Dreißigjähriger Krieg - Der Mythos des „Sonderwegs“

Heute begann vor 400 Jahren der Dreißigjährige Krieg. Ein Drittel der damaligen deutschen Bevölkerung verlor darin das Leben. Warum wir die Folgen noch heute spüren. Von Alexander Grau

In Magdeburg wird eine Schlacht des Dreißigjährigen Kriegs nachgespielt / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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„Die Türme stehn in Glut, die Kirch’ ist umgekehret./ Das Rathaus liegt im Graus, die Starken sind zerhaun,/ Die Jungfraun sind geschänd’t, und wo wir hin nur schaun,/ Ist Feuer, Pest, und Tod, der Herz und Geist durchfähret“ – dichtete Andreas Gryphius 1636 in seinem Sonett „Tränen des Vaterlandes“. Da wütete der Krieg, der bald schon als der „Dreißigjährige“ in die Massenmordanalen der Menschheit einging, bereits 18 Jahre, weitere 12 wird das Schlachten dauern. Am Ende stehen schätzungsweise sechs Millionen Tote innerhalb des Reichsgebietes, das war ein Drittel der Bevölkerung.

Begonnen hatte alles vor vierhundert Jahren, am 23. Mai 1618, als Vertreter der protestantischen Stände zwei königliche Stadthalter nebst Kanzleisekretär aus einem Fenster der Prager Burg warfen. Hintergrund war ein Konflikt zwischen dem deutschen König in Gestalt des Habsburgers Ferdinand II. und dem böhmischen Adel, der auf seine Unabhängigkeit und seine Rechte pochte. Der Habsburger war erst seit einem Jahr König und Bannerträger katholischer Gegenreformation. Um seinen Machtwillen zu demonstrieren, ging er auf Konfrontationskurs, entließ protestantische Beamte und befahl den Abriss zweier soeben errichteter protestantischer Kirchen.

Nach zwei Jahren hätte Schluss sein können

1619 wählten daraufhin die böhmischen Stände den Pfälzer Kurfürsten Friedrich zum neuen König von Böhmen. Im Gegenzug schmiedete Ferdinand II., nunmehr deutscher Kaiser, eine antiböhmische Allianz. In der Schlacht am Weißen Berg siegten die kaiserlichen Truppen unter General Graf Tilly und schlugen die Böhmen in die Flucht. Nach zwei Jahren hätte der Dreißigjährige Krieg vorbei sein können.

Doch Ferdinand II. hatte Bündnisverpflichtungen zu erfüllen. Also besetzten seine Truppen die Oberpfalz. Der Krieg hatte Böhmen verlassen. Hier nun wäre endgültig der Punkt gewesen, die Armeen zu demobilisieren. Doch Ferdinand witterte die Chance, den Protestantismus in Norddeutschland zu zerschlagen. Friedrich Schiller wird später kommentieren: „Nie lag eine so große Entscheidung in eines Menschen Hand, nie stiftete eines Menschen Verblendung so viel Verderben.“

Die politischen Ergebnisse des Irrsinns: Frankreich etablierte sich als die dominierende Kontinentalmacht, auch kulturell. Das Reich verlor viele Seehäfen an Schweden. Von Kolonialbestrebungen war es damit abgeschnitten. Der verspätete Wunsch nach dem „Platz an der Sonne“ hat auch hier seine Ursachen. Zugleich blieb Deutschland dauerhaft ohne Zentrum – kulturell, räumlich und dynastisch. Das bewirkte die Vielfalt und den Reichtum deutscher Kulturinstitutionen aber auch machtpolitische Bedeutungslosigkeit.

Das Land der Dichter und Denker

Anfang des 19. Jahrhunderts wird Madam de Staël daraus das romantische und publikumswirksame Bild des verträumten, apolitischen Landes der „Dichter und Denker“ zeichnen. Auch viele Deutsche werden es begeistert aufgreifen. Mit unguten Folgen: Es etabliert sich die Vorstellung von der deutschen Kultur, die der westlichen Zivilisation geistig überlegen sei. Ein Ergebnis: Bis in die Gegenwart sieht sowohl die politische Linke als auch Rechte Deutschland nicht als uneingeschränkten Teil des Westens. 

Ein Spiegelbild dieses deutschen Selbstverständnisses unter umgekehrten Vorzeichen war der Verdacht, dass die deutsche Geschichte ab 1648 einen unguten „Sonderweg“ eingeschlagen habe. In der Geschichte aber gibt es keine Sonderwege, da es keine Normalwege gibt. Vielmehr gab es einen deutschen Weg in die Moderne, einen französischen und einen englischen. Die Idee vom deutschen Sonderweg war ein Märchen, erzählt erst im Namen eines chauvinistischen Nationalismus und später zur pauschalen Diskreditierung deutscher Geschichte.

Doch der Dreißigjährige Krieg ist nach wie vor ein reicher Quell für verquaste Lehren aus der Vergangenheit. Beispiel Europäische Union: Der Frieden von 1648 war auch deshalb erfolgreich, weil es keine Zentralmacht gab, keine Gleichmacherei, sondern einen – modern gesprochen – Pluralismus der Regionen. Die EU in die Tradition des Westfälischen Friedens zu stellen, ist nicht nur unsinnig, sondern Geschichtsfälschung.

Können wir aus der Geschichte lernen?

Eines jedoch zeigt die Katastrophe von 1618 bis 1648: Kriege zu beenden – in denen verfassungspolitische Fragen, konfessionelle Gegensätze, das Großmachtkalkül externe Mächte und die ökonomischen Interessen irgendwelcher Warlords ein unheilvolle Verbindung eingehen – ist so gut wie unmöglich. Das sieht man auch heute im Nahen Osten.

Der Dreißigjährige Krieg hatte sich irgendwann erschöpft, die Ressourcen waren aufgebraucht. Doch in einer globalisierten Welt verzehren sich Kriege nicht mehr. Sie werden permanent gefüttert, mit Waffen, Nahrung und Geld. Und die entstehenden Flüchtlingsströme werden exportiert. So wird das Feuer genährt. Aus der Geschichte lernen wir nur, so hat man den Eindruck, wenn es sich gut anfühlt.

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