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(picture alliance) Nach dem Mauerbau ging das Leben im Westen munter weiter

Leben in Westberlin - "Es blieben Witwen, Schwule und Geheimdienstler"

Auf den Schock des Mauerbaus folgten Jahrzehnte subventionierter Gemütlichkeit in Westberlin. Im politischen Biotop der Hauptstadt blühten kleinbürgerliche Idylle, Bauskandale und weltfremde Linksideologien. Eine Demonstration für die Wiedervereinigung hat es nie gegeben.

Als ich 1962 nach Berlin kam, war die Mauer genau ein Jahr alt. Sie teilte eine Stadt, die auf Schritt und Tritt noch die Wunden des Zweiten Weltkriegs zeigte. Der Wiederaufbau in den fünfziger Jahren war in West- wie Ostberlin schäbig ausgefallen. Eine ganze Architektengeneration schien von der Idee besessen, der flach oder hochkant gestellte Schuhkarton sei die Urformel für modernes Bauen. „Der Stuck an den Fassaden“, verkündete die Westberliner Akademie der Künste, sei „der Staub in den Gehirnen.“ Also weg damit. Ähnlich empfanden es damals die Kollegen in der Ostakademie. Unter den Berlinern wurde der Spruch populär: Die Stadt sei zweimal zerstört worden, einmal durch den Krieg, zum zweiten Mal durch die Nachkriegsarchitekten. Zwischen all diesen Rechtecken war die Mauer zweifellos das ungewöhnlichste Bauwerk. In ihrem wilden Zickzackkurs schien sie der Zeichnung eines betrunkenen Stadtplaners zu folgen.

Dem schönen Freiburg war ich entkommen und fühlte mich wohl im kahlen, erstaunlich hässlichen Berlin. Mich faszinierten die vier Stockwerke hohen, fensterlosen Brandwände der zerbombten Stadt, in die irgendein Mieter ein einziges Toilettenfenster geschnitten hatte, die riesigen Brachen, auf denen Birken und Essigbäume wuchsen, die vergilbten Werbeschriften an den Fassaden, die von verschollenen Schnaps- und Zigarettensorten sprachen. Am liebsten war mir Berlin im August, wenn die Rollläden vor den Geschäften heruntergelassen waren und handgeschriebene Zettel eine kaum mehr glaubhafte Rückkehr versprachen.

Ein Jahr nach dem Mauerbau war noch zu spüren, dass die Errichtung des Monstrums aus Zementziegeln, Stacheldraht und vermauerten Häuserfronten eine epochale Schandtat war. Die Emotionen und Verletzungen waren frisch. Tausende von Westberlinern waren am 13. August zu der im Morgengrauen hochgezogenen Grenze gestürmt und konnten nicht fassen, was sie sahen. Sie riefen ihren Mitbürgern im Osten ermutigende Worte zu, überschütteten die Mauerbauer mit Beleidigungen, einige bewarfen sie mit Steinen. 250 000 Westberliner sammelten sich vor dem Schöneberger Rathaus und forderten ihre Schutzmächte zum Handeln auf. Aber deren Führer dachten gar nicht daran, wegen Berlin einen Weltkrieg zu riskieren. Der 13. August 1961 war ein schöner Sonntag. Der britische Premier Harold Macmillan ließ sich durch die Nachricht aus Berlin nicht bei der Jagd stören, General Charles de Gaulle, der auf seinem Landsitz in Colombey-les-Deux-Églises unterrichtet wurde, kehrte nicht nach Paris zurück. Präsident John F. Kennedy vergnügte sich auf einem Segeltörn. Als er 16 Stunden später vom Mauerbau erfuhr, gewann er dem Ereignis sogar eine positive Seite ab. Seit 1959 hatten die Sowjets mit einem Berlin-Ultimatum gedroht. Die Westalliierten sollten die Stadt verlassen. Kennedy: „Warum sollte Chruschtschow eine Mauer bauen, wenn er sich Westberlin einverleiben wollte? Dies ist sein Ausweg aus dem Dilemma.“

Inzwischen ist bekannt, dass die Schließung der Grenze, wenn nicht sogar mit den Sowjets abgesprochen, im engsten Kreis der Berater von J. F. Kennedy als „eine vernünftige Lösung“ diskutiert worden war. US-Senator J. William Fulbright, damals Vorsitzender des Verteidigungsausschusses, erklärte am 30. Juli 1961: „Ich verstehe nicht, warum die Ostberliner nicht ihre Grenzen schließen, wozu sie nach meiner Auffassung jedes Recht haben.“ Bis zu jenem Sommer hatten mehr als drei Millionen Bürger der DDR den Rücken gekehrt.
Der mithilfe der Volksarmee der DDR und bewaffneter Betriebskampfgruppen begonnene Bau der Mauer entschied binnen Stunden über Hunderttausende von Schicksalen. Nicht nur Familien, Liebespaare, Freunde wurden damals von einem Tag auf den anderen getrennt. Die Bewegungsfreiheit und die Fantasie der Berliner, die Arterien des Stadtkörpers, seine Straßen, S- und UBahnen, wurden von einem Tag auf den anderen blockiert; nur noch die Abwässer in den Kanälen konnten frei zwischen Ost und West zirkulieren.

Weitgehend unerforscht ist bis heute die Reaktion der Ostberliner auf ihre Geiselnahme durch die Ulbricht-Regierung geblieben. Die verordneten Jubeldemonstrationen dürften von den meisten als das empfunden worden sein, was sie waren: Freakshows der Parteihörigen.
Eva und Jens Reich, die Jahrzehnte später das „Neue Forum“ mitgründeten, gingen am Abend des 13. August zum Brandenburger Tor. Fast allen, die sie trafen, stand die Empörung in den Augen, die sie selbst empfanden. In den von Pendlern überfüllten S-Bahnzügen, die plötzlich nicht mehr auf Westberliner Bahnhöfen halten durften, brannte die Luft. Ein Funke hätte genügt, die gestaute Wut zur Explosion zu bringen. Nur eine Minderheit von SED-Funktionären und Schriftstellern träumte von den großartigen, durch die Mauer „eröffneten“ Möglichkeiten (siehe Seite 100). Jetzt endlich sollte und musste er gelingen, der Aufbau des „besseren Deutschland“, des „ersten Arbeiter- und Bauernstaats auf deutschem Boden“. Und wenn der große Rest des dummen Volkes von diesem Glück nichts wissen wollte, dann musste man es eben dazu zwingen.

Die Bilder von den Verzweifelten, die noch im letzten Moment aus den Häusern an der Grenze an der Bernauer Straße in den Westen sprangen, während im Stock darunter schon die Fenster zugemauert wurden, sind um die Welt gegangen. Weniger bekannt sind die Dramen derjenigen, die sich in den Wochen und Monaten nach dem Mauerbau zur Flucht entschlossen. Einige gelangten durch die vom Westen aus vorgetriebenen Tunnel in die Westberliner „Freiheit“, die meisten scheiterten.

Es gab Tausende solcher Geschichten. Literarisch wurden sie im Westen – wenn man von der großen Ausnahme des nach Westberlin übergesiedelten Uwe Johnson absieht – erst mit großer Verspätung erzählt. Während es in den Jahren der Teilung in der DDR kaum einen wichtigen Schriftsteller gab, der sich nicht – wenn auch mit der durch die Zensur erzwungenen Vorsicht – mit dem Drama der Teilung literarisch auseinandersetzte, fand es in der Bundesrepublik keinen Autor.

Bis zum Ende des Monats gelangten noch 25 000 DDR-Bürger, viele von ihnen mit nichts als ihren Kleidern auf dem Leib, in den Westen. Eine von diesen Flüchtlingen – mit der ich später zusammenlebte – hatte zwei Tage vor dem Mauerbau die Grenze überquert. In Westberlin fand sie sich bald mit Schicksalsgenossinnen zusammen. Wenn die drei Freundinnen ausgingen – und ich als einziger Westler mit dabei –, ahnte ich etwas von dem ganz anderen Leben, in dem sie aufgewachsen waren.

In leichten Kleidern und auf flachen Schuhen promenierten sie über den Kurfürstendamm und probierten ihre Wirkung auf die Ku’damm-Casanovas aus. Sie zogen Karawanen von Verehrern an, aber deren Protzgehabe und vor allem deren politische Ahnungslosigkeit kamen nicht bei ihnen an. Ihr Selbstbewusstsein und ihre Spottlust schlugen diese Kandidaten in die Flucht. Wenn sie unter sich waren, erzählten sie sich Geschichten aus ihrer Schulzeit, sangen – mit einem spöttischen Glitzern in den Augen – das eine oder andere FDJ-Lied, äfften Redefloskeln und Appelle der Parteibonzen nach und brachen anschließend in ein fröhliches Gelächter aus.

Das Misstrauen gegen deutsche Lieder, die Bekreuzigung vor dem Wort „Deutschland“, die bereits zur Grundausstattung junger West-Intellektueller gehörten, war diesen Flüchtlingen fremd. Ihr aktueller Feind war nicht die Nazigeneration, sondern die Bonzenpartei, die nach dem Kriege eine zweite deutsche Diktatur errichtet hatte.
Auf das irrwitzige Projekt des Mauerbaus folgten gleichsam logisch alle weiteren Anomalien der West-Ost-Politik: ein milliardenschwerer Menschenhandel, der politisch korrekt „Freikauf politischer Gefangener“ hieß; die Ausweisung und Ausbürgerung kritischer Intellektueller; die zunehmende Subventionierung der auf den Bankrott zusteuernden DDR durch das reiche Westdeutschland; die von Bonn lange geleugneten Zwangsadoptionen der Kinder von gescheiterten Flüchtlingen aus der DDR.

Den schlimmsten Verlust hatte die Stadt allerdings schon vorher durch die Vertreibung und Ermordung der rund 170 000 Berliner Juden erlitten, die Berlin mit unternehmerischem Genie, mit kühnen Bauten, mit Kunstsinn und mit kosmopolitischem Geist belebt hatten. Ostberlin hatte seine verbliebenen Industrieeliten nach der Staatsgründung der DDR verloren. Die westliche Halbstadt verlor sie in den fünfziger und frühen sechziger Jahren.

Viele Großfirmen und Verleger traten die Flucht nach Westdeutschland an. Die Letzten gingen nach dem Bau der Mauer. Was blieb und kam, war ein schräger Mix aus großen und kleinen Minoritäten jeder Art: Soldatenwitwen, Kriegsheimkehrer, Subventionskünstler und -schwindler (jede in Berlin umgesetzte D-Mark wurde in den siebziger Jahren zu 50 Prozent und mehr von Bonn subventioniert), Schwule, Lesben, Migranten und Studenten. Nicht zu vergessen die 30 bis 40 internationalen Geheimdienste und ihre Mitarbeiter. Die Preise in den Bars rund um den Bahnhof Zoo und für die käuflichen Damen am Kurfürstendamm schossen in die Höhe. 30 Jahre lang fehlte in Westberlin eine Generation, die man in jeder anderen Metropole der Welt antraf – die der gut ausgebildeten 30- bis 50-Jährigen, die Geld mit Know-how und Geschmack verbinden.

Die neuen Eliten, die in der Halbstadt Fuß fassten, entstammten eher einem kleinbürgerlichen Milieu: der Hamburger Verleger Axel Springer, der Berlin und dem Rest der Republik die Bild-Zeitung schenkte, oder der Filmproduzent Abraham („Atze“) Brauner, der neben unzähligen Mabuse-Streifen auch eine Reihe großartiger Filme finanziert hat, darunter „Der Garten der Finzi Contini“ und „Hitlerjunge Salomon“.

In den frühen sechziger Jahren hatten die linken Studenten der Freien Universität die Führer des konservativen Ring Christlich Demokratischer Studenten (RCDS) aus der Studentenvertretung vertrieben. Nach dem Zerfall der 68er Studentenbewegung gelangte das geschasste Uni-Trio Eberhard Diepgen, Rüdiger Landowski und Jürgen Wohlrabe (der als Einziger von den dreien durch den von Herbert Wehner erfundenen Spitznamen „Übelkrähe“ unsterblich geworden ist) in die höchsten Ämter der Halbstadt.

Bis weit nach dem Mauerfall bestimmten sie – alle drei Mitglieder der schlagenden Burschenschaft „Saravia“ – die Geschicke Westberlins. Die halbe Stadt war eine Insel geworden, ein komfortables, durch üppige Subventionen und eine Mauer geschütztes politisches Biotop, in dem jeder jeden kannte – die SED hatte gar nicht so unrecht mit ihrer steifen Formel „Selbständige politische Einheit Westberlin“. Irgendwann war es so weit, dass sich alle in denselben Edelkneipen fanden – die Regierenden aus der schlagenden Verbindung, die Baulöwen und Subventionshaie, der Modedesigner Wolfgang Joop, der Friseur Udo Walz, der inzwischen eine eigene Talkshow unterhält, und die sogenannten Kreativen: Peter Stein, Luc Bondy, Thomas Brasch, Otto Sander und der Autor dieser Zeilen.

Sie, wir alle saßen, wenn auch nie am selben Tisch, bei „Fofi“, in der „Paris Bar“ und im „Ciao“ zusammen. Und manchmal, wenn sie mich denn erkannten, winkten mir Eberhard Diepgen oder Rüdiger Landowski huldvoll zu – die Sieger dem Verlierer. Irgendwie, dachte ich nach drei Gläsern Wein, könnte diese marode Idylle noch 1000 Jahre fortbestehen. Als ich einmal schrieb, die Gesellschaft, die sich auf dem Berliner Presseball am Funkturm zeige, würde man in Paris oder London allenfalls auf Feuerwehrbällen antreffen, blieb das nicht ohne Folgen. Denn die Einzigen, die sich über diese Sottise ärgerten, waren die tapferen Männer der Berliner Feuerwehr. Ich solle nur warten, bis es bei mir zu Hause einmal brenne!

Kurz nach dem Mauerfall traf ich Rüdiger Landowski bei einem Empfang im neu eröffneten Spiegel-Büro am Brandenburger Tor wieder. Ich zog ihn in eine Nische und stellte ihm eine Frage, zu der ich bisher nie gekommen war: Wie war es möglich, dass Landowski, Diepgen und „Übelkrähe“ nie die Andeutung eines Schmisses im Gesicht zeigten, obwohl sie doch Mitglieder einer schlagenden Verbindung waren? Freimütig gestand Landowski mir, seine Burschenschaft habe entschieden, Redetalente wie die drei Genannten vom Komment zu befreien.
Erstaunlich bleibt, wie rasch sich die Empörung der ersten Monate und Jahre über die Mauer in Gewöhnung, ja in Akzeptanz verwandelte. Allerdings mit unterschiedlicher Kraft. Während die Mauer für die Deutschen in der DDR das Ende der Bewegungsfreiheit bedeutete, lernten die

Deutschen im Westen ziemlich schnell, dass ihnen – außer den „Brüdern und Schwestern im Osten“ – eigentlich nicht viel fehlte. Die Wut reduzierte sich auf die Wut gegen die Grenzerschikanen beim Transit: „Fahren Se mal rechts ran und Kofferraum auf!“
In Westberlin und in der Bundesrepublik bildete sich in der „Deutschlandfrage“ eine innere Spaltung heraus. Während die CDU und die Springerpresse vor abnehmendem Publikum die Einheit Deutschlands beschworen, setzte sich bei der Linken und der SPD die Einsicht durch, dass mit solchen Ritualen keine Politik zu machen war.

In das Brachland der sterilen West-Ost-Konfrontation setzten Willy Brandt und Egon Bahr ihr Pflänzchen der Entspannungspolitik. Aber der neue Ansatz hatte einen hohen Preis. Um ihre Gespräche mit den kommunistischen Machthabern nicht zu gefährden, nahmen die Entspannungspolitiker in Kauf, dass sie den Kontakt zu den Dissidenten in der DDR, in der CSSR und in Polen lieber mieden. Reizwörter wie „Überwindung der deutschen Teilung“ oder gar „Schandmauer“ und „Wiedervereinigung“ wurden aus dem politischen Vokabularium aussortiert. Halb durch ihre Nähe zur SED-Prominenz verführt, halb durch Selbstüberredung überzeugt, gelangten die SPD-Strategen zu dem falschen Schluss, dass der real existierende Sozialismus reformierbar sei. So kam es, dass das wichtigste deutsche Thema – die Teilung und ihre Überwindung – zu einem Erkennungswort des Lagerdenkens wurde.

Die Empörung gegen die Unterdrückung der Freiheitsrechte in der DDR wurde zu einem Monopol der Rechten und der Springerpresse; wer sich links einordnete, machte lieber einen Bogen um die ungemütlichen Tatsachen.
1980 hatte ich ein halbes Jahr auf einer Vortragstournee in Lateinamerika verbracht. Als ich wiederkam, schaute ich mir die inzwischen perfektionierte Mauer mit einem fremden Blick an. Ja, es ist das absurdeste und bis zum Überdruss exorzierte Bauwerk der Welt, dachte ich. Aber gleichzeitig wissen wir so gut wie nichts darüber, was es mit den Menschen macht, die im Schatten dieser Mauer leben. Darüber wollte ich einen Roman schreiben.

Als ich mit meinen Recherchen begann, stieß ich auf Skepsis bei fast allen Freunden, denen ich von meinem Projekt erzählte. Schon die Wahl meines Gegenstands erzeugte Stirnrunzeln. Zunächst verstieß er gegen das Originalitätsgebot unter Literaten. War die Berliner Mauer nicht das bekannteste Bauwerk der Welt? Zweitens – und dieser Einwand wog schwerer –, war dies nicht Springers Territorium, das ein aufgeklärter Linker nicht zu betreten hatte? Ein nie überprüfter Glaubenssatz der Linken besagte ja, die Teilung sei nun einmal die Strafe, die die Deutschen für die Verbrechen des Dritten Reiches hinzunehmen hatten. Wobei die Ostdeutschen, die diese Strafe ganz allein verbüßten, nie gefragt wurden, ob sie mit dieser einseitigen Schuldzuweisung einverstanden waren. Wer an die Mauer, an dieses vermeintliche Ergebnis des Hitlerkrieges rührte, war als Kalter Krieger, ja als Revisionist und Revanchist verdächtig.

Es bedurfte dann weder besonderer Brillanz noch prophetischer Fähigkeiten, die „Mauer im Kopf“ zu entdecken, die ich in meinem Buch „Der Mauerspringer“ benannt und beschrieben habe. Es brauchte nichts als Neugier. Aber Neugier war in den hysterischen Zeiten des Kalten Krieges und des Lagerdenkens eine knappe Ressource. Ein Rezensent der Welt merkte damals an: Es sei erstaunlich, dass ausgerechnet ein ausgewiesener Linker dieses Buch geschrieben habe. Das Buch sei entschieden klüger als sein Autor.

Natürlich versuchte ich, mein Buch Freunden in Ostberlin mitzubringen. Immer wieder wurde ich erwischt. Einmal forderte der Grenzbeamte mich auf, meinen Wagen auf einem dunklen Platz zu parken und zu warten. Mit meinem „Mauerspringer“ in der Hand verschwand er in einer der Baracken. Nach einer Dreiviertelstunde kam er zurück. Er habe auf einer Seite eine eindeutig konterrevolutionäre Passage entdeckt: „Sie können weiterfahren, aber das Buch bleibt selbstverständlich hier!“ Die Grenze in Berlin war damals die einzige Grenze in der Welt, an der ein Autor eine Sofortkritik zu seinem jüngsten Buch erhalten konnte.

Als die Mauer fiel, stellte sich heraus, dass viele DDR-Schriftsteller das Ereignis als eine geschichtliche Katastrophe und als eine persönliche Kränkung erlebten. Die Treue vieler DDR-Intellektueller zu einer Diktatur, die sie selber jahrzehntelang gegängelt hatte und Zehntausende ihrer weniger prominenten Mitbürger zu politischen Gefangenen machte, bleibt ein deutsches Phänomen – in keinem anderen Ostblockland hat es Vergleichbares gegeben. Ebenso erstaunlich ist, dass sich auch unter den linksorientierten Schriftstellern in der Bundesrepublik kaum einer fand, der den Sturm der Freiheit in Mittel- und Osteuropa begrüßte. Sie liebten das Volk der DDR, solange es rief: „Wir sind das Volk!“ Als die Demonstranten in Leipzig diesen Slogan in den Ruf „Wir sind ein Volk!“ veränderten, war es mit der Sympathie vorbei. Ich fürchte, von dieser fantastischen, bis heute uneingestandenen Reaktionsstarre ihrer literarischen Wortführer hat sich die intellektuelle Klasse in Deutschland bis heute nicht recht erholt.

Als die Mauer 29 Jahre nach ihrer Errichtung fiel, ging die Initiative dazu eindeutig vom Osten aus. Während die Völker Mittel- und Osteuropas die Bastionen der kommunistischen Diktatur stürmten, rieben sich die Westdeutschen und ihre Schutzmächte die Augen. Was passierte da eigentlich im Osten, warum hatte niemand diese veritable Revolution vorausgesehen?
Selbst in seiner CDU, bekannte Helmut Kohl vor einem Jahr in der FAZ, hatte kaum noch jemand an den Fall der Mauer und an die Möglichkeit einer Wiedervereinigung geglaubt. Es ist kein Vorwurf, sondern eine Tatsache: In der Bundesrepublik hat es keine einzige Demonstration für die Wiedervereinigung gegeben. Erst recht nicht in Westberlin. Man hatte es sich gemütlich gemacht.

Der Schriftsteller Peter Schenider ist ein genauer Chronist Berliner Befindlichkeiten. Sein Roman „Mauerspringer“(rororo) ist in mehr als zwei Dutzend Sprachen übersetzt worden

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