Erich Fried zum 100. Geburtstag - „Lieber Michael Kühnen …“

Heute wäre Erich Fried 100 Jahre alt geworden. Was kaum jemand weiß: In den 80er Jahren pflegte der dem Holocaust entkommene Dichter eine Brieffreundschaft mit dem Neonazi Michael Kühnen. Das lehrt uns Wichtiges für unsere heutige Debattenkultur.

Erich Fried, hier 1974, wurde vor 100 Jahren in Wien geboren / dpa
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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„Das ist wieder mal typisch für ihn. Jetzt ist Erich mal wieder richtig durchgeknallt“, soll der linke Verleger Klaus Wagenbach gesagt haben, als bekannt wurde, dass sich sein Autor Erich Fried für Michael Kühnen einsetze, jenen Jung-Neonazi, der Mitte der 80er Jahre wegen NS-Propaganda und der Verherrlichung Adolf Hitlers in Frankfurt vor Gericht stand. Geschähe die Episode heute – der Rauswurf von Erich Fried wäre, angetrieben von Twitter-Salven, wohl eine Sache von Minuten. Doch Wagenbach dachte gar nicht daran.

Nachzulesen ist die Episode in einem jetzt erschienenen Buch, das eine Leerstelle in der Biographie des vor 100  Jahren in Wien geborenen Lyrikers Erich Fried füllt: „Der Dichter und der Neonazi – Erich Fried und Michael Kühnen“ lautet der Titel, geschrieben hat es der Publizist Thomas Wagner. In unserer von Fragen wie „Darf man mit solchen Leuten überhaupt reden?“ getriebenen Zeit bietet die Lektüre dieses Buches wichtige Momente der Erkenntnis.

Leerstelle in Frieds bisherigen Biografien

Wagner beschreibt die mehrere Jahre andauernde Brieffreundschaft zweier Männer, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Hier der österreichische Jude Fried, 1921 geboren, selbst dem Holocaust entkommen, aber der Vater von der Gestapo totgeschlagen, die Großmutter im KZ umgekommen. Ein Linker, ein Antifaschist, über Jahrzehnte, im poetischen Schaffen wie in der politischen Arbeit.

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Dort Michael Kühnen, 1955 bei Bonn geboren, Holocaust-Leugner und manisch in seiner Hitler-Verehrung: Die Idee des Nationalsozialismus, so seine Überzeugung, wurde nach der Ermordung des SA-Führers Röhm nur durch die SS verhunzt. Also müsste man es nur noch einmal probieren – darauf arbeitete er in den 70er und 80er Jahren hin. Kurzum: Kühnen war ein überzeugter Neonazi, gegen den ein Björn Höcke wie ein Chorknabe erscheint.

Kühnen wird „gecancelt“

Was die beiden zusammenbrachte, erinnert verblüffend an heutige Zeiten: Im Januar 1983 soll in der öffentlich-rechtlichen Talkshow „III nach 9“ Erich Fried mit Michael Kühnen über den wiederaufflammenden Rechtsextremismus diskutieren. Kurzfristig wird Kühnen vom Fernsehprogrammdirektor „gecancelt“ – oder wie man damals noch sagte: wieder ausgeladen. Fried sagt in der Sendung: „Ob man den einladen soll oder nicht, darüber kann man streiten. Wenn man ihn eingeladen hat, ihn auszuladen, ist ganz bestimmt falsch und kleinkariert.“ Kühnen ruft Fried kurz nach der Sendung an, um sich zu bedanken – von da an entspinnt sich eine rege Brieffreundschaft zwischen den beiden, die von 1984 bis 1987 andauert und sechzehn Briefe umfasst.

Frieds Motivation gründete in der Überzeugung, auch in einem Neonazi wie Kühnen zuallererst einen Menschen zu sehen. Über dessen Ansichten – zu Holocaust, Nationalsozialismus, Hitler und Rassismus – stritt er mit ihm in den Jahren der Brieffreundschaft ausgiebig, stellte Kühnens Ausführungen zum Nationalsozialismus in Frage, suchte zuweilen in psychoanalytischer Manier nach den Gründen für dessen Hitler-Verehrung. Im Ton sind die Briefe ungeachtet der grundlegenden inhaltlichen Differenzen überraschend herzlich.

Warum wurden Mitschüler Nazis?

Aber warum tat Fried sich das an, riskierte gleichsam seinen Ruf? Das Interesse für den Neonazi-Nachwuchsstar gründet auf Frieds Menschenbild, das heute all jene, die politisch Andersdenkende ständig bekämpfen, zumindest aber aus dem Diskurs drängen wollen, gründlich studieren sollten: Auch in Menschen mit völlig konträren Ansichten sah Fried den Mitmenschen, mit dem man ins Gespräch kommen musste.

Er selbst hatte in seiner Wiener Schulzeit erlebt, wie die einen in seiner Klasse in Richtung Nationalsozialismus abdrifteten – während er sich dem Kommunismus verschrieb. Aber Fried schrieb seinem 19-jährigen Schulkameraden, der bei der Hitlerjugend war, die Liebesgedichte für dessen Angebetete, der revanchierte sich, indem er ihm die Mathe-Hausaufgaben machte. Eine wichtige Lehre aus dieser Zeit war für Fried, dass er sich selbst in Frage stellte: Wäre er nicht auch ein Hitlerjunge geworden, wenn er nicht Jude gewesen wäre?

Nur wenige Tage nach Fried wurde die als Widerstandskämpferin verehrte Sophie Scholl geboren, deren öffentliche Wahrnehmung dieser Tage eine wichtige Erweiterung erfährt: Robert Zoske beschreibt sie in seiner Biographie als glühende Nationalsozialistin  erst 1942 nahm sie den Kampf gegen das Hitler-Regime auf. Kurzum: Als Antifaschist wird man nicht geboren, ebensowenig als Nationalsozialist.

Frieds Kampf gegen die Entfremdung

Eines von Frieds zentralen Motiven blieb in den Nachkriegsjahrzehnten der „Kampf gegen die Entfremdung“, insbesondere zwischen politisch Andersdenkenden. 1978 wandte er sich gegen die vulgär-antifaschistische Parole „Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft“. Die sei zwar sehr verständlich, aber gleichwohl furchtbar.

In seinem Aufsatz „Wie sah der antifaschistische Kampf aus, und wie sollte er heute aussehen“ heißt es, nur wenn „Menschen von der anderen Seite bereit sind zu lieben“, lasse sich ein Weg aus der ins Verhängnis führenden Entfremdung finden. Der Antifaschismus dürfe kein Vorwand sein, „sich für besser zu halten als Andersdenkende“. Diese dürften niemals als „Menschen zweiten Ranges“ betrachtet werden. Eine Auseinandersetzung müsse man möglichst fair führen.

Biograph Thomas Wagner zitiert aus einem BBC-Radio-Kommentar Frieds von 1957, in dem der Dichter fordert, den politischen Gegner um dessentwillen zu bekämpfen, „was sie wirklich schlecht und böse machen.“ Doch sei es „weder menschlich anständig“ noch „politisch vorteilhaft, sie außerdem noch zu verleumden.“

Fried widmete Kühnen Gedichte

Der Briefwechsel mit dem größtmöglichen politischen Gegner war vor diesem biographischen Hintergrund ein Experiment in seinem letzten Lebensjahrzehnt – 1988 verstarb Fried. Dass der Briefwechsel mit Kühnen in bisherigen Biografien höflich verschwiegen wurde, wie auch die Tatsache, dass Fried mindestens ein Gedicht („Um Klarheit“ von 1987) Kühnen gewidmet hat, sagt mehr über unsere Zeit aus als über Fried. Thomas Wagner gebührt Dank dafür, dass er der Biographie Frieds diesen auf den ersten Blick schwer zu verstehenden Aspekt zurückgegeben hat.

Was würde Fried wohl zu den Praktiken der Exklusion sagen, die unsere heutige Debattenkultur immer stärker prägen? Die sich politisch auf der richtigen Seite wähnen, ziehen Linien, jenseits derer Kommunikation sinnlos, ja verwerflich erscheinen soll. Wer mit Menschen jenseits dieser Linien spricht oder sich gar mit ihnen auf ein Podium setzt, kontaminiert sich gleichwohl. Was geschähe heute wohl mit einem Dichter, der einem Björn Höcke ein Gedicht widmen würde?

Erich Fried, in dessen Biografie der Nationalsozialismus so verheerende Spuren hinterlassen hatte, predigte dagegen eine Art Feindesliebe. In der Talkshow von 1983, die dann ohne Kühnen stattfand, erklärte Fried den erstaunten Mit-Talkern, dass man mit Nazis natürlich reden dürfe: „Sie sind Menschen mit zum Teil ganz ehrlichen Ansichten, die nur verderblich sind.“

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