele sattelten vom Musikstudium auf den Mjam-Bringdienst, vom Orchestergraben auf Gorillas um. Und jetzt, da Konzerthallen und Opernhäuser wieder öffnen, soll plötzlich alles weitergehen wie immer?

Der Bayreuth-Heldentenor Stefan Vinke stand in den letzten beiden Sommern nicht auf den Bühnen großer Festivals, sondern trat in seinem Garten auf. Gemeinsam mit seiner Frau organisierte er private Wagner-Abende nach geltenden Corona-Regeln: Siegfried neben dem Schildkrötengehege und Hunding im Hasenstall. Ob er Angela Merkel auf dem roten Teppich am Grünen Hügel noch die Hand geben würde? „Es fällt mir schwer, nach all dem, was passiert ist“, sagt Vinke. Der Tenor war einer von vielen Künstlern, die von den ewig neuen und meist leeren Versprechen der Kulturstaatssekretärin Monika Grütters enttäuscht waren und davon, dass der Kulturbetrieb am härtesten von den strengen Corona-Maßnahmen getroffen wurde. 

Kritik an Corona-Maßnahmen

Bei den Opernfestspielen in Heidenheim leeren sich die Reihen. Obwohl das Abschlusskonzert unter freiem Himmel stattfand, waren die Stühle nur im Schachbrettmuster besetzt. Aber die Stimmung war gut. Endlich wieder Livemusik: Bizet, Verdi, Léhar auf grüner Wiese! Der Festspiel-Erfinder, Marcus Bosch, ist auch Chef der Konferenz der deutschen Generalmusikdirektoren.

Er steht im Backstage-Bereich, klopft seinen Musikern auf die Schulter und nippt an einem kühlen Bier. Bosch hat während der letzten Spielzeiten auf seinen Social-­Media-Kanälen keinen Hehl daraus gemacht, dass er die staatlichen Corona-Maßnahmen für übertrieben hält. „Ich glaube, man hätte sensiblere Lösungen finden können, zumal viele Häuser erstklassige Sicherheitskonzepte erarbeitet haben“, sagt er. „Aber unsere Mühe wurde viel zu oft ignoriert, was nicht zum Vertrauen zwischen Theatern und Politik beigetragen hat.“

Gespaltene Kulturlandschaft

Ähnlich sieht das Wiesbadens Intendant Uwe Eric Laufenberg. Er hatte sich in fast kindischer Wut mit seiner Landesregierung angelegt, als er – trotz Verboten – weiter proben ließ. Und an der Münchner Staatsoper rückte sogar die Polizei an, weil Intendant Nikolaus Bachler nicht einsehen wollte, dass er sein Haus schließen sollte. „Es ging darum“, sagt Bachler heute, „ein Zeichen zu setzen, dass die Kultur nicht zum willkürlichen Spielball der Politik werden darf. Dass es unsere Aufgabe als Künstler ist, Widerstand zu leisten, wenn wir es für nötig halten. Es war unsere Pflicht, dem Wahnsinn in dieser Zeit Paroli zu bieten.“

Nun, vor Beginn der neuen Spielzeit, zeigen sich noch ganz andere Risse in der deutschen Kulturlandschaft, besonders in der Balance zwischen freien Künstlern und großen Institutionen. Häuser wie das Theater Bremen haben am Anfang der Pandemie kurzerhand ihre Türen geschlossen. Während Intendant Michael Börgerding zu Hause eine Flasche Rotwein öffnete, beantragte er nebenbei Kurzarbeitergeld für seine Mitarbeiter und kassierte gleichzeitig weiter üppige Subventionen.

Aufkommende Fragen

All das, ohne zu spielen. Eine der erschreckenden Erkenntnisse der Corona-Saison war, dass subventionierte Kulturbetriebe viel rentabler sind (also weniger Schulden anhäufen), wenn sie geschlossen sind. Während einige Intendanten gegen jeden politischen Willen versuchten, den Spielbetrieb so lange wie möglich aufrechtzuerhalten, machten sich andere einen lukrativen Lenz. Immerhin haben Häuser wie Bremen ihre freiberuflichen Künstlerinnen und Künstler unbürokratisch abgefunden. Das sah an der Semperoper in Dresden oder am Opernhaus in Frankfurt anders aus. Hier kämpften viele Sänger frustriert gegen die Windmühlen des Stadttheatersystems, und es ging Vertrauen zwischen freischaffenden Künstlern und Intendanzbüros in die Brüche. Inzwischen steht die Frage im Raum: Wie fair ist das viel gerühmte deutsche Stadttheater-Prinzip wirklich?

Zu Beginn der neuen Spielzeit scheinen diese Kämpfe zunächst vergessen. Überall wird aufgeatmet. Endlich geht es wieder los! Die Deutsche Bühne, offizielles Magazin des Deutschen Bühnenvereins, jubelt auf einer Titelseite „Theater darf wieder Theater sein“ und freut sich auf „eine Spielzeit im Hoffnungsmodus“. Derartige Vorfreude übertüncht allerdings viele, viele Fragezeichen. Wird die Kulturpolitik nach der Bundestagswahl am Bekenntnis der Kultursubventionen festhalten? Wie sicher sind unsere Theater? Wie sicher unsere Radio-Sinfonieorchester? Wird es zu einer Post-Corona-Rezession kommen, und werden die Kultureinrichtungen am Ende die Zeche zahlen? Drohen weitere Fusionierungen, Schließungen oder heimliche Kürzungen wie derzeit beim Chor des NDR? Gibt es überhaupt noch ein Publikum für all die vielen Konzerte und Opern? Besteht genug Solidarität in der Bevölkerung?

Betrieb will nicht recht anlaufen

Wie labil die Klassik-Welt ist, zeigte sich an der Metropolitan Opera in New York. Kurzerhand hatte Intendant Peter Gelb das Opernorchester gefeuert, und Chefdirigent Yannick Nézet-Séguin tauchte weitgehend unter. In dieser Saison soll wieder gespielt werden, allerdings zu schlechteren Konditionen für die Musiker, und auch die Corona-Regeln wurden verschärft. Viele US-Klassik-Tempel lassen nur noch geimpftes Publikum und geimpfte Künstler rein, Kinder unter zwölf Jahren müssen leider kategorisch draußen bleiben und werden von der Kultur ausgeschlossen.

Auch in Deutschland mussten viele Orchester bereits Ende der letzten Saison feststellen, wie schwer es ist, Konzerte auszuverkaufen. Noch immer scheint die Angst des (oft alten) Publikums vor Ansteckungen groß. Viele haben in Zeiten von Corona gemerkt, dass ein Stream am Wohnzimmer-­Beamer auch Spaß machen kann und dass es spannende Alternativen zu Opern- und Konzertbesuchen gibt. Selbst die Berliner Philharmoniker haben sich schwergetan, ihre Tickets unter die Leute zu bringen. Und was wird aus den großen Konzerttourneen, die eine fixe Säule des Klassik-­Betriebs darstellen?

Lokale Verwurzelung

Nicht nur die internationalen Corona-Regeln, sondern auch eine immer lauter werdende Debatte um ökologische Spielregeln eröffnet die Frage, ob es in Zukunft zur Normalität gehören wird, dass die Wiener Philharmoniker in Peking, das Cleveland Orchestra in Berlin und die Pariser Philharmonie in Abu Dhabi spielen werden. Ganz zu schweigen, ob es sich für kleinere Ensembles wie die Bamberger Symphoniker, das Berliner Konzerthausorchester oder die deutschen Radioorchester überhaupt noch lohnen wird, auf Reisen zu gehen.

Im Backstagebereich in Heidenheim bauen Kräne bereits die Bühne der Opernfestspiele ab, und Marcus Bosch, der auch am Theater in Rostock engagiert ist, redet sich in Rage. Der Vorsitzende der Konferenz der Generalmusikdirektoren wird wütend, wenn er über Stadttheater spricht, die in der Pandemie einfach ihre Türen zugesperrt haben. Denn für Bosch ist die kulturelle Grundversorgung vor Ort ein Schlüssel für die zukünftige Legitimation der Häuser. „Ich bin sicher“, sagt er, „dass die regionale Verankerung von Orchestern eine wesentliche Bedeutung bekommen wird.“ Opern und Orchester bräuchten den Rückhalt in der Bevölkerung, glaubt Bosch, und die würde im Lokalen beginnen. „Wenn wir es nicht schaffen, die Menschen in unserer Stadt zu begeistern, wie sollen wir dann weltweit erfolgreich sein“, fragt er. 

Nähe zum Publikum

Ähnliche Gedanken treiben auch den Intendanten des Schleswig-Holstein-Musikfests, Christian Kuhnt, um. „Ich kann mir gut vorstellen, dass wir in Zukunft ein ökologisches Imageproblem bekommen werden, wenn wir für jede Beethoven-Sinfonie ein anderes Orchester irgendwo aus der Welt durch die Gegend fliegen.“ Auch für Kuhnt liegt die Zukunft eher in der regionalen Verankerung der Musik. „Wir erreichen die Menschen vor Ort, bringen die Musik ohne Dünkel zu den Menschen, und ich glaube, dass das ein Erfolgsmodell für die Zukunft sein wird.“ 

Tatsächlich scheint die neue Nähe zum Publikum ein Trend, besonders der Stadttheater und der lokalen Orchester von Kiel bis Augsburg, von Chemnitz bis Bonn zu werden. Als Dirigent Dirk Kaftan vor zwei Jahren zum Beethovenorchester ging, tat er das auch, weil er sich internationale Aufmerksamkeit durch das Beethovenjahr 2020 erhofft hatte. Als das weitgehend ins Wasser fiel und nicht einmal mehr Proben möglich waren, haben Orchester und Dirigent kurzerhand als Helfer im Impfzentrum angeheuert und so ihre lokale Bedeutung bewiesen. Auch Kaftan weiß, „dass die regionale Verankerung die Grundlage für den Erfolg eines jeden Orchesters sein muss“.

Salzburger Flop

Dass die neue Klassik-Saison eher regional statt international sein wird, muss kein Nachteil sein. Zumal selbst die großen Festivals gezeigt haben, dass das Prinzip der Weltstars als Selbstzweck ausgedient hat. Bei den Salzburger Festspielen hatte Intendant Markus Hinterhäuser auf international bekannte Modekünstler gesetzt, auf den Feuilleton-Pianisten Igor Levit, den medienaffinen Dirigenten Teodor Currentzis, den opulenten Ausstattungsregisseur Roberto Castellucci oder auf Weltstar-Diva Anna Netrebko. Currentzis kam mit plumper Provokation, Levit absolvierte Dienst nach Vorschrift. Und Netrebkos „Tosca“ war enttäuschend, auch weil die Sängerin inzwischen den Dirigenten (Marco Armiliato) und ihren Tenor-Partner (Ehemann Yusif Eyvazov) selbst bestimmen kann. 

Das Salzburger Publikum war enttäuscht, Netrebko rauschte, ohne Autogramme zu geben, durch den Hinterausgang ab und untersagte anschließend die Ausstrahlung der Aufzeichnung beim ORF und auf Arte. Der eher maue Festspielsommer in Salzburg hat auch gezeigt, dass derjenige, der auf den fahrenden Zug springt, nicht gleichzeitig die Lokomotive lenken kann. Oder anders: Die Zukunft der Klassik liegt weniger im ewigen Aufwärmen des Alten als im Mut zum Abenteuer des Neuen. Auch deshalb ist die kommende Saison gerade für die Salzburger Festspiele ein Schlüsseljahr: Die langjährige Festspiel-Präsidentin Helga Rabl-Stadler, die Intendant Hinterhäuser mit mütterlicher Fürsorge in den letzten Jahren fast erdrückt hat, gibt ihr Amt auf – wer ihr nachfolgt, wird auch über den Kurs der Festspiele mitbestimmen. Eine Entscheidung soll im Spätherbst fallen.

Gegen die Dezibelisierung

Einen Trend für die Zukunft der Klassik könnte der Dirigent Franz Welser-Möst gesetzt haben, der – unbeirrt vom Salzburger Allerlei – ausgerechnet durch schwere Kost (etwa seine Salzburger „Elektra“) begeistert. Vor Saisonbeginn hat er sich in seine Bibliothek am Attersee zurückgezogen, um neue Partituren zu studieren. Der Dirigent sitzt an einem großen Holztisch, um ihn herum Bücher auf zwei Etagen, hinter dem Fenster spiegelt sich die Sonne im See. In seiner (mit dem Autoren dieses Textes verfassten) Autobiografie „Als ich die Stille fand“ macht sich Welser-Möst ernsthaft Sorgen um die Zukunft der Klassik. „Ich bin der festen Überzeugung“, sagt er, „dass die Spirale des zur Schau gestellten Spektakels längst überdreht ist. Wir leben in einer Zeit der Dezibelisierung: Wer am lautesten ist, wird am ehesten gehört. Doch gerade die Musik kann gegen diesen Trend steuern, den Aufschrei in der Stille erlauschen und für die Tiefe der Dinge begeistern.“ 

Damit ist Welser-­Möst eine Art Anti-Currentzis. Für ihn geht es darum, in Zukunft „eine neue Ernsthaftigkeit“ zu behaupten. „Ich bin sicher, dass die Begeisterung, das Wissen und die Details die Zukunft der Musik eher ausmachen werden als die aufgeregte Dauerbeschallung.“ Die Saison 2021/2022 wird sicherlich auch ein ideologisches Duell zwischen aufgedrehten Showdirigenten wie Currentzis und Leisetönern wie Welser-Möst.

Die Innovativen

Diesen Sommer waren es ausgerechnet die Bayreuther Festspiele, die den Trend des Neuen bereits gesetzt haben. Der „Fliegende Holländer“ mit der (von Welser-Möst entdeckten) Sopranistin Asmik Grigorian war ein Erfolg, in der kommenden Saison setzt Intendantin Katharina Wagner ihre Hoffnungen auf den jungen „Ring“-Regisseur Valentin Schwarz. Und danach auf die Fortsetzung der experimentellen Theaterwerkstatt Bayreuth durch den Professor des renommierten Massachusetts Institute of Technology, Jay Scheib, der im „Parsifal“ durch „Augmented Reality“ (computergestützte erweiterte Realität) Wirklichkeit und Virtualität miteinander verbinden wird. Gegen so viel Innovation sieht die Konkurrenz in Salzburg aus wie ein sattes, blattgoldenes Mozartkugel-Museum.

Doch derartige Innovation wohnt nicht jedem Neuanfang dieser Saison inne. Kirill Petrenko wird nun endlich „richtig“ als Chef der Berliner Philharmoniker beginnen und dabei mit Komponisten der „Lost Generation“ für Aufhorchen sorgen. Auch er steht, ebenso wie Franz Welser-Möst, für die „musique pour la musique“. Doch ansonsten setzen auch die Berliner auf gerade angesagte Klassik-­Moden. Neben den Altmeistern Daniel Barenboim, Simon Rattle und Zubin Mehta werden Gustavo Gimeno und Antonello Manacorda ihre Philharmoniker-Debüts geben. Dass Filmlegende John Williams das Orchester dirigieren wird, sieht dagegen eher wie eine Kopie des letztjährigen Erfolgskonzepts der Wiener Philharmoniker aus, wo der „Star Wars“-Vertoner bereits im goldenen Musikvereinssaal debütierte. Auch Geigerin Patricia Kopatchinskaja als Artist in Residence verortet man eher kniend, schmachtend und schrammelnd vor den Füßen von SWR-Dirigenten-Guru Teodor Currentzis als in der Berliner Philharmonie.

Die nicht so Innovativen

Überhaupt scheinen viele große Häuser und Orchester noch immer die Sicherheit im Bekannten zu suchen. Die Wiener Philharmoniker werden ihr Neujahrskonzert mit Daniel Barenboim bestreiten, dessen Premieren-Bilanz an der Berliner Staatsoper eher mau ausfällt. Und der zuletzt durch einen weiteren cholerischen Ausfall auffiel, als er einen Hornisten des West Eastern Divan Orchestra auf offener Bühne zusammenfaltete. 

Überhaupt scheinen die großen alten Meisterdirigenten derzeit gern in Nostalgie zu schwelgen. Riccardo Muti unterstellte dem musikalischen Nachwuchs in einem Interview, uninspiriert zu sein. Dass das Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks nun noch einmal mit Simon Rattle als neuem Chefdirigenten in die Saison geht, ist alles andere als innovativ. Sein Programm erinnert an eine Neuauflage seiner am Ende sehr zähen Berliner Zeit, in der vor allen Dingen englische Komponisten und Rattles Ehefrau, Magdalena Kozena, im Vordergrund standen. Vielleicht wären die Münchner mit ein wenig mehr Mut besser gefahren.

Die Komische Oper

Alte Regie-Haudegen sollen es auch bei Ex- Platten-Boss Bogdan Rošcic richten, der die Wiener Staatsoper leitet. In seiner ersten (Pandemie-)Spielzeit schleppte er bereits Calixto Bieitos über 30 Jahre alte „Carmen“ an die Donau, diese Saison überlässt er seinem neuen Chefdirigenten Philippe Jordan so ziemlich jede große Premiere. Und auch Wiens Regisseure sind lang gediente Revoluzzer-Männer: Calixto Bieito übernimmt Wagners „Tristan“, Simon Stone Bergs „Wozzeck“ und Barrie Kosky Mozarts „Don Giovanni“.

Für Barrie Kosky ist die Gastregie in Wien schon so etwas wie Teil einer neuen Freiheit. In Berlin geht er als Intendant der Komischen Oper in die letzte Runde. An einen echten Rückzug denkt Kosky aber nicht. Die Leitung des Hauses hat er einfach an seine geschäftsführende Direktorin Susanne Moser und seinen Operndirektor Philip Bröking vererbt und erhebt den Anspruch, selber noch als Regisseur am Haus tätig zu bleiben. Ein Abschied ohne Servus, und ein Problem, wenn es um die Nachfolge des Chefdirigentenpostens geht. Viele namhafte Maestri und Maestrae haben der Komischen Oper bereits einen Korb gegeben: zu wenig Gestaltungsspielraum im Schatten der zukünftigen Dreierriege. Besonders Dirigentinnen wollen nicht als machtlose Quotenfrauen in der Hauptstadt verbrannt werden. Es könnte sich als Gefahr für die Komische Oper herausstellen, dass Kosky sie nicht halten, aber auch nicht loslassen will. Neuanfang geht anders.

Festanstellung nicht mehr angestrebt

Den wird es definitiv an der Münchner Staatsoper geben. Jahrelang wurde sie von Kirill Petrenko an der Seite von Intendant Nikolaus Bachler geprägt. Während Petrenko sich nun um Berlin kümmert, wird Bachler in den kommenden Spielzeiten am Umbau der Salzburger Osterfestspiele arbeiten und sich ein Konzept für die Zeit nach Christian Thielemann überlegen. Sein Nachfolger in München, Serge Dorny, ist für seine Eitelkeit bekannt, das Spielzeitmotto scheint eine seiner innersten Sehnsüchte widerzuspiegeln: „Jeder Mensch ist ein König.“ Dorny kredenzt dem Publikum Stücke des 20. Jahrhunderts und will „den Zuschauern mehr abverlangen“. Dabei setzt auch er (wie schon Wien und Salzburg) auf den inflationär gebuchten Superstar Teodor Currentzis. Wirklich spannend werden aber wohl eher die Münchner Dirigate des neuen Musikdirektors Vladimir Jurowski.

Jurowski ist – neben Rattle – der wohl prominenteste neue Chefdirigent dieser Saison. Ein Großteil der neuen Klassik-Welt scheint sich derzeit ernsthaft die Frage zu stellen, wie erstrebenswert Festanstellungen in Führungspositionen (besonders an kleinen oder mittelgroßen Stadttheatern) noch sind. Die Dirigentin Joana Mallwitz hatte angekündigt, ihren Chefposten als Generalmusikdirektorin in Nürnberg zu räumen.

Opern-Ochsentour

Offiziell, weil sie als Familienmutter „neue Schwerpunkte“ setzen wolle. Aber auch der ewige Kampf mit Gewerkschaften, Betriebsräten und Lokalpolitikern raubt viel Zeit, die bei der musikalischen Arbeit fehlt. Dass Mallwitz ausgerechnet beim Berliner Konzerthausorchester anheuert, wo sie Christoph Eschenbach beerbt, scheint auf den ersten Blick nur wenig Sinn zu machen, außer, dass ihr dieses Engagement Freiheit vom alltäglichen Stadttheaterkampf bringt. Es ist auffällig, dass sich immer mehr junge Dirigentinnen und Dirigenten gegen die alte Opern-Ochsentour entscheiden.

Auch eine der vielversprechendsten Dirigentinnen, die erste Kapellmeisterin der Deutschen Oper am Rhein, Marie Jacquot, wird ihren Vertrag auslaufen lassen – bislang ohne neues, festes Ziel, aber zu hören bei vielen großen Orchestern. 

Der Wille nach Freiheit

Bremens Musikdirektor, der junge israelische Dirigent Yoel Gamzou, hat sich ebenfalls bewusst gegen eine Vertragsverlängerung entschieden. Er sitzt in der Pariser Nationalbibliothek und studiert die Partitur des „Freischütz“, den er in Essen dirigieren wird. „Mir geht es um das Abenteuer“, sagt er, „darum, auf Musiker zu treffen, die mit aller Leidenschaft an einem gemeinsamen Projekt arbeiten. Ich will kein Mittelmaß, ich will brennen – ich will die unbedingte Leidenschaft und Hingabe.“ Gamzou wird in dieser Spielzeit mit seinem Dirigat von „Die sieben Tode der Maria Callas“ unter anderem in Paris und Berlin zu hören sein.

Auch Dirigent Marcus Bosch beobachtet den neuen Trend nach Freiheit schon länger, nicht nur bei den Pultstars. „In der Pandemie haben viele Musiker die Sicherheit genossen, die ihnen große Orchester gegeben haben“, sagt er, „aber ich beobachte auch, dass viele in diesen großen, oft unbeweglichen Strukturen nicht mehr das bekommen, was sie von der Musik erwarten: Freiheit, Begeisterung und Experimente.“ 

Aufregende Junge

Allerdings gibt es durchaus noch aufregende Dirigenten, die sich bewusst zu großen Ensembles bekennen. Der 26-jährige Österreicher Patrick Hahn sieht aus wie ein Philipp Amthor der Klassik, klimpert zum Aufwärmen schon mal den Satire-Song „Musikkritiker“ von Georg Kreisler und besticht vor großen Orchestern durch Temperament und Klugheit. Er wird das Theater in Wuppertal als jüngster Generalmusikdirektor durch eine sehr spannende Saison führen und ist gleichzeitig erster Gastdirigent beim Münchner Rundfunkorchester.

Ähnlich aufregend dürfte es in Paris zugehen, nicht weil der saturierte Dirigent Gustavo Dudamel die Oper übernimmt, sondern weil der 26-jährige Finne Klaus Mäkelä das Orchestre de Paris als neuer Musikdirektor in die Zukunft bringt. Der einstige Cellist ist sicherlich einer der ganz großen Hoffnungsträger der Zukunft.

Ein entscheidendes Jahr

Die kommende Klassik-Saison ist ein Wendepunkt. Viele Häuser setzen nach der Krise auf Altbewährtes, andere haben den Mut für einen vollkommenen Neuanfang. Eine der größten Fragen der nächsten Jahre wird es sein, ob die großen, durch Steuern oder Rundfunkgebühren finanzierten Strukturen von Sinfonieorchestern die Nach-Corona-Zeit überleben werden. Dafür sind viel Mut und viel Leidenschaft nötig. 

An der Fassade freut sich die Klassik-Welt, dass es endlich wieder losgeht. Aber hinter den Kulissen ist vielen klar, dass es ein „Weiter so“ nicht geben kann. Die Saison 2021/2022 ist auch ein Prüfstein für die Zukunft der klassischen Musik, die in diesem Jahr viel Mut, viel Neues und viel Abenteuer auf die Bühne stellen will. Dafür müssen die Konzerthäuser und Bühnen aber erst einmal geöffnet bleiben.

 

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

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