Stefan Aust über Angela Merkels Flüchtlingspolitik - „Ein Massenansturm wie 2015 kann nicht bewältigt werden“

Stefan Aust hat einen Film über Angela Merkels Flüchtlingspolitik gedreht. Von 2015 bis 2018 haben Kamerateams wichtige Punkte der Migration besucht. Im Gespräch mit Cicero analysiert Aust, warum die Politik die Folgen ihres Handelns nicht erkennen wollte

Für seine Reportage über die Flüchtlingskrise erhielt Stefan Aust jetzt den Deutschen Fernsehpreis / picture alliance
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Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Stefan Aust ist Journalist und Autor. Er war von 1994 bis 2008 Chefredakteur beim Spiegel, seit 2014 ist er Herausgeber der Tageszeitung Die Welt.

Herr Aust, Sie haben für Welt.de eine aufwendige Filmreportage über die Flüchtlingskrise 2015 und die „Völkerwanderung“ vorgelegt, mit eindrücklichen Bildern und Statements der Migranten. Die letzten beiden Teile werden vom kommenden Sonntag an zu sehen sein. Wie kamen Sie an das Material?
Für den Sender N24, der jetzt „Welt“ heißt, schickten wir am 28. Oktober 2015 bis 2018 ein Dutzend Kamerateams mit Reportern für 24 Stunden an die neuralgischen Punkte der Migration – etwa an die Ägäis, in die Türkei, zur Insel Lesbos, in Flüchtlingslager. Daraus entstand eine Reportage. Dieses Bildmaterial floss nun ein.

Besagte Reportage lief also nur im Fernsehen bei N24?
Ja. Dennoch erhielten wir zu unserer großen Überraschung den Deutschen Fernsehpreis.

Vielleicht war die ARD von schlechtem Gewissen getrieben. An ein vergleichbares Projekt im öffentlich-rechtlichen Fernsehen kann ich mich nicht erinnern.
Es kam einfach niemand sonst auf die Idee. Der 28. Oktober 2015 war ein sehr interessanter Tag. Da kamen ungefähr 10.000 Migranten über die Grenze. In der Folgezeit drehte Helmar Büchel, mit dem zusammen ich das Projekt anging, weiter, in Idomeni, in Syrien und im Irak. So entstand weiteres filmisches Material. Wir dehnten das chronologische Prinzip der 24 Stunden auf die vier Jahre der Flüchtlingskrise aus – von Anfang 2015 bis Ende 2018, als der Globale Migrationspakt in Marrakesch verabschiedet wurde. Hinzu kam als besonders wichtige Quelle Material der Kollegen von Spiegel TV. Darum wurde die Reportage vor einem halben Jahr zuerst auf dem Pay-TV-Sender „Spiegel Geschichte“ bei Sky ausgestrahlt.

Eine Aussage der Reportage lautet: Es gab in der Migrationskrise einen Pull-Effekt namens Angela Merkel.
Einer von verschiedenen Aspekten lautet so, ja. Wir haben aber keineswegs unterschlagen, dass es im irakischen und syrischen Bereich genügend Gründe gab, das Land fluchtartig zu verlassen und den Schutzstatus als Kriegsflüchtlinge zu erlangen. Außerdem existiert normale Migration aus wirtschaftlichen Gründen, wie es sie auch vor hundert Jahren Richtung Amerika gab. Damals wurde freilich viel schärfer kontrolliert.

Hat das öffentlich-rechtliche Fernsehen auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise versagt?
An verschiedenen Stellen wurden durchaus vergleichbare Szenen gezeigt. Es fehlte aber der Gesamtzusammenhang, es fehlte die kontinuierliche Beobachtung eines längeren Zeitraums, es fehlten die internationalen Schauplätze. Die Terroranschläge von Paris und Berlin, die Silvesterkrawalle von Köln gehören eben auch zur Geschichte dieser Migration. Nur so gewinnt man ein historisch einwandfreies, ein ausgewogenes Bild.

Kann man über die deutsche Migrationspolitik der Jahre 2015 ff. schon ein historisches Urteil fällen?
Man kann zumindest sagen, dass ein in sich widersprüchliches Asylgesetz, das jederzeit umgangen oder unterlaufen werden kann, ein großes Problem ist. Wir entfernen uns immer stärker vom Asylbegriff des Grundgesetzes. Der Klageweg durch alle Instanzen steht jedem abgelehnten Asylbewerber offen. Selbst bei einer finalen juristischen Niederlage darf er oft bleiben, weil die Klage so lange gedauert hat. Ein Massenansturm wie 2015 kann durch die bestehenden Gesetze nicht bewältigt werden.

Mit Blick auf Nordsyrien und die türkische Invasion steht uns ein vergleichbarer Massenansturm bevor.
Ja, das befürchte ich auch. Der Deal mit Erdogan kommt uns teuer zu stehen. Das kommt eben heraus, wenn man die eigenen Probleme an andere Leute delegiert.

Wer hat denn in den vergangenen vier Jahren in der Migrationsdebatte das schlechtere Bild abgegeben: die Politik oder die Medien?
Politik und Medien sind ja fast eine Einheit gewesen. Es gab relativ wenig kritische Stimmen. Die Folgen der Grenzöffnung wurden von den meisten Politikern und Journalisten nicht bedacht. Im Sommer 2015 nannte ich die Migrationspolitik ein „Konjunkturpogramm für Rechtsradikale“. Wenn unkontrolliert zu viele Menschen ins Land kommen, schütteln normale Leute den Kopf, andere demonstrieren, wiederum andere fühlen sich zur Gewalt ermuntert, um den „Volkswillen“ durchzusetzen. Das hätte man 2015 erkennen können und müssen.

Die Politik hat es nicht erkannt.
Die Politik hat die Folgen ihres Handelns nicht erkennen wollen! Unter vier Augen haben Politiker das Gegenteil dessen erzählt, was sie dann öffentlich von sich gaben. Bei keinem anderen Thema habe ich dieses Auseinanderklaffen derart massiv erlebt. Die Probleme sollten nicht einmal benannt werden. Deshalb sitzt die AfD heute in den Parlamenten.

Die Zeichen stehen auf Schwarz-Grün. Damit bekäme Merkels „humanitärer Imperativ“ Ewigkeitsrang.
Das weiß ich gar nicht. Wenn diejenigen, die die anderen mit ihren demonstrativ humanitären Grundprinzipien vor sich her treiben, in Regierungsverantwortung gelangen, sind auch sie mit realen Problemen konfrontiert. Da können sich Positionen ändern. Schauen Sie nur auf die Realpolitiker Winfried Kretschmann und Boris Palmer.

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