Dirigentenbesetzungen - Götterdämmerung der Haudegen

An den Pulten der Orchester etabliert sich ein neuer Ton: weniger autoritär, weniger Establishment – mehr Begeisterung. Der Mythos Maestro ist im Wandel, und der Rausschmiss von Valery Gergiev in München war mehr als nur ein politisches Zeichen.

Kirill Petrenko dirigiert Beethovens Neunte Sinfonie vor dem Brandenburger Tor / Gordon Welters
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Axel Brüggemann ist Musikjournalist und lebt in Bremen. Zuletzt erschien der von ihm herausgegebene Band „Wie Krach zur Musik wird“ (Beltz&Gelberg-Verlag)

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Als Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter Anfang März erklärte, München trenne sich von Chefdirigent Valery Gergiev und „es wird damit ab sofort keine weiteren Konzerte der Münchner Philharmoniker unter seiner Leitung geben“, war dieses nur ein weiterer Schritt der Götterdämmerung alter Maestri an den internationalen Pulten dieser Welt. Russlands Krieg gegen die Ukraine hat den rasanten Wandel der Uraltklassik weitaus schneller beschleunigt als Corona. 

Während der Pandemie ist die Klassik am „Systemrelevanz“-Check gescheitert, und die Szene hat ihre eigene Bedeutungslosigkeit beweint. Nun stellen Musikerinnen und Musiker fest, dass ihre Kunst plötzlich mit Pauken und Trompeten wieder zum Schlachtfeld der Weltpolitik geworden ist. Und die Klassik gerät unter Handlungsdruck. Das wird besonders deutlich an den Fällen von Anna Netrebko und Valery Gergiev. Sie zeigen, dass Russlands Arm der weichen Propaganda schon lange tief in das westeuropäische Kultursystem eingreift. 

Russische Softpower

Anna Netrebko hat die Rolle der vermeintlich naiven Diva gespielt, die zu den Olympischen Spielen neben Putin trällert. Gleichzeitig hat sie aber schon früh Geld an die Separatisten vom Donbass überwiesen und sich mit ihrer Flagge gezeigt. Ihren 50. Geburtstag hat Netrebko im Kreml gefeiert, und am Vorabend des Kriegsausbruchs sang sie in einer Oligarchenvilla nahe Moskau gemeinsam mit ihrem Mann (und gesponsert von Chopard) einige hübsche Arien und Duette. Als westliche Intendanten, Konzertveranstalter und das Publikum nun von ihr erwartet haben, sich von Putins Machenschaften zu distanzieren, zeigte Netrebko ihr wahres Gesicht und beschimpfte ihre Kritiker auf Instagram als „human shit“. 

So ein emotionaler Ausrutscher wäre Gergiev nie unterlaufen. Als er aufgefordert wurde, sich zu positionieren, schwieg er. Der russische Dirigent ist ein Vorzeige-Apparatschik, der Urtyp des machtbewussten Maestro. Sein Büro im Mariinski-Theater ist eine Demonstration von Wichtigkeit, Gergiev einer der wenigen Künstler Russlands, die Putins Telefonnummer im Handy gespeichert haben. Er ist Obermusikmeister der Oligarchen und eine Art inoffizielles Ein-Mann-Klassik-Ministerium des Kreml, in dem zukünftige Künstlerkarrieren (wie jene von Anna Netrebko) mit politischer Linientreue gepaart werden.

Einer seiner wichtigsten Mitspieler ist dabei der Cellist und Putin-Kumpel Sergei Roldugin, das Gehirn der russischen Klassikpropaganda. Er organisiert seit Jahren ein Kulturnetzwerk, das Einfluss auf Wirtschaft und Politik nimmt (Cicero hat bereits 2016 berichtet). Roldugin hat den in Deutschland gescheiterten Kulturmanager Hans-Joachim Frey als Intendanten nach Sotschi geholt, wo seitdem nicht nur Musikerinnen und Musiker und große Orchester, sondern auch Wirtschaftsdelegationen und Politprominenz eingeladen werden, um anschließend (so wie die ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Elisabeth Motschmann) vom „kulturellen Brückenbauer“ zu schwärmen. 

Rauswurf längst überfällig

Gergievs und Roldugins Klassikpropaganda führte offensichtlich bis ins österreichische Kanzleramt. Im Brucknerhaus Linz, wo Frey als Intendant engagiert war, richtete Roldugin die „Russischen Dienstage“ ein. Als Freys Nachfolger sie abschaffen wollte, soll es eine direkte Intervention des Bundeskanzleramts (damals noch unter Sebastian Kurz) gegeben haben. Und das, obwohl längst bekannt war, dass Roldugin zwei Milliarden Dollar über Scheinfirmen in Panama für Russland verwaltet hat – angeblich für seine Musikschule! 

Es brauchte einen Krieg, damit Linz die „Russischen Dienstage“ abschafft und München sich von Gergiev trennt. Dabei propagiert der Dirigent Putins Politik schon seit Jahren – von den homophoben Anti-Schwulengesetzen bis zur Annexion der Krim. Gergiev gab sogar ein Konzert für Syriens Diktator Assad in Palmyra. Dass Münchens Oberbürgermeister Reiter erst jetzt die Reißleine gezogen hat, und dass Paul Müller, der Intendant der Münchner Philharmoniker, der Gergievs Positionen jahrelang als „persönliche Meinungsäußerung“ gerechtfertigt hat, nicht gleich mitgehen musste, bleibt das wirklich Fragwürdige bei diesem Rauswurf. 

Man kann den Fall Gergiev als Politikum in Kriegszeiten verstehen, tatsächlich aber weist er darüber hinaus. Gergievs Rauswurf war ein weiterer Schritt in Richtung Götterdämmerung autokratischer, selbstgefälliger Dirigentenpersönlichkeiten, die lange glaubten, sich alles herausnehmen zu können. Dabei geht es nicht immer um Krieg und Frieden, aber schon um Benehmen und Anstand.

Es geht nur ums Geld

Es erscheint absurd, dass die Managerin von Anna Netrebko, Judith Neuhoff, gleichzeitig auch Daniel Barenboim vertritt. Der ist in Berlin natürlich sofort auf den Plan getreten, um Solidaritätskonzerte für die Ukraine zu geben. Dass Neuhoff auch weiterhin an beiden Künstlern festhält, zeigt, dass ein Großteil des alten Klassikbetriebs vollkommen ideologielos operiert – es geht nicht um Inhalte, sondern um den eiskalten finanziellen Erfolg. Eine Haltung, die sich auch bei den Musiklabels erkennen lässt. Die Universal, zu der auch die legendäre Deutsche Grammophon gehört, hat zwar ihr Russlandgeschäft auf Eis gelegt, will sich aber nicht von den Cashcows ­Netrebko und Gergiev distanzieren. Dabei wäre der Kriegsausbruch vielleicht der beste (und letzte) Zeitpunkt gewesen, um überkommene Zöpfe der alten Klassikwelt abzuschneiden. 

Anders als Valery Gergiev ist es Barenboim bislang gelungen, sich in seiner Spitzenposition als Musikdirektor der Staatskapelle Berlin und der Lindenoper zu halten. Dabei muss auch er sich öffentliche Kritik anhören. Barenboim wurde sein Jähzorn vorgeworfen, ein unangemessener Umgangston mit seinen Musikern, Mediatoren wurden zurate gezogen, vom Dirigenten aber weitgehend links liegen gelassen. Und Berlins Kultursenator Klaus Lederer schien in letzter Sekunde der Mut zu fehlen, den Maestro ziehen zu lassen. Vielleicht weil er die internationalen Reaktionen fürchtete? Vielleicht weil er Angst vor einem Neuanfang an der Staatsoper hatte? 

Die mutlose Berliner Oper

Lederer hat dafür gesorgt, dass das prestigeträchtigste Berliner Opernhaus auch weiterhin in alten Zeiten dahindümpelt (und auffallend wenige junge Dirigentinnen oder Dirigenten engagiert). Wie groß das Dilemma ist, zeigt die Ratlosigkeit, nachdem Intendant Matthias Schulz seinen Wechsel an das Opernhaus in Zürich bekannt gegeben hat. Lederer muss nun einen Nachfolger suchen, der mit Barenboim auskommt und dessen traditionellen Kurs kritiklos mitgeht. Dass ausgerechnet Ex-Tenor Rolando Villazón, ein Hans Dampf in allen Gassen, aber als Intendant (das hat er bei den Mozartwochen gezeigt) vollkommen ungeeignet, so lange im Spiel war, sagt vieles. 

Die Münchner Philharmoniker spielen unter der Leitung von Valery Gergiev / dpa

Der Fall Daniel Barenboim ist die andauernde Vertagung eines längst überfälligen Generationenwechsels in Berlin. Wie schwer ein solcher Neustart ist, selbst wenn ein Dirigentenposten frei wird, zeigt auch das Beispiel des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks. Nach dem Tod seines Chefdirigenten Mariss Jansons hatte es die Möglichkeit, Konzerte, Konzepte und Kandidaten neu zu denken. Stattdessen wurde mit dem 67-jährigen Simon Rattle das Gesicht des „Weiter-so“ verpflichtet. Er macht in München das, was er vor 20 Jahren bereits in Berlin getan hat. Vielleicht erhoffte sich das Orchester des Bayerischen Rundfunks mit Rattle einen guten Verkauf von internationalen Gastspielreisen, aber das dürfte sich schnell als Irrglaube entpuppen, denn andere, große Orchester, die den Mut haben, sich neu zu erfinden, werden bald schon attraktiver sein.

Geglückte Generationenwechsel

Einer der größten europäischen Orchestertanker, auf den nun viele blicken, ist das Concertgebouw in Amsterdam, das sich mit seiner Entscheidung für einen neuen Chef besonders lange Zeit lässt. Hier scheinen die Zeichen allerdings eher auf eine junge Nachwuchshoffnung zu stehen, unter anderen ist der erst 26-jährige Finne Klaus Mäkelä im Rennen, der bereits einen Job in Paris hat. Das wäre ein mutiger Generationenwechsel. 

Geschafft wurde der Wandel schon vor Jahren ausgerechnet an jenem Pult, das lange als Lebensziel von Daniel Barenboim galt: bei den Berliner Philharmonikern. Ihr Chefdirigent Kirill Petrenko ist allerdings eine Art Sonderfall. Er verkörpert nicht den Machertypus einer neuen Klassikgeneration, hat gleichsam aber mit dem Machotypus alter Maestri nichts am Hut. Viele Berliner Philharmoniker schätzen es, dass Petrenko das Orchester nicht als Basis seines eigenen Egos versteht, sondern als Möglichkeit, regelmäßig gemeinsam die bestmögliche Musik machen zu können. Jemand wie Petrenko ist nicht gern laut, hält nichts von Öffentlichkeit, von Interviews oder Marketing. Das überlässt er lieber dem Orchester. Er hat kein Problem damit, eine Intendanz neben sich zuzulassen. Gleichzeitig versteht er es, wenn es drauf ankommt, wie jetzt in der Ukrainekrise, unmissverständlich Position zu beziehen. Sein Statement ließ – trotz seiner russischen Wurzeln – keine Fragen offen. 

Die künstlerische „Zwischengeneration“

Kirill Petrenko verkörpert eine Art „Zwischengeneration“ und ist als Künstler eher atypisch für den modernen Klassikmarkt. In der Generation, die ihm folgt, lassen sich vollkommen neue und andere Ambitionen feststellen, dabei kommen viele Dirigentinnen und Dirigenten direkt aus seiner stillen Schule.

Die Französin Marie Jacquot assistierte Petrenko an der Bayerischen Staatsoper bei der Uraufführung der Oper „South Pole“, danach übernahm sie Uraufführungen an der Staatsoper und wurde Erste Kapellmeisterin an der Deutschen Oper am Rhein. Jacquot war einst Spitzensportlerin, spielte unter den Top Ten Frankreichs Tennis, aber irgendwann entschloss sich die Posaunistin, den Sport an den Nagel zu hängen und die Musikkarriere ernster zu nehmen. „Für mich hat es keinen Sinn mehr gemacht, wie beim Tennis, Befriedigung daraus zu ziehen, mein Gegenüber zu schlagen“, erklärt Jacquot, „ich habe es vorgezogen, mit ihnen zu ‚spielen‘, fand es spannender, mit gleicher Anstrengung gemeinsame Ziele zu erreichen, um einen Weg zu ringen und immer wieder zu versuchen, die Unmöglichkeit des musikalischen Ideals zu erreichen.“ Musikmachen ist für Jacquot immer auch der Prozess, eine gemeinsame Position zu finden, einander zuzuhören. „Dabei steht das Ego in der Regel im Weg“, sagt sie, „im Vordergrund sollte das Wissen aller Beteiligten stehen, warum wir an diesem Abend überhaupt dieses Werk spielen.“ 

Für Musikerinnen wie Marie Jacquot sind Chefposten nicht mehr allein auf Grund der Position erstrebenswert, der Generalmusikdirektorinnen-Vertrag kein Orden. Im Idealfall ist die Position nur eine Erweiterung der Möglichkeiten des Musikmachens. Die Französin hatte allerhand Führungspositionen auf dem Tisch, nachdem sie ihre Stelle an der Deutschen Oper am Rhein gekündigt hatte – auch von großen Häusern. „Mir ging es aber darum“, sagt sie, „an ein Haus zu gehen, an dem Musik gemeinsam gedacht werden kann, an dem alle Gewerke sich hinterfragen.“ Dieses Haus hat sie nun gefunden, 2024 wird sie neue Chefdirigentin des Königlich-Dänischen Theaters in Kopenhagen.

Die Französin Marie Jacquot ist Erste Kapellmeisterin an der Deutschen Oper am Rhein / Werner Kmetitsch

 

Kulturelle Botschafterin der Ukraine

Zwischen 2013 und 2017 war auch Oksana Lyniv in München und hat als Assistentin bei Kirill Petrenko gearbeitet. Lyniv wurde im ukrainischen Brody geboren, hat in Bonn gearbeitet und war Chefin an der Oper in Graz. Dass sie Musik als Akt der Völkerverständigung versteht, zeigte sie schon vor Kriegsausbruch in ihrer Heimat, als sie energisch für eine moderne Skulptur von Mozart-­Sohn Franz Xaver Mozart kämpfte, der einst in Lemberg gewirkt hatte. Mit ihrem Kulturfestival LvivMozArt will sie die kulturelle Bindung der Ukraine an den Westen verdeutlichen und stößt dabei auf viel Kritik. 

International bekannt wurde Oksana Lyniv als erste Frau, die bei den Bayreuther Festspielen eine Premiere dirigiert hat. Sie bereitet sich akribisch vor, weiß genau, was sie will. Gleichzeitig aber ist sie wendig genug, um sich an neue Situationen anzupassen. Katharina Wagner lobt die Entwicklung, die Lyniv in der Zeit der Proben durchgemacht habe, wie sie sich an die schwierige Akustik des Hauses gewöhnt habe und mit dem Festspielorchester gewachsen sei. Lyniv erreichte in Bayreuth eine Orchesterbalance, für die Valery Gergiev ein Jahr zuvor einfach zu faul gewesen ist. Bei der letztjährigen „Tannhäuser“-Inszenierung wurden in Bayreuth auch Videos aus der Dirigentengalerie der Festspiele eingeblendet. Unter dem Bild des notorischen Jetsetters Gergiev war zu lesen „Komme etwas später“. Eine Art, Good­bye zu sagen. Lyniv wird das mit Genugtuung zur Kenntnis genommen haben.

Gefragt auf der ganzen Welt; angekommen in Bologna

Nicht erst nach ihrem Bayreuther „Holländer“ ist sie eine der gefragtesten Dirigentinnen der Welt. Sie hat sich für den Chefposten an einem Haus entschieden, an dem sie vor allen Dingen kreativ sein kann. Seit Januar leitet sie das Orchester des Opernhauses in Bologna. Während einer Probepause in Wien erklärt sie: „Das Wichtige in Bologna ist, dass alle gemeinsam an einem Konzept arbeiten: der Bürgermeister, der Intendant und jeder einzelne Musiker. Es geht hier um Leidenschaft, um den unbedingten Willen zur Musik.“ Lyniv will die symphonische Qualität des Orchesters erhöhen, am romantischen Repertoire arbeiten und gleichzeitig mit neuen technischen Aufnahmemöglichkeiten experimentieren. Letztlich geht es Lyniv um das, worum es Petrenko schon immer gegangen ist: musikalische Perfektion. 

Oksana Lyniv scheint die logische Konsequenz der Evolution des Dirigentenmythos zu sein. In Bologna beerbt sie eine Ahnenfolge alter Maestro-Alpha-Urtypen. Ihre Amtsvorgänger waren der stets schreiende Sergiu Celibidache, der heutige Chef der Mailänder Scala, Riccardo Chailly, der Deutsche Christian Thielemann und der aufgrund von #Metoo-­Vorwürfen umstrittene Dirigent Daniele Gatti.

Apropos Christian Thielemann: Der deutsche Großmeister des romantischen Repertoires hat in kurzer Zeit allerhand Niederlagen einstecken müssen. Zunächst wurden seine Staatskapelle Dresden und er bei den Salzburger Osterfestspielen rausgeworfen, dann wurde seine Position als Musikdirektor in Bayreuth nicht verlängert, und letztlich hatte auch die Stadt Dresden beschlossen, sich von ihm zu trennen. Das Erstaunliche ist, dass Thielemann sich mit all diesen Niederschlägen arrangiert zu haben scheint. „Wissen Sie“, sagt er, „je älter ich werde, desto weniger habe ich Lust, mich aufzuregen. Worum es doch in Wahrheit geht, ist die Möglichkeit, möglichst oft möglichst schöne Musik mit möglichst tollen Orchestern zu machen.“

Die Zukunft des Dirigentenberufs

Im Gegensatz zu alten Haudegen wie Barenboim, die noch immer an alter Macht klammern, scheint Thielemann inzwischen die Vorteile seiner Freiheit erkannt zu haben. Erst kürzlich hat er mit jenem Orchester, das ihn nicht mehr als Chef haben wollte, mit seiner Sächsischen Staatskapelle, schier traumhaft in der „Aida“-Premiere der Semperoper musiziert. Auch ohne Chefposten wird Thielemann wohl auch in Bayreuth wieder für musikalische Höhepunkte sorgen. Ihm ist es gelungen, sich auf das Eigentliche zu konzentrieren, auf das perfekte Musizieren. Genau das macht einen Dirigenten der Zukunft wohl aus: seine Freiheit! Es wird weniger um Eitelkeiten gehen als um den Wert des musikalischen Könnens und um das Team, das man um sich vereint.

Wenn über die Zukunft der Klassik und über den Wandel des Dirigentenberufs geschrieben wird, ist viel über die anstehende Epoche der Dirigentinnen zu lesen. In der Regel wird dann eine Phalanx von Frauennamen aufgeführt, die diesen Trend vermeintlich unter Beweis stellen. Tatsächlich verpflichten derzeit viele Orchester bewusst Dirigentinnen, aber der wirkliche Vormarsch der Frauen in musikalischen Führungspositionen wird wohl noch auf sich warten lassen. Das Problem liegt im Nachwuchs. „80 Prozent der Bewerber bei Studienplätzen sind männlich“, erklärt der Dirigent und Münchner Musikprofessor Marcus Bosch, „und es ist für mich nicht leicht, meinen männlichen Absolventen zu erklären, dass sie während des Studiums in der Überzahl sind, am Ende aber 50:50-Quoten bei der Benennung von Frauen in Generalmusikdirektor-Positionen gelten sollen.“

Bosch glaubt, dass für eine anhaltende Gleichberechtigung von Dirigentinnen noch mehr für den Nachwuchs getan werden muss, dafür, dass Frauen sich überhaupt entscheiden, diesen Berufsweg einzuschlagen. Eine Perspektive, die auch Marie Jacquot teilt. „Die Verantwortung, die wir als Dirigentinnen haben, liegt im Vorbildcharakter, den wir verkörpern“, sagt sie und legt Wert darauf, dass am Ende bei jeder Entscheidung natürlich die Qualität den Ausschlag gibt: „Ich will nicht die Geeignetste unter den Frauen sein, sondern die Geeignetste von allen.“

Mit Fragen zur Perfektion

Was die neue Generation von Dirigenten ausmacht, scheint ihre unmittelbare Leidenschaft zu sein, die derzeit kaum ein anderer so energisch verkörpert wie Yoel Gamzou. Der US-israelische Dirigent sprengt alle Konventionen. Für ihn liegt die Grundlage aller Musik in den Noten, in der Demut vor dem Komponierten, dabei betet er eine Partitur nicht an, sondern nutzt die Freiheit zur Deutung ihres Sinnes. 

Gamzou ist einer, der so lange nach dem „Warum“ fragt, bis er sein Gegenüber damit nervt. Er begann sieben Musikstudiengänge an unterschiedlichen Einrichtungen und brach alle ab, weil seine Fragen nach dem Warum nicht beantwortet wurden. Irgendwann campierte er tagelang in der Nähe des Bahnhofs seines großen Idols, des italienischen Dirigenten Carlo Maria Giulini, um am Ende eine zehnminütige Audienz zu bekommen. Schließlich wurde Gamzou zweieinhalb Jahre lang einziger Schüler der Dirigentenlegende. „Giu­lini war ein musikalisches Vorbild, aber auch als Mensch“, sagt Gamzou, „der Einzige, dem ich vertraute, weil er mir nicht das Richtig und Falsch der Musik erklärte, sondern mir andauernd nur Fragen stellte, damit ich mein Richtig und Falsch finden konnte.“

Musik-Seilschaften haben ausgedient

Bis heute ist genau das für den jungen Dirigenten das wichtigste Handwerkszeug eines Musikers. Und jemand wie Gamzou hat auch keine Angst, sich mit dem Establishment anzulegen. Seine Generalmusikdirektorenstelle in Bremen hat er an den Nagel gehängt. Auch weil er keine Lust mehr auf das verstaubte Dramaturgentheater seines Intendanten Michael Börgerding hatte, darauf, dass die Musik nicht an erster Stelle steht, darauf, dass er für einen John-Lennon-Abend, den er arrangiert hat, kämpfen musste, bis der zur erfolgreichsten Show des Bremer Theaters wurde. Gamzou schmiss hin. Ohne Plan B. Inzwischen dirigiert er regelmäßig an der Münchner Staatsoper, hat gerade sein Debüt an der Staatsoper in Wien gegeben – einer, von dem man hören wird.

Der Mythos Maestro ist im Wandel, der Rausschmiss von Valery Gergiev in München war mehr als ein politisches Zeichen. Er war auch ein Symbol, dass alte Netzwerke in der Klassik derzeit hinterfragt werden, dass die Machoklassik vorbei ist, dass politische und gesellschaftliche Musik-Seilschaften nicht mehr sicher sind. Die Klassik entdeckt gerade in dieser Krisenzeit ihre alte Relevanz neu, merkt, was sie in den Corona-Tagen so schmerzhaft vermisst hat: ihre Bedeutung. Die aber steht und fällt mit der Glaubwürdigkeit, der Leidenschaft, den Zielen und der Arbeitsweise ihrer Dirigenten – und da stellen sich viele Orchester gerade ganz neu auf. 

 

Dieser Text stammt aus der April-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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