Der Fall Gil Ofarim - Von der Wichtigkeit des Zweifelns

In der Causa Gil Ofarim gibt es neue Entwicklungen. Videomaterial lässt an der Version des Musikers zweifeln, wonach er von einem Mitarbeiter eines Hotels in Leipzig aufgefordert worden sei, seine Kette mit dem Davidstern abzunehmen. Wie es aussieht, bringt dieser Vorfall am Ende nur Verlierer hervor. Auch deshalb, weil bei der Berichterstattung über den Fall mal wieder flächendeckend versagt wurde.

Demonstration vor dem The Westin Leipzig am 5. Oktober 2021 / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Was ist die Aufgabe der Journalisten? Informieren, so die naheliegende Antwort. Doch das Informieren allein ist noch kein Wert für sich. Besonders in Zeiten, in denen Redaktionen vor allem auf Geschwindigkeit setzen, um der Konkurrenz entscheidende Zentimeter voraus zu sein, und gewisse Empörungsmechanismen bedienen, um in den sozialen Medien gehört zu werden. In solchen Zeiten bleibt beim Informieren der eigenen Leserschaft vieles auf der Strecke, was früher Usus war: tiefergehende Recherchen und das Aufzeigen unterschiedlicher Perspektiven, aber auch eine Lust, die entscheidend ist für guten Journalismus: die am Zweifeln.

Im Skeptizismus wurde der Zweifel zum Prinzip des Denkens überhaupt erhoben. Von René Descartes stammt wiederum der Satz „Cogito ergo sum“ („Ich denke, also bin ich“). Der österreichische Philosoph Rudolf Eisler definierte den Zweifel Anfang des 20. Jahrhunderts als „Zustand der Unentschiedenheit, des Schwankens zwischen mehreren Denkmotiven, deren keines das volle Übergewicht hat“. Diese Definition zeigt gut, wie eng der Zweifel mit der journalistischen Arbeit verknüpft ist. Anders formuliert: Nur wer zweifelt, kann sich der Wahrheit annähern. Nur wer zweifelt, kann journalistische Objektivität liefern, was zuvorderst bedeutet, trotz des eigenen Weltbildes, das nie ganz abschaltbar ist, fair und ehrlich zu berichten. Womit wir beim Fall Gil Ofarim angekommen wären.

Die Version des Opfers

Kürzlich schrieb Cicero an dieser Stelle bereits über ein „Lehrstück in journalistischer Sorgfaltspflicht“. Anlass waren zahllose Solidaritätsbekundungen für Gil Ofarim sowie Proteste vor dem The Westin Leipzig. Der Sänger hatte zuvor auf Instagram, wo ihm 155.000 Menschen folgen, Vorwürfe gegen einen Mitarbeiter des Hotels erhoben. Demnach soll Ofarim beim Check-In aufgefordert worden sein, seine Kette mit dem Davidstern zu verbergen. In den sozialen Medien schlug das Ereignis hohe Wellen. Außerdem wurde reihenweise über den „antisemitischen Vorfall“ in Leipzig berichtet – allerdings ohne zu wissen, ob sich all dies genau so zugetragen hat, wie von Ofarim geschildert.

Cicero schrieb in dem Zusammenhang: „Was im Zuge der lauten Kritik am Hotel Westin und der vielen Solidaritätsbekundungen häufig untergeht: Ofarims Version ist nur eine Version der Geschichte. Das wirft Fragen auf. Zuvorderst die nach der journalistischen Sorgfaltspflicht. Denn eigentlich sind im Journalismus Fakten und Mutmaßungen klar voneinander zu trennen.“ Manch Leser deutete dies nun als Vorwurf an Ofarim, er würde Lügen verbreiten. Exemplarisch sei dieser Kommentar zitiert: „Es ist die Version des Opfers und damit eines glaubwürdigen Zeugen. Seine Aussage hat vor Gericht hohe Relevanz. Und es gibt absolut keinen Grund oder Anhaltspunkt für eine Lüge. Haltet mal den Ball flach.“

Ofarim in der Defensive

Was sich in Reaktionen wie diesen spiegelt, sind zwei Aspekte. Zum einen das bewusste Missverstehen. Inhalte werden rezipiert und der eigenen Weltsicht folgend möglichst negativ interpretiert. Aus der Interpretation wird wiederum ein Vorwurf gestrickt, der zu diskutieren äußerst mühsam ist. In der Regel endet dies damit, dass ein Diskutant genervt das Feld räumt. Kurzum: Cicero hat Ofarim nie unterstellt, er würde Lügen verbreiten. Zum anderen spiegelt sich darin eine Anforderung an (oder sagen wir, eine Vorstellung von) Journalismus wider, die konträr zu dem steht, was eigentlich Aufgabe des Journalisten ist: sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten (Hajo Friedrichs).

Umso beunruhigender ist, dass die Causa Ofarim – aber freilich nicht nur diese – zeigt, dass sich Journalisten hinreißen lassen. An die Stelle einer nüchternen Äquidistanz, womit in der politischen Debatte ein gleicher ideologischer Abstand zu anderen politischen Akteuren gemeint ist, rückt bisweilen eine emotionale Nähe zu manchen Protagonisten, durch die das, was ist, als gleichwertig zu dem wahrgenommen wird, was sein könnte. Als wahr wird gewertet, was ins eigene Weltbild passt, und als falsch, was damit nicht vereinbar ist. Für berechtigte Zweifel, obgleich journalistisch geboten, bleibt da folgerichtig wenig Platz. Das könnte sich im Fall Ofarim nun rächen. Denn gut zwei Wochen nach dem Vorfall gerät der Sänger merklich in die Defensive – und damit auch viele Redaktionen in Erklärungsnot. Hierzu gleich mehr.

Nach Berichten der Bild am Sonntag und der Leipziger Volkszeitung haben Ermittler nach der Auswertung von Videomaterial nämlich „erhebliche Zweifel“ (BamS), dass sich der Vorfall so zugetragen hat, wie von Ofarim geschildert. Ofarim selbst hat mittlerweile sogar eingeräumt, dass er nicht wisse, ob er die Kette an jenem Abend überhaupt sichtbar getragen habe. Er sagte gegenüber der Bild am Sonntag: „Der Satz, der fiel, kam von hinten. Das heißt, jemand hat mich erkannt. Es geht hier nicht um die Kette. Es geht eigentlich um was viel Größeres.“ Und auch: „Aber es geht nicht darum, ob die Kette im Hotel zu sehen war oder nicht. Sondern es geht darum, dass ich antisemitisch beleidigt worden bin.“ Aussagen wie diese legen zumindest nahe, dass sich die Situation nicht so zugetragen hat, wie Ofarim vor zwei Wochen auf Instagram erzählte.

Von Zweifeln keine Spur

Zahlreiche Studien zeigen gleichwohl, dass die menschliche Erinnerung nicht starr und mechanisch wie ein Fotoapparat funktioniert, sondern eine Mischung aus Tatsachen ist und dem, was der eigene Kopf hinzudichtet. Je nach Informationsstand, Emotionen oder Erfahrungen können sich Erinnerungen ändern. Wenn Aussage gegen Aussage steht, wie im Fall Ofarim, heißt das also nicht zwangsläufig, dass einer der Akteure lügt. Laut eines Polizeisprechers beschreibe etwa der Hotel-Mitarbeiter, der unterdessen bereits Anzeige gegen Ofarim wegen Verleumdung erstattet hat, den Vorfall „deutlich abweichend von den Auslassungen des Musikers“. Auch dies zeigt, warum Zweifel bei der Berichterstattung über einen Tathergang so wichtig sind: Das menschliche Gehirn tut bisweilen eben, was es will.

Im Fall Ofarim war, anfangs zumindest, von Zweifeln aber keine Spur. Stattdessen wurde Ofarims Perspektive vielfach übernommen, von Boulevard-Blogs genauso wie von sogenannten Qualitätsmedien. Hier eine kleine Auswahl: „Sänger Gil Ofarim in Leipzig offenbar antisemitisch beleidigt“ (mdr), „Antisemitismus-Eklat um Gil Ofarim“ (T-Online), „Gil Ofarim antisemitisch beleidigt“ (Männersache), „Ofarim antisemitisch beleidigt“ (Hit Radio FFH), „Gil Ofarim wegen Davidstern beleidigt“ (Klatsch-Tratsch), „Gil Ofarim erlebt Antisemitismus in Leipzig“ (ntv), „Jude in Luxushotel beleidigt“ (Haolam) sowie „Überraschen darf der antisemitische Vorfall eigentlich niemanden“ (Süddeutsche Zeitung). 

Flut aus Wut und Häme

Besonders bitter an dem Vorfall ist, dass es derzeit danach aussieht, als würde dieser Tag Anfang Oktober am Ende nur Verlierer hervorbringen. Der Ruf des The Westin Leipzig ist geschädigt. Am Hotel-Mitarbeiter klebt weiterhin der Verdacht, er könnte sich eben doch antisemitisch geäußert haben. Und auch Ofarims Glaubwürdigkeit leidet, weil nun Fragen gestellt werden, die eigentlich hätten gestellt werden müssen, bevor der Vorfall in den sozialen Medien und in der Presse breitgetreten wurde.

Wer derzeit den Hashtag #Ofarim auf Twitter eingibt, wird geradezu geflutet mit Wut und Häme, die Ofarim angesichts der jüngsten Entwicklungen entgegenschlägt. Vorwürfe werden laut, wonach Ofarim den Vorfall für billige PR erfunden habe und Schlimmeres. Und wieder gefallen sich viele Kommentatoren in der Rolle des Richters. Dieses Mal unter anderen Vorzeichen. Dieses Mal trifft es Ofarim. Es ist zum Verzweifeln.

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