Dirigent Yoel Gamzou - Alles ist richtig, auch das Falsche

Yoel Gamzou ist einer der unkonventionellsten Dirigenten der Gegenwart – vielleicht, weil er alle Konventionen so gut kennt. Für ihn gibt es nur eine Musik, die ihn interessiert: Rock, Pop, Klassik, Folk, Country - Hauptsache gut.

Yoel Gamzou bei einem Konzert in Halle an der Saale / picture alliance
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Autoreninfo

Axel Brüggemann ist Musikjournalist und lebt in Bremen. Zuletzt erschien der von ihm herausgegebene Band „Wie Krach zur Musik wird“ (Beltz&Gelberg-Verlag)

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Er trägt John Lennons Brille, John Lennons Frisur, und sein Regenbogen-T-Shirt hätte der Beatle wohl auch getragen. Aber der Mann, der in der Aula der Bonner Uni auf dem Podium tanzt, das Orchester antreibt und in der Pause Tee trinkt, ist kein Popstar. Er ist Dirigent. Vier Uraufführungen hat er sich für heute Abend vorgenommen. Dazu Beethovens fünftes Klavierkonzert und die fünfte Symphonie. Ein Vier-Stunden-Mammut-Programm in drei Teilen mit zwei Pausen. Ein Marathon, den man nicht mit jedem Orchester machen kann. Auch deshalb hat Yoel Gamzou sich ein eigenes Orchester angeschafft. Als Musikdirektor am Theater Bremen hatte er keine Lust mehr auf Bürokratie, hat seinen Vertrag nicht verlängert, dirigiert seither freiberuflich und erfolgreich in Wien, Hamburg oder Paris. Und nun sein eigenes Orchester: oneMusic. Weil es für ihn nur eine Musik gibt, die ihn interessiert: Rock, Pop, Klassik, Folk, Country – Hauptsache gut. 

Nach fünf Minuten mit Yoel Gamzou weiß man, dass dieser Mann in kein Zeitungsporträt passt. Er entzieht sich jeder Form. Das fängt schon im Kaffeehaus an. Er bestellt Eiskaffee und Tonic Water. „Nacheinander?“, fragt der Kellner. „Nein, ruhig zusammen.“ Dann schaltet der Dirigent sein Handy aus – ein altes, orangenes Nokia ohne Touchscreen. 

So retro wie modern, so begeistert wie chaotisch

Gamzou ist so retro wie modern, so begeistert wie chaotisch. Er hatte schon Mal ein eigenes Orchester, das internationale Mahler-Orchester. Um Mahlers „Werten und Idealen wirklich gerecht“ zu werden, wie er sagt. Am Theater Bremen dirigierte er Opern wie „Rosenkavalier“ und „Tote Stadt“, aber auch (und trotz der Skepsis des Intendanten) einen John-Lennon-Abend, den Gamzou selber arrangiert hat. Die Show wurde zum Renner. Kollegen, die ihn warnten, nannte er Snobs. „Ist es nicht so, dass es eine Zeit gab, da der Pop die eigentliche moderne und klassische Musik als Innovationsfaktor abgelöst hat?“, fragt Gamzou. Und dann holt er die ganz große Keule raus: „Das Problem der Neuen Klassik ist, dass wir keine gute Musik mehr haben. In der Malerei gibt es Leute wie Gerhard Richter – aber kennen Sie einen Komponisten wie Gerhard Richter?“ 

Diese Komponisten sucht er nun für Bonn mit seinem Orchester oneMusic. Sie heißen Marshall McDaniel, Florian Kovacic oder Andrew Creeggan, sind Hippies aus LA, schräge Bohemiens aus Wien oder kanadische Sonderlinge – keiner von ihnen schreibt Musik wie Wolfgang Rihm. „Freaks locken Freaks an“, sagt Gamzou und freut sich. Einer seiner Komponisten kopiert Mahler-Schwelgereien, der andere programmiert Computer-Überwältigungsmusik, der nächste Filmmusik-Elemente. „Kitsch“, rufen Kritiker. Aber das Publikum ist begeistert! 

 

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Als Jugendlicher hat Gamzou tagelang in der Nähe des Bahnhofs seines großen Idols, des italienischen Dirigenten Carlo Maria Giulini, campiert, um am Ende eine zehnminütige Audienz zu bekommen. Schließlich wurde er zweieinhalb Jahre lang der einzige Schüler des Dirigenten. „Giulini war ein musikalisches Vorbild, aber auch als Mensch. Der Einzige, dem ich vertraute, weil er mir nicht das Richtig und Falsch der Musik erklärte“, schwärmt Gamzou, „sondern mir andauernd nur Fragen stellte, damit ich mein Richtig und Falsch finden konnte.“ Bis heute ist genau das für den jungen Dirigenten das wichtigste Handwerkszeug eines Musikers. 

Gamzou wurde in Israel geboren. Hin- und hergeschoben zwischen der Mutter, dem Onkel und verschiedenen Internaten, floh er mit 15 Jahren nach New York. „Ich bin nicht gläubig“, sagt er, „und will nicht auf dem jüdischen Ticket fahren. Meine Jugend und meine Religion sind höchstens Teil meiner Biografie, deren Ergebnis eigentlich sehr viel Psychoanalyse sein müsste.“ Aber statt sich auf die Couch zu legen, macht Gamzou Musik. 

Seine wichtigste Regel ist, dass es keine traditionelle Regel geben sollte, dass wir die Kategorien von „Richtig“ und „Falsch“ immer wieder neu befragen sollten. Egal, um welche heiligen Rituale es sich handelt. Für Gamzou ist es ein Zeitgeistphänomen, dass gerade in der Kunst neuerdings wieder Sicherheit gelehrt wird. „Wie viele junge Musiker und Regisseure gibt es, die technisch perfekt sind, sich an jede Regel der Hochschule halten. Sie tun das, um nicht angreifbar zu werden. Aber am Ende gibt es nichts Falscheres und Langweiligeres, als alles immer ‚richtig‘ zu machen.“ 

 

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