Kleine Fluchten in der Krise  - 1. Mai: Der Kampftag des Spargelschälers 

Den morgigen 1. Mai begeht unser Genusskolumnist höchst traditionell. Aber nicht auf einer Maikundgebung des DGB, sondern mit ein paar Freunden im Garten, mit Spargel, Merguez, Salat und Wein.   

Bitte nicht holzig, und nur mit Kartoffeln und Butter: frischer Spargel / dpa
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Autoreninfo

Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Auch diesmal heißt es „Heraus zum 1. Mai“. Aber die alte Losung der Arbeiterbewegung bedeutet für mich schon lange nicht mehr, auf die traditionelle Kundgebung des DGB zu gehen. Gestelzte Reden, die angesichts multipler Krisen immer hilfloser klingen, ein zumeist zweifelhaftes „Kulturprogramm“ und der allgegenwärtige Geruch nach angekokelten Bratwürsten üben auf mich wenig Anziehungskraft aus. Wobei letzterer inzwischen mitunter auch von veganen Bratwürsten kommen kann, denn die „Woken“ sind längst auch beim DGB auf dem Vormarsch.

Nicht auf die Straße, sondern in den Garten

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„Heraus zum 1. Mai“ heißt für mich in der Regel, schon einen Tag vorher in meine Datsche nach Wandlitz zu fahren, um ein möglichst entspanntes und fröhliches Treffen mit ein paar Freunden vorzubereiten. Mein „Kampftag des Spargelschälers“ ist inzwischen – ähnlich den DGB-Kundgebungen – zum unveränderlichen Ritual geworden. Es gibt Spargel (natürlich nur mit Kartoffeln und Butter), dazu größere Mengen trockenen Silvaner. Dann kommen die Merguez auf den Grill, dazu einen frischen „rot-grünen“ Salat, in dem traditionell auch frisch gepflückter Löwenzahn aus dem Garten verarbeitet wird. Dazu Rotwein, den die Gäste mitbringen. Und da ich einen gewissen Ruf als Weinkritiker habe, traut sich schon lange niemand mehr, einen üblen Dumpftropfen mitzubringen.

Was essen eigentlich Arbeiter?

Zu Spargel und Merguez wurde auch in dieser Kolumne schon alles gesagt, was es dazu zu sagen gibt. Also wenden wir uns dem Feiertag der Arbeiterklasse zu, was immer das heutzutage auch sein mag. Da stellt sich natürlich die Frage, ob es so etwas wie eine klassenspezifische Ess- und Genusskultur gab und gibt. Ja, die gibt es natürlich, meint der Ernährungssoziologe Daniel Kofahl. Denn wer hart arbeitet, „der kommt nicht mit einem kleinen Salätchen oder halben Portiönchen durch den Tag, sondern es muss und darf ruhig was Kräftiges sein“. Das betreffe nicht nur die körperlich-physiologische Komponente. „Auch der Stress an der Front des Arbeitslebens, etwa von Pflegekräften direkt am multimorbiden Patienten, von Erziehern direkt am lärmenden Kind, vom Kunststoffschlosser direkt am Material und so weiter, dieser Stress muss ausgeglichen werden. Da helfen plumpe Diättipps wegen dem einen oder anderen Speckröllchen wirklich niemanden“, so Kofahl weiter. Die „reichhaltig-deftigen Gerichte oder die süß-sahnigen Süßspeisen, die dem Klassengeschmack der (richtig) arbeitenden – nicht ,irgendwas mit Gender’ – Bevölkerung entsprechen“ seien „den kleinen, moralisch oder gesundheitlich reduzierten Speisen des Establishments insofern überlegen, als dass sie es sind, die einem das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen“.

Ernährungssoziologe beklagt Verfall der Kochkultur

Allerdings gebe es in den letzten Jahrzehnten eine tragische Entwicklung in der Esskultur der Arbeiter, beklagt der Soziologe. „Denn war das Handwerk der Kochkunst stets etwas, das natürlich auch in den Arbeiter- und Arbeitnehmermilieus gepflegt und tradiert wurde, so ist der Verlust der Kochkompetenz auch hier merklich.“ Der Hang zum fertig produzierten Junkfood sei nicht von der Hand zu weisen. Da müsste dringend interveniert werden: „mit einer kulinarischen Bildung, die sich eben auch am Klassengeschmack des arbeitenden Teils der Menschen orientiert, an deren Traditionen und deren Bedürfnissen“. In diesem Sinne proklamiert Kofahl: „Heraus zum 1. Mai, aber auch heran an den Herd und anschließend an die voll gefüllten Teller! Es gilt wie bei erfolgreichen Tarifverhandlungen: Auf unsern Teller passt noch mehr und auch Kompott muss hinterher!“

Die Lage ist bedrückend - Genuss muss trotzdem sein

Wobei man natürlich nicht vergessen sollte, dass ein größer werdender Teil der Bevölkerung in materiellen Verhältnissen lebt, die schlicht dazu zwingen, nur noch das Allerbilligste zu kaufen oder im schlimmsten Fall auf das angewiesen zu sein, was von der Überflussproduktion als Almosen bei den „Tafeln“ landet und dort verteilt wird. Und derzeit spricht nichts dafür, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern könnte – im Gegenteil. Und für diesen Teil der Bevölkerung ist kaum Platz in der Gewerkschaftsbewegung und auf ihren 1.-Mai-Kundgebungen. Die schrumpfenden DGB-Gewerkschaften stehen ja sogar bei ihrer Hauptaufgabe, der materiellen Sicherung für ihre Kernklientele, angesichts der galoppierenden Inflation mit dem Rücken zur Wand. Niemand hat sich träumen lassen, dass der Corona-Krise quasi übergangslos eine noch viel gravierendere Krise folgen könnte: ein Krieg mitten in Europa, dessen Folgen noch gar nicht absehbar sind.

Die sozialen und soziokulturellen Schieflagen in unserer Gesellschaft sollten keinesfalls Anlass zu Ignoranz, Überheblichkeit oder gar Verachtung der Prekarisierten sein. Aber auch die permanente moralische Selbstgeißelung, weil es einem – vielleicht nur ein klein bisschen – besser geht, hilft nicht weiter und könnte schnurstracks in eine Depression führen. Falls irgendwie möglich, sollte daher auch am 1. Mai gelten: Genuss ist Notwehr!

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