Kate Bushs „Running Up That Hill” - Armutszeugnis für den Zeitgeist

Seit drei Wochen steht sie auf Platz 1 der britischen Charts, in Deutschland auf Platz 4: Kate Bush mit „Running Up That Hill“. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn der Song nicht 37 Jahre alt wäre. Seinem späten Triumph verdankt er der Netflix-Serie „Stranger Things“. Allerdings sagt uns das auch viel über die Popkultur unserer Zeit und damit über unsere Gesellschaft.

Sängerin Kate Bush ist mit ihrem Song „Running Up That Hill“ aus dem Jahr 1985 an die Spitze der britischen Charts gestürmt. /dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Wir schreiben das Jahr 1985. Ein gewisser Michail Gorbatschow ist im März zum Generalsekretär der KPdSU gewählt worden. Bundeskanzler Helmut Kohl besucht mit US-Präsident Ronald Reagan den Soldatenfriedhof von Bitburg. Richard von Weizsäcker hält am 8. Mai seine berühmte Rede zum 40-jährigen Kriegsende. Und in London und Philadelphia steigt Live Aid, das bisher größer Benefizkonzert der Popgeschichte.

Mitten hinein in diese wirren Ereignisse, die nach Stillstand und Zukunft, Gestern und Umbruch zugleich schmecken, intoniert, säuselt und zwitschert ein glasklarer, vier Oktaven umfassender Sopran: „See if I only could/I′d make a deal with God/And I'd get him to swap our places/Be running up that road/Be running up that hill/With no problems“.

Nein, das hatte nichts mit Reagan zu tun und mit Kohl schon mal gar nicht, nicht mit Weizäcker oder Live Aid. Eigentlich gab es nichts, womit dieser Song etwas zu tun hatte. Nicht mit dem Synthie-Pop jener Zeit, nicht mit New Wave oder gar dem Punk zehn Jahre zuvor. Dass dennoch kein geringer als Johnny Rotten einen Song für die Autorin des Stücks schrieb, zeigt, welch Stellung sie in der Branche hat. Ihr Name: Kate Bush.

Moden waren ihr egal

Kate Bush ist ein Solitär. Nie hat sie sich um irgendwelche Musiktrends geschert. Nie ist sie dem Zeitgeist hinterhergelaufen. Moden waren ihr egal. Allenfalls das Klassische genoss erkennbar ihre Achtung und Anerkennung. Zugleich, oder gerade deshalb, war sie hochgradig innovativ. Sound, Produktion, Technik, Medien: Bushs Werk strotzt vor Experimentier- und Innovationsfreude. Und weil das Herumgebastel an den Tonspuren Zeit kostet, Studiozeit aber teuer ist und nicht alle Studios über das neueste Equipment verfügen, baute sie ihr eigenes.

Um die Musikbranche und ihre Verwertungsindustrie hat sie sich entsprechend wenig gekümmert. Kate Bush ging unbeirrbar ihren Weg. Zurückgezogen lebt sie mit ihrem Ehemann auf einem Anwesen in Oxfordshire, angeblich. Nichts Genaues weiß man nicht. In Presseberichten der 80er Jahre erzählten Journalisten von geheimnisvollen Presseempfängen auf abgelegenen Schlössern. Auftritt der Diva: ungewiss. So entstand schließlich der Mythos von der geheimnisvollen, zurückgezogenen Exzentrikerin. Vermutlich wollte sie einfach nur ihre Ruhe haben.

Aufgewachsen ist Cathrine Bush in einer künstlerisch ambitionierten Arztfamilie. Die Mutter begeisterte sich für die Folkmusik ihrer irischen Heimat. Man musizierte gemeinsam und veranstaltet Hausmusikabende. Mit elf spielt die kleine Cathy Klavier und Geige und nimmt Gesangsunterricht. Ihr Bruder John ist mit David Gilmour befreundet, dem Gitarristen von Pink Floyd, und lädt diesen ein, seiner kleinen Schwester heimlich beim Üben ihrer selbst komponierten Songs zu lauschen. Gilmour ist so angetan, dass er mit Cathy ein Demotape aufnimmt und ihr so einen Plattenvertrag bei der EMI verschafft. Der Beginn einer Weltkarriere. Kate Bush ist damals 18 Jahre alt.

1978 erscheint ihre erste Single

Doch Kate Bush wäre nicht Kate Bush, wenn sie umgehend ein Album eingespielt hätte. Stattdessen geht sie nach London, nimmt Gesangs- und Tanzunterricht und arbeitet an ihren darstellerischen Möglichkeiten. 1978 war es dann so weit. Die Single „Wuthering Heights“ erschien, basierend auf Motiven des gleichnamigen Romans von Emily Brontë. Der Song wird umgehend die Nummer 1 der britischen Verkaufscharts und damit der erste von einer Frau komponierte, geschriebene und zugleich interpretierte Song, der diese Platzierung erreichte. Schnell wurden zwei Longplayer produziert. Genug Material war vorhanden.

Doch Bush war genervt vom Drängen der Plattenfirma, gründete ihren eigenen Verlag und ihr eigenes Management. 1985 erschien dann ihr fünftes Studioalbum: „Hounds of Love“. Darauf die Hits „Running Up That Hill“ und „Cloudbusting“.

Dass „Running Up That Hill” nun, 37 Jahre nach seiner Veröffentlichung und mit Hilfe der Netflix-Serie „Stranger Things“, auf Platz 1 der Singlecharts landet, zeigt zunächst, was für einen großartigen Song Bush hier vorgelegt hat. Das merkt man daran, dass die Produktion kaum gealtert ist. Das Stück wirkt kein bisschen gestrig. Die einen oder anderen Spielchen mit dem Fairlight CMI würde man heute vermutlich unterlassen, und auch über die LinnDrums ist die Zeit hinweggegangen, aber der Song verkraftet das mühelos. Und nein, mit Gender hat der Text nichts zu tun, im Gegenteil. Es geht um die Unmöglichkeit, den Blickwinkel des eigenen Geschlechts zu verlassen.

Armutszeugnis für die Popmusikbranche

Auf der anderen Seite ist der Erfolg von „Running Up That Hill” auch ein Armutszeugnis für die Popmusikbranche. Unvorstellbar, dass ein Lied des Jahres 1948 sich im Jahr 1985 so problemlos in die damalige Musiksprache eingefügt hätte. Doch seit den 2000er Jahren stagniert der Pop weitestgehend. Stattdessen jagt ein Revival das nächste, Coverversionen geben sich die Klinke in die Hand, Interpolation heißt das Zauberwort.

Dabei werden alte, erfolgreiche Songs für die junge Kundschaft von Spotify und Co. neu aufgelegt. Das Verfahren erinnert an die in der Filmbranche überhandnehmende Marotte, alte Filmstoffe neu zu verfilmen. Die Gründe sind immer dieselben: Mangelnder Mut, Einfallslosigkeit und Geldgier.

Dass ausgerechnet Kate Bush, also eine der sperrigsten und kreativsten Künstlerinnen ihrer Zeit, durch eine Laune nostalgieverliebter Serienmacher wieder in die Charts gespült wird, ist dabei nicht ohne Ironie. Und es ist eine Mahnung an eine Gesellschaft, die träge und einfallslos geworden ist und diese Trägheit auch noch für Fortschritt hält.
 

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