Frankfurter Buchmesse - Sachbücher im Oktober

Von Postkolonialismus, über Stadtfüchse, die Hohenzollern und einen Jahrhundert-Tennisspieler werden bei der Frankfurter Buchmesse viele Sachbücher zu lesen sein.

Sachbuch-Rezensionen zur Frankfurter Buchmesse / Alexander Glandien
Anzeige

Autoreninfo

Hier finden Sie Nachrichten und Berichte der Print- und Onlineredaktion zu außergewöhnlichen Ereignissen.

So erreichen Sie Cicero-Redaktion:

Anzeige

Identitäre Zerklüftungen

Der erste Band der Hallischen Jahrbücher widmet sich den geistigen Untiefen des Postkolonialismus.

Ein Gespenst geht um in der westlichen Welt – das Gespenst des Postkolonialismus. Aber damit endet auch schon der sinnvolle Vergleich mit dem berühmten Zitat. Denn wo es einst um die großen sozialen Fragen ging, steht heute die kulturelle Selbstvergewisserung im Mittelpunkt der politischen Debatte. Der globale Norden ist unter Rechtfertigungsdruck geraten, sein aufgeklärtes Fortschrittsmodell erscheint obsolet. Wir lernen gerade die Moderne im Plural zu denken. Das meint im Kern der postkoloniale Diskurs.

Mit Verblüffung hat der Afrikaforscher Andreas Eckert die ungewohnte Dichte registriert, mit der seit dem Frühjahr 2020 Begriffe wie „Postkolonialismus“, „postkoloniale Theorie“ und verwandte Kategorien in den deutschen Feuilletons aufgetaucht sind. Er nennt zwei Gründe: zum einen den Streit um das Humboldt Forum, wo demnächst koloniale Raubkunst gezeigt werden soll; und zum anderen die Debatte um den Kameruner Historiker Achille Mbembe, dem man besonders in Deutschland seine Haltung zu Israel vorgeworfen hat – und damit auch die Relativierung der Shoah. 

„Heimatlose Linke“

Das ist keineswegs so abwegig, wie seine Verteidiger meinen. Der mögliche Zusammenhang zwischen den Verbrechen des Kolonialismus und dem Völkermord an den europäischen Juden ist in der postkolonialen Szene seit langem ein Thema. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Rothberg hält daher eine „multidirektionale Erinnerung“, wie er das nennt, für überfällig; der australische Historiker Dirk Moses drückt es viel derber aus: Der Holocaust folge nur der Logik des Kolonialismus und die Singularitätsthese sei eine deutsche Erfindung. Was in der Konsequenz wohl bedeuten soll: Auch Auschwitz müsse man endlich dekonstruieren. „Decolonizing Auschwitz“ hat Steffen Klävers seine am Berliner Institut für Antisemitismusforschung entstandene Studie genannt hat. 

Man muss das alles leider vorausschicken, um überhaupt verstehen zu können, was die Initiatoren eines neuen Jahrbuchs anspornt, das an die Tradition der berühmten Hallischen Jahrbücher anknüpfen möchte und mit überraschender Deutlichkeit von den „Untiefen des Postkolonialismus“ spricht. Es ist ein Kreis junger Wissenschaftler, die sich in ihrer Mehrzahl an der Universität Halle gefunden haben und sich mit großer Unerschrockenheit dem heftig wehenden Zeitgeist in den Weg stellen wollen. 
Man könnte sie als „heimatlose Linke“ bezeichnen, was nur im übertragenen Sinne gilt. Denn Halle könnte zur Chiffre werden für eine junge Generation in Ostdeutschland lebender Intellektueller, die sich der landläufigen Etikettierung entzieht. Dass sie an die linkshegelianische Tradition der alten Hallischen Jahrbücher Arnold Ruges anknüpfen wollen, ist ein dezenter, allerdings auch ein wenig koketter Verortungsversuch. 

Postkolonialismus

Warum dieses Jahrbuch über den Postkolonialismus neben der Entzauberung des Orientalismus und seines Erfinders Edward Said (durch Andreas Harstel) auch einen Beitrag über den Anschlag auf die Synagoge von Halle enthält, versteht man freilich erst, wenn man der Grundthese der Herausgeber folgt, dass es einen inneren Zusammenhang gebe zwischen antisemitischem Denken und postkolonialem Diskurs. Schon in seiner Einleitung macht der Historiker Jan Gerber, der inzwischen am Leipziger Simon-Dubnow-Institut lehrt, deshalb in bemerkenswerter Klarheit deutlich, worin der eigentliche Unterschied besteht und was den Holocaust von den Verbrechen des Kolonialismus ganz wesentlich unterscheidet. Wer in diesem Zusammenhang von Opferkonkurrenz spricht, hat den Unterschied nicht begriffen – oder er leugnet ihn ganz bewusst.

Man muss sich ohnehin fragen, wie der postkoloniale Diskurs überhaupt in solche Untiefen geraten ist. Das hat wohl ganz entscheidend mit seinem Bedeutungswandel zu tun. Was als politischer und kultureller Emanzipationsprozess an den Rändern der früheren Kolonialreiche begann, ist zu einer globalen Meistererzählung umformuliert worden, die längst die Metropolen des Westens erreicht. Von „Worlding“, von „Weltmachen“ hat eine der Vordenkerinnen des Postkolonialismus, die indisch-amerikanische Soziologin Gayatri Chakravorty Spivak, deshalb gesprochen, was eine radikale Umkehr der Perspektiven heißt. Der postkoloniale Diskurs der Unterdrückten und Marginalisierten gilt plötzlich als der eigentlich universale; das aufgeklärte Selbstverständnis des Westens erscheint dagegen nur mehr als provinziell. „Provincializing Europe“ hat der indische Historiker Dipesh Chakrabarty diesen Vorgang genannt. Wenn man ihm folgt, begreift man auch die veränderte Sicht auf die Shoah. Auschwitz zu dekolonisieren, heißt nichts anderes, als es zu einem begrenzten Ereignis zu machen. Vom „Rollentausch in der Opferpyramide“ hat Thomas Thiel in der FAZ jüngst geschrieben. 

Aufarbeitung der Vergangenheit

Dieser Perspektivwechsel hat noch einen gravierenden Nebeneffekt auf die deutsche Erinnerungskultur: Der „deutsche Wille“, so hat es der Publizist Wolfgang Pohrt formuliert, der aus einer „nicht verharmlosten Vergangenheit nationales Selbstbewusstsein zu schöpfen“ versuche, verliert in postkolonialen Zeiten seine exklusive Bedeutung. Man kann das auch weniger kompliziert ausdrücken: Der Postkolonialismus zerstört den Grundkonsens der deutschen Nachkriegsgesellschaft, wonach die Singularität des Völkermords an den europäischen Juden und die besondere deutsche Verantwortung dafür untrennbar zusammengehören. 

Wenn die „Causa Mbembe“, wie Jan Gerber schreibt, tatsächlich „eine der ersten Debatten über die vergangenheitspolitische Beschaffenheit Deutschlands im Zeitalter der Globalisierung“ war, dann ist zu befürchten, dass es diesen nationalen Grundkonsens bald nicht mehr gibt. Eine diverser werdende Gesellschaft beginnt disparate Erinnerungsformen zu entwickeln. Und aus den Untiefen des Postkolonialismus könnten tiefe erinnerungspolitische – ja man muss es so sagen: identitäre Zerklüftungen werden. Johann Michael Möller

Jan Gerber (Hrsg.): Die Untiefen des Postkolonialismus. Hallische Jahrbücher Bd. 1, Edition Tiamat, Berlin 2021. 428 Seiten, 24 €

Auf der Spur der Berliner Füchse

Sophia Kimmig über wachsame Überlebenskünstler.

Die Artenvielfalt in Deutschland ist also nirgends so hoch wie in unseren Städten“, schreibt Sophia Kimmig ungefähr in der Mitte ihres Buches „Von Füchsen und Menschen“ und liefert damit gleichzeitig einen Umriss ihres Werkes. „Auf den Spuren unserer schlauen Nachbarn – als Wildbiologin unterwegs in der Großstadt“ heißt es im Untertitel, und die Autorin verortet damit ihren Beruf wie den Gegenstand ihrer Beschreibung. Mehr als fünf Jahre hat sie in Berlin in einem Forschungsprojekt für ihre Dissertation das Verhalten der Stadtfüchse untersucht, und ihr Buch ist so etwas wie der persönliche Bericht über dieses Abenteuer.

Und um ein Abenteuer handelt es sich auch deshalb, weil das Buch von einem Blickwechsel handelt, der in der Ökologie nicht weniger als ein Paradigmenwechsel ist. Obwohl 1988 in Berlin geboren, musste Sophia Kimmig erst lernen, die Stadt als einen Großraum der Artenvielfalt zu sehen – und die Stadtökologie als das Fach, das sie erforscht, in unseren Breiten überhaupt zu entdecken. Denn auch wenn sie in ihren Studien an Präriehunden in Mexiko bereits erfahren hatte, dass auch in der Wildnis der mexikanischen Trockenlandschaften nichts mehr ohne spürbaren menschlichen Einfluss geschieht, musste sie noch einen Schritt weiter gehen, um zu verstehen, dass Gegenden wie die um den Berliner Alexanderplatz zu den Orten gehören, an denen die neue Freilandforschung ihre Gegenstände findet. Und berühmt ist der Alexanderplatz nicht nur für dort flanierende Füchse, sondern seit einigen Jahren auch für singende Nachtigallen, brütende Wanderfalken und den ersten in der Stadt dokumentierten Waschbären, der sich 2006 eine Tiefgarage als Aufenthaltsort gesucht hatte. 

Füchse überall

Mit Waschbären hat auch Kimmig ihre Erfahrungen gemacht. Das größte Problem bei ihrer Forschungsarbeit war nämlich der Fuchsfang. Um Füchse mit einem Sender auszustatten, der ständig ihren Aufenthaltsort an die Forscherin funkt, musste sie die Tiere in Lebendfallen locken. Und das erwies sich, auch weil Füchse nicht nur in Dichtung und Kolportage schlau und vorsichtig sind, oft als Geduldsprobe, während Waschbären und kleinere Säugetiere meist mit weniger Scheu die Fallen aufsuchten. 
Am Ende gelang es Kimmig aber, 17 Füchse zu „besendern“, wie der Terminus für das Anbringen der speziellen Halsbänder lautet, die ihr über vier Jahre lang Daten über Aufenthaltsorte, Ruhe- und Bewegungsrhythmen und Nahrungsgewohnheiten lieferten. 

Wobei die Größe von Kimmigs Buch auch darin liegt, dass sie die scheinbar verschwendete Zeit nicht verschweigt, in der sie keine Füchse in ihren Fallen findet, in der Sender nicht senden und sie erfolglos die Tiere sucht. Freilandverhaltensforschung besteht immer noch zu großen Teilen darin, dass man „seine“ Tiere nicht sieht. Und Kimmig gelingt es, ihre Forschungsfrage exemplarisch erscheinen zu lassen. Sie beginnt damit, wie sich ihr Blick auf die Stadt ändert, wie sie anfängt, alles durch ihre „Fuchsbrille“ zu sehen. Was früher ein Bahndamm war, wird zu einem potenziellen Fuchsrevier. Ein verschlissener Schuh neben dem Bürgersteig zum verlorenen Spielzeug eines Fuchswelpen, der an dem Leder seine Milchzähne erprobte. Selbst wenn sie S-Bahn fährt, sucht sie die Böschungen im Vorbeifahren nach Fuchsspuren ab.

So eingeführt in den Blickalltag der Forscherin, begibt sich der Text immer wieder auf Exkursionen. Kimmig erzählt die Geschichte der Verstädterung der Füchse, die während des Zweiten Weltkriegs in England begann, auch weil die Jäger in dieser Zeit anderes zu tun hatten, als auf Füchse zu schießen. Sie berichtet von der Geschichte der Fuchsforschung, deren Zentrum in England liegt, porträtiert aber auch kurz den Vater der Berliner Fuchswissenschaft, Günter Tembrock. Was so entsteht, ist nicht nur ein Panorama des Fuchslebens in Berlin. Kimmig liefert auch wie im Vorbeigehen einen Blick auf die Stadtökologie und ihre Forschungsarbeit. Cord Riechelmann

Sophia Kimmig: Von Füchsen und Menschen. Mlik, München 2021. 256 Seiten, 18 €

Sündenfall eines Kronprinzen

Lothar Machtan und der Hohenzollern­streit.

Die Frage, ob die Hohenzollern der Ergreifung und Etablierung der nationalsozialistischen Herrschaft erheblichen Vorschub geleistet haben, beschäftigt gegenwärtig Gazetten und Gerichte. Die emotional geführte Debatte über mögliche Restitutionsansprüche für Enteignungen aus der sowjetischen Besatzungszeit wird zu einem Stellvertreterkrieg in einem geschichtspolitischen Glaubenskampf um Deutschlands Zukunft überhöht. Der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn ist eher auf der Strecke geblieben. Der Umstand, dass „erheblicher Vorschub“ ein unbestimmter Rechtsbegriff ist, macht es nicht leichter. 

Im Zentrum steht der älteste Sohn des letzten deutschen Kaisers, Wilhelm von Preußen, bis 1918 deutscher Kronprinz und ab 1941 Oberhaupt des Hauses Hohenzollern. Lothar Machtans Buch kann daher auf Aufmerksamkeit zählen, zumal der heutige Hauschef Georg Prinz von Preußen die Entstehung der Publikation begleitet und gefördert hat.

Eine Geschichte der Hohenzollern

Machtans Monografie ist die bisher gründlichste Arbeit über Wilhelm und geht in den Erkenntnissen über die im Hohenzollernstreit bislang vorliegenden Werke hinaus. Dem Anspruch, in seinem Buch „das Politdrama einer verhängnisvollen Illusion aus den 1930er Jahren“ zu entfalten, wird er indes nur teilweise gerecht – auch nicht seiner Intention, den „Aberwitz der Hohenzollern“ aufzuzeigen, „durch eine Annäherung an Adolf Hitler monarchische Politik treiben und durch die Bejahung des Dritten Reiches ihren royalen Status verstetigen zu können“.

Machtan lässt Wilhelm 1930 abrupt aus dem Niemandsland die politische Bühne betreten. Vorher sei „politische Lethargie“ die „Signatur der Dynastiegeschichte“ gewesen. Zweifel daran sind erlaubt. Wilhelms Versuche, unter den Präsidialkabinetten Brüning, Papen und Schleicher eine politische Rolle mit dem Ziel der Restitution der Hohenzollernmonarchie zu ergattern, verbindet Machtan mit der vorsichtigen Spekulation, Wilhelm habe Schleicher im Stich gelassen, da er zuweilen sein Glück auch bei den Nationalsozialisten suchte. Politische Beweggründe und die tieferen Kräfte jener verhängnisvollen Monate streift er nur.

Schnelle Schlussfolgerungen

Den eigentlichen Sündenfall des ehemaligen Kronprinzen identifiziert Machtan in der Anbiederung Wilhelms bei den nationalsozialistischen Machthabern nach der „Machtergreifung“, „um sich als ‚Gutheißer‘ des neuen Regimes ins Scheinwerferlicht zu stellen“. Dabei scheut Machtan auch vor Überinterpretationen nicht zurück. Wilhelms Gegenwart am 21. März, dem Tag von Potsdam, beim Festakt in der Garnisonkirche in angeblich vorderster Reihe, wird als Beweis für den ideologischen Anschluss des Hitler-Regimes an das alte Preußen gewertet. Der anschließende Abstecher Hitlers ins Schloss Cecilienhof, quellenmäßig fraglich, wird zu einem „Imbiss“ mit Entourage aufgewertet und zur „Belohnung und Gegengabe für Wilhelms Erscheinen in der Garnisonkirche“ erklärt. 

Ähnlich verfährt Machtan mit Wilhelms bloßer Gegenwart am großen Stahlhelmtag in Hannover im September 1933, die er dahingehend interpretiert, dass Wilhelm als Bindeglied zwischen Stahlhelm und SA gewirkt habe. Viele Schlussfolgerungen wirken arg aus der Hüfte geschossen. Und ob Wilhelms Handeln auch eine erhebliche Wirkung entfaltet hat, wird nicht gemessen. 

Die Probleme

Problematisch ist auch die Art, wie ständig wertende Adjektive in den Text eingeflochten werden, ohne dass sie begründet werden. Machtan lässt sich oft von einer bilderreichen, zu Bildbrüchen neigenden Sprache davontragen, etwa wenn er mit Blick auf einen Schweiz-Aufenthalt im Frühjahr 1933 schreibt, dass Wilhelm „das Highlife in Sankt Moritz mehr gereizt hätte als die unmittelbaren Auswirkungen des Regierungswechsels auf die politische Kultur in Deutschland“. 

Das eigentliche Problem der Arbeit ist jedoch die Neigung des Autors, so zu tun, als ob er nicht einmal wisse, „ob es wirklich so war“, wie er in seinem Buch schreibt, und als ob er sich aus der Diskussion um einen möglichen Vorschub heraushalten könne. Tatsächlich schlussfolgert Machtan, ohne dies wirklich zu begründen, es habe mit Blick auf die Rolle Wilhelms nach der „nationalsozialistischen Machtergreifung“ eine „Nachschubleistung“ Wilhelms gegeben. Ulrich Schlie und Thomas Weber

Lothar Machtan: Der Kronprinz und die Nazis. Hohenzollerns blinder Fleck. Duncker & Humblot, Berlin 2021. 300 Seiten, 29,90 €

Ins Herz der Finsternis

Bernd Brunner spürt in seiner anregenden Kulturgeschichte über die Nacht Schlafwandlern, Dunkelmännern und Sternenguckern nach.

Heute ist der Gegensatz zwischen Tag und Nacht – der einfachen Verfügbarkeit künstlicher Lichtquellen sei Dank – weniger stark, als er es ursprünglich einmal war. Dennoch haftet der Nacht noch immer etwas Rätselhaftes, Klandestines, geradezu Paradoxes an: Man mag sich nachts schneller ängstigen und desorientiert fühlen, zugleich eröffnen sich Möglichkeiten und Freiräume, die tagsüber nicht zur Verfügung stehen. Nach Sonnenuntergang verändern sich die Mechanismen der Wahrnehmung. Gerüche und Geräusche scheinen intensiver, das Zeitempfinden dehnt sich, die Fesseln der Kontrolle werden lockerer. Manch einer blüht erst nachts so richtig auf, sei dies nun in kreativer, spiritueller, sexueller oder krimineller Hinsicht.

Davon erzählt Bernd Brunner auf anregende Weise in seinem „Buch der Nacht“. Mit ungezwungener Gelehrsamkeit streift der Autor durch Kultur-, Natur- und Technikgeschichte. Kurzweilig assoziiert er Alltagsphänomene mit Versatzstücken aus Mythologie, Dichtung und Wissenschaft: Es geht um die Schlafgewohnheiten von Nomadenvölkern, um Dunkelrestaurants und um die Kunst der Traumdeutung, lange bevor Sigmund Freud sein sogenanntes Jahrhundertbuch zum Thema schrieb. 

Die Faszination der Nacht

Brunner lauscht der nächtlichen Geräuschkulisse in Grand Hotels und Tropenwäldern. Er taucht hinab in die ewige, dabei keineswegs lebensfeindliche Nacht der Tiefsee und begibt sich auf Friedhöfe, wo Anatomen in vergangenen Jahrhunderten heimlich die Gräber öffneten, da Obduktionen offiziell verboten waren. 

Unter den Schlafwandlern, Schattengewächsen und Sternenguckern, die dieses mondbeschienene Wimmelbild bevölkern, sind Literaten in der Mehrheit. Ovid, James Boswell, Goethe, Marguerite Duras, Anna Seghers und andere werden als Zeugen für die Faszinationskraft der Dunkelheit aufgerufen. 

Allerdings waren nicht alle Nachtarbeiter aus Überzeugung wie Marcel Proust. Emil Cioran etwa, der rumänisch-französische Dichterfürst der Finsternis, verfluchte die unfreiwillig durchwachten Stunden: „Was ist eine einzige Kreuzigung verglichen mit jener täglichen, die der Schlaflose durchleidet?“ Wer sich bisweilen ähnliche Fragen stellt, der greife beim nächsten Mal lieber gleich zu Brunners Buch, statt sich sinnlos in den Kissen zu wälzen. Marianna Lieder

Bernd Brunner: Das Buch der Nacht. Galiani, Berlin 2021. 192 Seiten, 28 €

Der Baron von Wimbledom

Gottfried von Cramm ist eine vergessene Sportlegende. Jens Nordalm hat das Leben des einstigen „Tennis-Barons“ rekonstruiert.

Es ist der 20. September 1937 in Los Angeles und Gottfried von Cramm betritt den Platz für sein erstes Match. 100 Hollywoodstars im Publikum, unter ihnen Cary Grant, haben sich abgesprochen, demonstrativ ihre Logen zu verlassen, aus Protest gegen die nationalsozialistische Rassenpolitik. Doch der Deutsche auf dem Tennis-Court wirkt geradezu wie ein Gegenbild der Nazis – vornehm, bescheiden. Acht Monate später, als von Cramm im Gefängnis sitzt, werden sie froh sein, dass sie sitzen geblieben sind. Groucho Marx wird berichten: „Als ich diesen Mann sah, empfand ich sofort Scham, das zu tun, was wir uns vorgenommen hatten.“

Von Cramm war ein Mensch, der bezauberte, Frauen und Männer gleichermaßen. Mit seinem eleganten Tennisspiel, mit seiner Freundlichkeit und Bescheidenheit. Er war ein Deutscher, den man mögen konnte, nicht der „hässliche“, sondern „Der schöne Deutsche“, so der Titel der mitreißenden und berührenden Biografie von Jens Nordalm. Nicht nur eine Sport-Geschichte über den „Tennis-­Baron“, den mindestens zweitbesten Tennisspieler der dreißiger Jahre, sondern auch ein Panorama des flirrenden Gesellschaftslebens der späten Weimarer Republik. Die staunenerregende Lebensgeschichte eines Mannes, der Haltung besaß. 
Es ist eine untergegangene Welt, in der von Cramm aufwächst, geboren 1909 in ein altes Adelsgeschlecht mit Schlössern nahe Hildesheim. Anders als viele Standesgenossen ist die Familie liberal. Ihre Verbundenheit mit England prägt auch ihr Verhältnis zum Sport.

Disziplinierter Lebemann

Tennis wird in Deutschland gerade erst populär, als von Cramm mit 13 Jahren beschließt, bester Spieler der Welt zu werden. Im Berliner Tennis-Club Rot-Weiß beginnt ab 1928 sein Aufstieg. Ende 1935 ist er die Nummer zwei der Weltrangliste. Und neben Max Schmeling beliebtester Sportler in Deutschland.

So diszipliniert von Cramm trainiert, so leidenschaftlich wirft er sich mit seiner ersten Frau Lisa in das Gesellschaftsleben. In ihrer Wohnung gehen Filmstars ein und aus. Man reist, feiert. Und gesteht sich sexuelle Freiheiten zu. Was Lisa offenbar duldet: Von Cramm liebt auch Männer. Nicht heimlich genug, um Gerüchte zu verhindern. 

Zeit des Zaubers

Seit 1933 ist er daher in großer Gefahr. Auch weil er später die Judenverfolgung kritisiert. Cramm hofft darauf, dass sein Ruhm ihn schützt und so spielt er gleichsam um sein Leben. 1935, 1936 und 1937 steht er im Finale von Wimble­don – und verliert. Am 5. März 1938 wird er verhaftet und wegen einer homosexuellen Beziehung zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Erst 1953 wird das Urteil aufgehoben.

Auch in der Nachkriegszeit ist von Cramm erfolgreich. Als Tennisspieler und Unternehmer. Doch für Glamour ist in der biederen Nachkriegszeit kein Platz mehr. Seine Hochzeit mit der Woolworth-Erbin Barbara Hutton gibt seinem Leben noch einmal mondänen Glanz. Doch die Ehe hält nur zwei Jahre. Und so ist Nordalms Buch auch ein melancholischer Abgesang auf die frühen dreißiger Jahre, auf eine Zeit voller Eleganz, in der sportliche, adlige und künstlerische Gesellschaft zusammenfand. Auf eine Zeit, in der ein Mann wie von Cramm seinen Zauber entfalten konnte. Ulrike Moser

Jens Nordalm: Der schöne Deutsche. Rowohlt, Hamburg 2021. 288 Seiten, 24 €

 

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

Sie sind Cicero-Plus Leser? Jetzt Ausgabe portofrei kaufen

Sie sind Gast? Jetzt Ausgabe kaufen

 

Anzeige