Aktuelle Romane - Über Dichtung, Wahrheit und andere Drucksachen

Mit der am Sonntag beginnenden Winterzeit beginnen auch die langen Lesenächte. Wir haben jetzt schon einmal die wichtigsten Neuerscheinungen an die Bettkante geräumt und eine Leseliste für die kalte Jahreszeit zusammengestellt. Diese reicht von Wolf Wondratschek über Felicitas Hoppe bis zu Jörg-Uwe Albig.

Romane zur Frankfurter Buchmesse / Alexander Glandien
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Club der untoten Dichter

Wolf Wondratschek lässt Dante und Homer von einem Leben ohne Ruhm und Ehrgeiz träumen.

Chapeau für den Einstieg: „Kaum wiederzuerkennen die beiden, Homer rasiert, Dante fieberfrei.“ Eleganter und lakonischer lässt sich die Selbstverständlichkeit nicht formulieren, mit der in Wolf Wondratscheks literarischem Kosmos das Wunderbare das Profane kreuzt. In seinem neuen, als „Komödie“ angekündigten Prosawerk weilen Homer und Dante also noch unter den Lebenden.

Irgendwo im Italien der Gegenwart leben sie wie Feriengäste bei einer Köchin, einer Analphabetin, die das ist, was man gemeinhin „bauernschlau“ nennt. Auf den ersten Blick bedient sie so offensichtlich das Stereotyp der italienischen Signora, dass sie auch als gezielte Provokation für die „freudlosen Notare und Sachverwalter“ der Moral verstanden werden darf, auf die Wondratschek immer wieder, Flaubert zitierend, schimpft.

Tatsächlich ist sie in ihrer Ehrfurchts­losigkeit vor den beiden Großdichtern Alter Ego und Vorbild des Autors, der sich gerne in die Rolle der Frau versetzt – man denke an sein Liebesgedicht „In einem kleinen Zimmer in Paris“. Es gibt ein Interview mit Wondratschek aus dem Jahr 1994, in dem dieser berichtet, seiner Intellektualisierung gezielt ein Stopp zu setzen: „Was ist der Sinn eines Dichters – noch intellektueller zu sein als Enzensberger?“ Er bewundere die Art seiner Freunde aus dem Boxkampf- und Prostitutionsmilieu, „den Tag anders zu sehen“, physisch mehr da zu sein. Oder wie es in „Dante, Homer und die Köchin“ heißt: „Es geht viel verloren. Es geht die Wirkung, lebendig zu sein, verloren.“

Auch Homer und Dante ist die Köchin ein Vorbild. „Sie kann den Mund halten, das hat sie uns voraus“, sagt Homer. Beide wollen sich dem „großen Programm des Vergessens widmen“, sich von Erinnerungen, Ruhm, Ehrgeiz befreien und die Schreibfeder niederlegen. „Ich möchte emigrieren. Aus dem Kopf hinausgehen“, sagt Dante. „Was, wenn das Schweigen der Sterne die Antwort ist?“

Was nur einer von vielen Kontrasten ist. Dante und Homer reden unentwegt, die 240 Seiten bestehen zu einem nicht unwesentlichen Teil aus Dialogen. Der größenwahnsinnigen, jugendlichen Frechheit, mit der sich Wondratschek in die Gesellschaft der Säulen europäischer Dichtkunst begibt, steht Bewunderung gegenüber, dem Autor sind ihre Werke offensichtlich vertraut. Was zum dritten Kontrast führt: Dem ersehnten Intellektualisierungsstopp steht der bildungsbürgerliche Bombast gegenüber. Wer – wie der Autor dieser Zeilen – Dantes „Göttliche Komödie“ nicht gelesen hat, wird nicht jedes Ei finden, das der Autor im Garten der Köchin versteckt hat.

Dünkel entsteht glücklicherweise nicht, dafür gibt es zu viele Brüche, Spiellust und Komik. Eine der schönsten Passagen erhellt die Fantasielosigkeit einer rationalisierten Welt, als durchdekliniert wird, was passiert, wenn die Öffentlichkeit vom Wunder der so lebendigen Dichter erfährt: „Medizinische, insbesondere geriatrische sowieso psychiatrische Untersuchungen, Erstellung und Auswertung weniger erster Ergebnisse.“

Oft entsteht Verwirrung, aus wessen Perspektive gerade erzählt wird, die Übergänge sind fließend. Für den so entstehenden Flow gilt mitunter ein Motto, das Homer und Dante im Buch selbst mitgeben: „Die Freude groß, der Zweck unklar.“ Ulrich Thiele

Wolf Wondratschek: Dante, Homer und die Köchin. Eine Komödie. Ullstein, Berlin 2021. 240 Seiten, 24 €

 

Siegfried wählt nicht grün

Felicitas Hoppes Nibelungenposse vermischt Sagenwelt mit Ironie und viel Geschwätz.

Dass es die Zwerge neben den großen Helden schwer haben, wussten wir schon immer. Und so müssen sie nun auch in Felicitas Hoppes satirischem Roman „Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm“ zum Schluss den üblen Abwasch machen – bleibt doch in der titelgebenden Ur-Sage ein gigantisches Blutbad zurück. Was dem vorausgeht, packt die Büchner-Preisträgerin – mit spielerischen Brechungen gegenüber der Vorlage – in die Form einer Theaterinszenierung, genauer: die alljährlich stattfindenden Festspiele vor dem Wormser Dom.

Klar, es gibt auch bei ihr die Stationen des Klassikers: Siegfrieds Tötung des Drachen, die doppelte Hochzeitsnacht mit Brunhild und Kriemhild sowie natürlich die Ermordung des Heroen durch den intriganten Hagen. Damit die Chose sodann ihr tragisches Ende findet, sinnt Kriemhild bekanntermaßen auf Rache und wird später mithilfe ihres neuen Ehemanns Etzel die familiäre Hofelite bitter zur Rechnung ziehen. 

Nachdem die Geschichte des Stoffes, noch befeuert durch die nationalsozialistische Vereinnahmung, nur so vor Pathos trieft, macht Hoppe daraus eine ironische Posse. In den Pausenzeiten werden die Schauspieler mit viel persönlichem Blabla interviewt. Zum erwarteten orgiastischen Gefecht tischt man zuletzt eine Torte (mit Gift?) auf. Zudem gibt es allerlei absurde Figuren, darunter einen personifizierten Schatz, der – stark malträtiert – durch das Stück humpelt.

Damit befindet man sich als Leser am bedeutungstragenden Kern des Textes. Sprechendes Gold, das ein Eigenleben entwickelt, hat die Kapitalismuskritik, mithin den ungebändigten Finanzstrom, im Schlepptau. Neben dem ökonomischen Aktualisierungspotenzial hebt Hoppe ebenso jenes in Sachen Gender hervor. Denn „in den Nibelungen wimmelt es doch nur so von Frauen, die davon träumen, endlich in die Männer verwandelt zu werden“.

Bereits Elfriede Jelinek hatte 2013 in ihrem Lesedrama „Rein Gold“ jene teils schon dem Stoff innewohnenden politischen Schichten offengelegt. Neu fällt Hoppes Zugang somit nicht aus. Weder fördert ihr zwischen Nacherzählung und Kommentar schwankender Plot neue inhaltliche Einsichten zutage, noch überzeugt die Art der Darbietung. Schließlich jagt ein Kalauer à la „Wer schlägt die Bresche und legt seinen Kopf in die Wäsche?“ den nächsten und geistert umher zwischen endlosem Geschwätz – etwa über die Frage, warum der Hunnenkönig eine Null ist und Siegfried nicht zu den Grünen passt. Ehrlich gesagt: Es gibt Wissen, das dringlicher ist. Dasselbe gilt auch für andere Bücher. Björn Hayer

Felicitas Hoppe: Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm. S. Fischer, Frankfurt am Main 2021. 256 Seiten, 22 €

 

Rumänische Verlorenheit

Lavinia Branistes neuer Roman zeugt von sprachlicher Klarheit und planerischer Wolkigkeit.

Eine Frau steht vor einem Geldautomaten. Die von der Bank haben ihr gesagt, sie braucht regelmäßige Zahlungseingänge auf ihrem Konto. Also hebt sie 800 Lei ab, um sie direkt wieder einzuzahlen. Die von der Bank wissen, dass sie es so macht, sie haben es ihr selbst empfohlen. Das ist der Kapitalismus, nur ein weiteres irres Regime, in dem man sich, geduckt, irgendwie einzurichten hat. Auch und gerade in Rumänien, dessen voriges sichtbares Regime, das des Ceausescu-Clans, so ratzekahl weggebrochen ist, dass die Nachfolge sich umso ungehemmter ausbreiten konnte und, nachdem der Staub sich gelegt hatte, dieselben Leute wie immer, neu kostümiert, dieselben Strippen zogen wie immer. 

Eine Frau wird von ihrem Freund überredet, bei ihm einzuziehen, in die schäbige Hochhauswohnung, die ein Erbe des Ceausescu-Regimes ist und die den Eltern der Ex-Freundin des Freundes gehört. Die Frau hat kein sehr gutes Gefühl bei der Sache, aber ihr fallen keine stichhaltigen Ausreden ein, also sagt sie Ja und versucht, in der neuen Bleibe nicht negativ aufzufallen. Als Frau hat sie gelernt, sich im Patriarchat einzurichten, dem oft undurchschaubaren, das in immer neuen Verkleidungen daherkommt, und sei es in Gestalt eines Mannes, der sich als Feminist bezeichnet, ohne dass sich die Frau von ihm als gleich geachtet fühlen würde. Ein paar Monate später wird er sie zusammenstauchen, weil ihre Monatsblutung die Matratze eingefärbt hat, und bei der Gelegenheit wird er ihr klarmachen, dass sie in der Wohnung nicht erwünscht sei – die Ex müsse eine Weile dort einziehen.

Nach „Null Komma Irgendwas“ bringt Mikrotext den zweiten Roman der rumänischen Autorin Lavinia Braniste heraus: „Sonia meldet sich“. Wieder begibt man sich gerne hinein. Die Unentschiedenheit, in der die Erzählerin dümpelt, ist dabei auch die der Autorin. Sie hat ihrer Heldin ein paar Vorgaben angetackert, die alle nicht so recht zwingend wirken. Sonia soll für einen narzisstischen Filmregisseur ein Drehbuch schreiben, und er terrorisiert und baggert sie an, bis sie schließlich zwei Mails an ihn formuliert: eine Breitseite Ablehnung. Und eine Liebeserklärung. Das wirkt etwas gewollt. Sonias Geldnot wird anfangs kurz angespielt, um dann nie wirklich spürbar zu werden. Klar ist: Ihre Recherche soll der Ceausescu-Ära gelten, die nur noch in Mythen und Verklärungen greifbar erscheint. Erzählerische Ideen versanden, etwa bildet Sonia sich von Zeit zu Zeit einen Engel ein, der als Berater nie Konturen bekommt und für den Roman auch nicht benötigt wird. 

Braniste-Fans werden jetzt sagen: So spiegelt der Roman schon in seiner Konstruktion die Überforderung, von der er erzählt – durch die Gegenwart, durch die Geschichte, durch die Unmöglichkeit, zu einer Wahrheit vorzudringen. Die Überforderung, als Frau durch eine Männerwelt zu navigieren. Diesen kleinen Sieg überlässt man den Branisti gern. Denn auch „Sonia meldet sich“ besticht durch sprachliche Klarheit, durch Scharfblick und trockenen Humor, die sich mit der planerischen Wolkigkeit gut ergänzen. Wäre Braniste eine ebenso begabte Konstrukteurin, wie sie Beobachterin und Beschreiberin ist, wer weiß, vielleicht wäre der Roman so perfekt geworden, dass sich das Lesen nicht mehr lohnte. Klaus Ungerer

Lavinia Braniste: Sonia meldet sich. Mikrotext, Berlin 2021. 320 Seiten, 19,99 €

 

Kidnapping ist auch nur ein Geschäftsmodell

Jörg-Uwe Albig führt auf subversive Weise den Kapitalismus vor.

Was sind Sie eigentlich wert? Sich selbst, Ihrem Mann oder Ihren Kindern? Wie viel Wert haben Sie als Mitarbeiter? Wie viel wert ist ein Mensch?

Auch Katrin Perger, Businessberaterin, hadert mit ihrem Wert. Sie trägt ein ausgeprägtes Minderwertigkeitsgefühl mit sich herum. In Jörg-Uwe Albigs neuem und siebtem Roman „Das Stockholm-Syndrom und der sadomasochistische Geist des Kapitalismus“ ist sie eine Familientherapeutin, die es in die Wirtschaft verschlagen hat – und die dort auch Belegschaften optimiert, als wären es Vater, Mutter und Kinder. Was ihre Kunden eigentlich produzieren, verkaufen oder handeln, hat sie nicht zu interessieren. 

So denkt sie auch nicht daran, das Geschäftsmodell der Firma „Human Solutions“, die sie engagiert, zu hinterfragen. Erst als sie sich in ein Projekt eingebunden sieht, bei dem ein reicher Erbe und Kunstsammler im Vorfeld einer Messe entführt und auf eine Hütte in den bayerischen Voralpen verschleppt wird, stellt sie fest, dass sich das Unternehmen auf Kidnapping spezialisiert hat. 
Bald wird ihr auch klar, warum ausgerechnet sie das Entführungsopfer betreuen soll: ihre abgebrochene Diplomarbeit, die sie auf dem Blog eines Ex-Kommilitonen entsorgt hat, trägt den Titel: „Das Stockholm-Syndrom und der sadomasochistische Geist des Kapitalismus“. Und spätestens, als es ums Lösegeld geht, stellt sich auch hier ihre ewige Frage: Was ist ein Mensch wert?

Noch eine weitere Frage stellt das Buch: die nach Markt und Moral. Eine Frage, die wir eine ganze Corona-Zeit lang nur verschoben haben: Während die Strukturen der Fleischindustrie die Infektionszahlen in die Höhe schnellen ließen, haben wir unsere Bedenken in selbst angesetztes Sauerteigbrot geknetet. So ist die Skurrilität von Albigs Buch nur der Spiegel einer skurrilen Welt – und deshalb ist es das Buch der Stunde. Wie Albig gekonnt die ausgetrampelten literarischen Wege umgräbt, ist faszinierend und mitreißend. Unwillkürlich fragt man sich: Wo ziehen wir eigentlich noch die moralischen Grenzen? Und ziehen wir sie überhaupt? Andrea Hanna Hünniger

Jörg-Uwe Albig: Das Stockholm-Syndrom und der sadomasochistische Geist des Kapitalismus. Klett-Cotta, Stuttgart 2021. 240 Seiten, 20 €

 

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

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