
- Wagners Wutbürger
Der Wagner-Erklärer Stefan Mickisch ist tot. Es gab nur wenige Nachrufe, dabei könnte sein verrücktes Leben unsere verrückte Welt erklären. Eine Reflexion über Bürgerlichkeit, Tabubruch und die Nähe von Gutem und Bösem.
Für ein ordentliches Mitglied eines der weltweiten Wagnerverbände gehörte es zum guten Ton, zur Sommerfrische nach Bayreuth zu pilgern, in die Stadt des „Meisters“, für ein Bad in erquickenden Leitmotiv-Wonnen. Wenn man eine der raren (Ende der neunziger Jahre gab es noch eine elfjährige Wartezeit) Festspielkarten ergattert hatte, wurden Ehegattin und Töchterlein eingepackt, und es wurde für den großen Rausch gelitten. Der Bayreuther Morgen wurde mit einem zackigen „Wach auf!“ begrüßt, der „Grüne Hügel“ bestiegen und Steiß und Wirbelsäule auf dem hölzernen Festspielmöbel auf die Probe gestellt. Kühle Labung und Katharsis verhieß allein das Rheinwasser, das in Fis-Dur aus dem Orchestergraben rauscht.
Zum guten Wagner-Ton gehörte es auch, den zentral gelegenen Goldenen Anker oder das holzgetäfelte Landhotel in der Fränkischen Schweiz vormittags zu verlassen, um vor dem Operngenuss im Festspielhaus jenem kleinen Manne zu lauschen, der mit seinen abgegriffenen, mit Bleistift bekritzelten Klavierauszügen und den mit gelben Post-its tapezierten Büchern am Flügel des Evangelischen Gemeindehauses in Bayreuth Platz genommen hatte und mit wildem Schopf, oberpfälzischer Schnauze und begeistert flinken Fingern dem Publikum erklärte, dass Wagner kein Nazi, sondern eher „ein rot-grüner Pirat“ gewesen sei, warum er wo welche Tonart notierte und welches der 261 Leitmotive er aus welchem Grunde an welcher Stelle bemühte.