Identitätspolitik - Das Spiel mit der Empörung

Wenn der Aufschrei das Argument übertönt, findet eine Veränderung der Öffentlichkeit statt, die regressive Tendenzen hat. Das ist die Strategie der Identitätspolitik. Ihr Machtkern liegt in dem Dogma, dass den Gefühlen der Opfer absolut geglaubt werden muss. Damit stellt sie sich radikal gegen die Ideale der Aufklärung.

Menschen bei einer Mahnwache gegen Rassismus und für ein Menschenrecht auf Asyl in Guben/Brandenburg nahe der deutsch-polnischen Grenze / dpa
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Autoreninfo

Bernd Stegemann ist Dramaturg und Professor an der Hochschule für Schauspiel (HfS) Ernst Busch. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschienen von ihm das Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ bei Klett-Cotta und „Identitätspolitik“ bei Matthes & Seitz (2023).

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In der Öffentlichkeit grassiert seit Jahren eine Mischung aus dauernder Erregung bei gleichzeitiger Angst vor dem Offensichtlichen. Ein Beispiel aus den Nachrichten der vergangenen Tage: Der weißrussische Diktator Lukaschenko betätigt sich als Menschenschmuggler, indem er Flüchtlinge an die Grenze zu Polen transportieren lässt. Das wäre das Offensichtliche. Die Nachrichten machen daraus jedoch eine Krise Polens, das an seiner Grenze zu Weißrussland europäische Werte verrät, da es Stacheldrahtzäune errichtet.

Wird die Nachricht so formuliert, entsteht eine Empörung, die das polnische Handeln und die Untätigkeit der EU bei der Verteilung der Flüchtlinge zum eigentlichen Skandal erklärt. Das Offensichtliche – Lukaschenkos Erpressung – wird von der Empörung – die Flüchtlinge werden nicht menschenwürdig aufgenommen – überdeckt. Anzuerkennen, dass Letzteres eine Folge der Erpressung ist, soll der Öffentlichkeit nicht zugemutet werden, denn dann wäre nicht das polnische Handeln der Skandal, sondern der weißrussische Menschenschmuggel. Die Erregungsspirale verfolgt also eine Absicht: Je größer die Empörung wird, desto weniger wird das Offensichtliche gesehen. Am Ende wird es zu dem berühmten weißen Elefanten, der mitten im Raum steht und über den niemand mehr zu sprechen wagt.

Der Fall Jasmina Kuhnke

Ein anderes, harmloseres Beispiel zeigt, wie vertrackt das Spiel mit der Empörung inzwischen ist. Eine Autorin, die bisher unbekannt war, sagt ihre Teilnahme an der Frankfurter Buchmesse ab, weil dort ein Verlag ausstellt, den bisher auch niemand kannte. Die unbekannte Autorin und der unbekannte Verlag werden durch den Boykottaufruf schlagartig bekannt. Eine gelungene PR-Aktion. So könnte die Nachricht des Offensichtlichen lauten, die aber niemanden interessieren würde.

Die Variante, die die größtmögliche Empörung erzeugt, lautet hingegen: Die Person of Color (PoC) Jasmina Kuhnke, die ihr erstes Buch vorstellen wollte, rief zum Boykott der Frankfurter Buchmesse auf, weil dort der rechte Verlag „Jungeuropa“ einen Stand hat. Sie fühlt sich als PoC nicht mehr sicher und fordert alle anderen Autoren auf, sich solidarisch zu erklären und ihrem Beispiel zu folgen. In dieser Variante wird der Boykottaufruf zum medialen Hit. Kein Bericht über die Buchmesse kam mehr ohne eine ausführliche Kommentierung aus. Die angereisten Autorinnen und Autoren fühlten sich moralisch genötigt, ihre Teilnahme zu begründen oder sich gleich dem Boykottaufruf anzuschließen.

Der Gewinn für die bisher unbekannte Autorin und den unbekannten Verlag ist famos. Beide haben sich mit einem Bravourstück zum Zentrum der erregten Öffentlichkeit gemacht und damit aus der Nische der Unbekannten und Vergessenen herauskatapultiert. Und zugleich hat die Öffentlichkeit, die bereitwillig bei dieser gelungenen PR-Aktion mitgespielt hat, wieder einmal nicht bemerkt, welcher Erregungsmechanik sie gerade folgt.

Objektiv oder subjektiv gefährlich?

Ein genauerer Blick lohnt also, was hier das Offensichtliche und was die Absichten der Empörung sind. Die erste Frage wäre, ob die Bedrohungslage von Jasmina Kuhnke so ist, wie sie es in ihrem Bedrohungsgefühl empfindet. Ist ihre Sicherheit tatsächlich gefährdet, weil ein rechter Verlag dort seine Bücher ausstellt? Diese Frage führt ins Zentrum des Problems. Denn hier sind nun zwei Antworten möglich. Die eine versucht, das Offensichtliche auch sichtbar zu machen. Folgt man diesem Weg, ist es ratsam, die Lage auf der Buchmesse realistisch zu beschreiben. Anschließend könnte man über praktische Maßnahmen nachdenken, um eine mögliche Gefährdung auszuschließen. So käme man zu dem Schluss, dass ein Personenschutz für die Messe oder den Verlag leicht zu engagieren gewesen wäre. Die Erkenntnis des Offensichtlichen ist also: Hätte sie kommen wollen, wäre für ihre Sicherheit gesorgt worden.

Die zweite Antwort will von diesen praktischen und realistischen Lösungen nichts wissen. Sie schlägt den Weg der Empörung ein. Die Klage über die bedrohte Sicherheit muss absolut gelten und darf durch keine Fakten oder sicherheitstechnischen Überlegungen relativiert werden. Denn nur wenn das Bedrohungsgefühl absolut gilt, kann mit ihm eine moralische Forderung verbunden werden: kein Raum für rechte Verlage auf der Buchmesse. Und um diese Verbindung aus persönlicher Betroffenheit und allgemeiner Forderung geht es der Empörungsmechanik.

Denn erst hier entsteht das, was seit Jahren unter dem sperrigen Namen der Identitätspolitik Zulauf erfährt. Dabei kommt ein Dreischritt zur Anwendung, der überaus wirkungsvoll ist. Im ersten Schritt wird ein persönliches Gefühl aus dem Bereich der Ängste geäußert, wie etwa Bedrohung, Traumatisierung und Retraumatisierung. Im zweiten Schritt wird verlangt, dass diesen Gefühlen absolut geglaubt werden muss. Wer seine Angst äußert, ist nicht etwa furchtsam, sondern erleidet eine objektiv gefährliche Situation. Die Ursachen der Angst liegen immer in der Gesellschaft und niemals im Subjekt selbst. Im dritten Schritt wird aus der Abhängigkeit der Gefühle von ihren gesellschaftlichen Ursachen eine allgemeine politische Forderung abgeleitet: Damit niemand mehr Angst haben muss, müssen alle Mikro- und Makroaggressionen unerbittlich geahndet werden.

Wahres muss auch widerlegbar sein

Wie machtvoll dieser Mechanismus wirkt, zeigt sich daran, wie schwer es der Öffentlichkeit inzwischen fällt, zwischen berechtigten und unberechtigten Gefühlsargumenten zu unterscheiden. Durch den strategischen Einsatz der eigenen Gefühle im Erregungswettbewerb ist diese Unterscheidung sehr kompliziert geworden. Je eindringlicher Gefühle öffentlich gezeigt werden und je mehr Menschen ihnen glauben, desto schwerer wird es, ihrem Absolutheitsanspruch zu widersprechen. Treibende Kräfte für die Inflation der Gefühle sind die sozialen Netzwerke und die identitätspolitische Methode. Beide belohnen Gefühle mit Aufmerksamkeit und vergrößern den Resonanzraum für den Aufschrei des Opfers.

Die Empfänglichkeit für menschliche Verletzungen ist Teil des gesellschaftlichen Fortschritts. Doch zugleich ist diese Empfänglichkeit so sehr zum Teil der Empörungsspirale geworden, dass sie als neue Machttechnik kritisiert werden muss. Wenn der Aufschrei das Argument übertönt, und wenn dem Gefühl mehr Wahrheit zugestanden wird als der Rationalität, findet eine Veränderung der Öffentlichkeit statt, die stark regressive Tendenzen hat.

Diese regressive Tendenz wird von der Identitätspolitik strategisch betrieben. Denn ihr Machtkern liegt in dem Dogma, dass den Gefühlen der Opfer absolut geglaubt werden muss. Damit stellt sie sich radikal gegen die Ideale der Aufklärung. Die aufgeklärte Öffentlichkeit sah von Beginn an ihre Aufgabe darin, dass sie jeder absoluten Macht einen kritischen Gegenspieler gegeben hat. Die Kirche sah sich der Religionskritik gegenüber, der Adel dem bürgerlichen Liberalismus, und die demokratischen Regierungen haben eine Opposition und einen kritischen Journalismus. Die wissenschaftliche Wahrheit hat dieses Prinzip schließlich zur Grundlage ihrer Aussagen gemacht, die nur dann als wahr gelten, wenn sie auch widerlegt werden können. Aktuell existiert nur noch ein Wahrheitsanspruch ohne kritische Gegenstimme: Die Gefühle, die von Opfern geäußert werden, sollen unwidersprochen und absolut geglaubt werden.

Die Angst des Bürgermeisters

Mit diesem Dogma zeigt die identitätspolitische Methode, dass sie besser als alle anderen Interessensvertretungen verstanden hat, wie die Öffentlichkeit funktioniert. Gefühle und nicht mehr Leistung oder Expertise sind der neue Wert. Und den größten Wert stellen die Gefühle des Opfers dar. Je unwidersprochener sie geglaubt werden müssen, desto größer ist ihr Nutzen für die identitätspolitische Agenda. Um diese neue Macht zu bewahren und auszubauen, wird jede Stimme, die es noch wagt, an der absoluten Gültigkeit der Gefühle zu zweifeln, mit dem schärfsten Bannfluch belegt.

Wie ohnmächtig die Öffentlichkeit gegenüber den strategisch eingesetzten Gefühlen ist, hat zum Abschluss der Buchmesse eine weitere Protestaktion gezeigt. Bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels unterbrach eine Stadtverordnete der Grünen die Rede des Bürgermeisters und beklagte, dass auf der Buchmesse „schwarze Frauen nicht willkommen gewesen“ seien, da sie sich „nicht sicher fühlen konnten“. Spätestens hier hätte vom Bürgermeister der Einspruch erfolgen müssen, dass das subjektive Bedrohungsgefühl der Autorin nicht der objektiven Sicherheit auf der Buchmesse entspricht.

Es kann sein, dass sich jemand nicht sicher fühlt, doch die Ursache liegt nicht bei der Buchmesse. Bewaffnete Polzisten bewachen die Eingänge, und es gibt wohl kaum eine Messe in Deutschland, bei der das linksliberale Bürgertum stärker vertreten ist. Doch der Bürgermeister wusste, dass eine solche Bemerkung ihn selbst gefährdet. Wer dem Absolutheitsanspruch des Gefühls widerspricht, macht sich in den Augen der empörten Öffentlichkeit zum Menschenfeind.

Der Fall Gil Ofarim

Die Verbindung zwischen einem Bedrohungsgefühl und einer politischen Forderung kann darum nur gezogen werden, wenn man davon ausgeht, dass es in der Öffentlichkeit keine Instanz mehr gibt, die den Mut aufbringt, das behauptete Gefühl kritisch zu befragen, inwiefern es sich um eine Äußerung handelt, die strategisch vorgeschoben wird, um damit eine Forderung durchzusetzen. Dass der Bürgermeister nicht den Mut hatte, auf das Offensichtliche hinzuweisen und die Sicherheit der Buchmesse zu betonen, zeigt, wie hilflos inzwischen die Rationalität gegenüber der Empörung ist.

Die Frage stellt sich also mit wachsender Dringlichkeit: Wie weit kann die neue Macht der identitätspolitischen Opferwahrheiten ihren Absolutismus noch durchsetzen, indem sie jeden Widerspruch verhindert? Und welche Folgeprobleme entstehen daraus, wenn ein Opfer bedingungslose Solidarität fordert?

Ein drastisches Folgeproblem hat jüngst der Fall des Musikers Gil Ofarim gezeigt. Er fühlte sich beim Einchecken in einem Leipziger Hotel ungerecht behandelt. Daraufhin nahm er eine Videobotschaft auf, in der er einen Hotelmitarbeiter des Antisemitismus beschuldigte. Die anschließende Aufregung war gewaltig. In dessen Verlauf musste sich der Hotelmitarbeiter in ein Versteck begeben, da er zahlreiche Morddrohungen erhalten hatte. Im schnell entfachten Empörungssturm waren die einfachsten Standards einer aufgeklärten Öffentlichkeit verloren gegangen. Es wurde allein dem Ankläger geglaubt, die Rechte des Beschuldigten wurden ignoriert, denn seine Schuld stand für die Öffentlichkeit fest. Der Hotelmitarbeiter hatte zwar gleich eine Klage wegen Verleumdung eingereicht, doch es sollte mehrere Tage dauern, bis die Öffentlichkeit bereit war, auch seine Sicht der Dinge zu hören.

Erst als die Polizei Ermittlungen aufgenommen und eine Anwaltskanzlei die Videobänder der Hotelhalle ausgewertet hatte, mehrten sich die Zweifel an den Anschuldigungen von Gil Ofarim. Nun steht Aussage gegen Aussage, doch die verifizierbaren Indizien sprechen im Moment gegen Ofarim. Hätte es vor dem Empörungssturm einen Moment des Abwartens gegeben, wäre allen Seiten viel Ärger erspart geblieben. Denn sollte sich bewahrheiten, wofür die Indizien gerade sprechen, dass es keine antisemitische Beleidigung gegeben hat, so wäre der mediale Empörungssturm eine vermeidbare Katastrophe für den Hotelmitarbeiter und das Image des Hotels gewesen.

Vage Beschuldigungen, die zur Ächtung führen

Schaut man sich diese Fälle an, so scheint es ratsam, den Umgang mit Protesten und Anschuldigungen zu überdenken. Die schnelle Bereitschaft, dem Opfer absolut zu glauben und den Beschuldigten ohne Prozess zu verdammen, ist einer rationalen Öffentlichkeit nicht würdig. Die Verdammungsbereitschaft in den sozialen Netzwerken erinnert an die Rituale in Stammesgesellschaften, wo eine vage Beschuldigung zur Ächtung führen konnte. Und ebenso ist die Logik des Boykotts, der eine Meinung aus der Öffentlichkeit verjagen will, gefährlich. Denn würde es zur Regel, dass die Empörung darüber bestimmt, welche Meinung erlaubt ist und welche nicht, würde eine regressive Entwicklung beschritten, die im Totalitarismus mündet.

Wie weit diese Regression aber bereits fortgeschritten ist, zeigen die vielen Zeitungs-Kommentare, in denen von der „sogenannten Meinungsfreiheit“ geschrieben wird, hinter der sich die Buchmesse nun „verstecken“ würde. Den identitätspolitischen Aktivisten, die sich gerade als Gewinner der Empörungsspirale fühlen, möchte man zurufen, dass sie an dem Ast sägen, auf dem wir alle sitzen. Denn sollte es wirklich dazu kommen, dass die Empörung darüber bestimmen kann, was eine erlaubte Meinung ist und was nicht, dann sollte sich niemand in Sicherheit wähnen, dass er selbst und seine Gefühle es sind, die das entscheiden dürfen. Denn wir erinnern uns, es war nicht nur Jasmina Kuhnke, die von ihrem Protest profitiert hat, auch der kleine rechte Verlag war plötzlich über alle Grenzen hinweg bekannt.

Und diese Einsicht wäre wiederum das Offensichtliche, das am Ende der Empörung steht. Ob das gewollt wurde, mag mit Recht bezweifelt werden.

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