Der Flaneur - Marcel Proust und die Digitalisierung

Die Digitalisierung kann vieles entzaubern. Piloten und Ärzte sind auch nur Menschen vor Computern. Sogar Weinkenner können nicht mit modernen Apps mithalten. Zumindest in französischer Literatur macht die Technik unserem Kolumnisten Stefan aus dem Siepen nichts vor.

Würde vermutlich sogar eine Wein-App nutzen: Daniel Craigs James Bond (l.) / dpa
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Autoreninfo

Stefan aus dem Siepen ist Diplomat und Schriftsteller. Von ihm erschien zuletzt im Verlag zu Klampen „Wie man schlecht schreibt. Die Kunst des stilistischen Missgriffs“. (Foto: © Susanne Schleyer / autorenarchiv.de)

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Im Flugzeug begrüßt der Pilot vor dem Start über Lautsprecher die Passagiere. Dabei fällt der Satz: „Die errechnete Flugzeit beträgt eine Stunde und 20 Minuten.“ Vor ein paar Jahren hätte es noch geheißen: „Unser Flug wird eine Stunde und 20 Minuten dauern.“ Das ist, nicht nur für Sprachpedanten, ein festhaltenswerter Unterschied. Jeder weiß, dass der Kapitän die Flugzeit nicht selbst ausrechnet; doch bisher wahrte er den Schein und verkündete sie als eine eigene Erkenntnis. Solche Camouflagen werden ungebräuchlich, sie passen nicht zur immer vollständigeren Computerisierung. So tritt der Pilot nur noch als Bote auf, der bescheiden weiterreicht, was der Bildschirm ihm mitteilt. Immerhin sagt er noch: „Wir werden in Kürze starten“ statt: „Ich schalte gleich den Autopiloten ein.“ Doch warten wir ein paar Jahre ab.

Der moderne Arzt hat auf seinem Schreibtisch einen Computer stehen, und gelegentlich blickt er, während er mit dem Patienten spricht, auf den Bildschirm, um sich Rat und Stichwörter zu holen. Früher nahm man an, dass der Arzt „alles wusste“, denn er war nun einmal der Arzt; zwar lag das Lebensfremde dieser Annahme auf der Hand, doch man ließ sich guten Mutes darauf ein. Steigert sich jetzt das Vertrauen des Patienten, wenn der Arzt ihm mit schöner Offenheit zu erkennen gibt, dass er auf Hilfe angewiesen ist? Die meisten wünschen sich, von einem Menschen aus Fleisch und Blut behandelt zu werden, der sein Wissen nicht an eine Maschine delegiert. Sätze wie „Laut Computer haben Sie noch sechs Monate zu leben“ sind aus doppeltem Grund unwillkommen.

Die Weinkenner-App

Es gibt eine App, mit der sich die Qualität von Weinen bestimmen lässt. Man fotografiert das Etikett auf der Flasche, und der Computer ordnet den Wein in eine Skala von 1 bis 10 ein. Mein älterer Sohn untersuchte mit dieser App meinen Weinvorrat, und ärgerlicherweise fand er heraus, dass ich keine einzige wirklich gute Flasche besitze. So untergräbt der Computer das Ansehen der Eltern!

Man kennt die Szene aus älteren James-Bond-Filmen: „Ah – ein 61er Mouton Rothschild“, sagt Roger Moore und zieht die Brauen hoch. „Ich gratuliere – Sie haben einen ausgezeichneten Geschmack.“ Solche Sätze klingen inzwischen angestaubt. Aus Daniel ­Craigs coolem Mund erwartet man eher: „Laut meiner Wein-App …“

Der hilfsbereite Nichtswisser

Bei beruflichen Besprechungen ist man häufig von Leuten umgeben, die zwar keine großen Kenntnisse besitzen, dafür aber umso mehr googeln. Wenn über eine Sachfrage gestritten wird, ziehen sie flugs ihr Smartphone zurate und rufen: „Ich hab’s mal gegoogelt!“ Früher gab es den Typ des Alleswissers, der seinen Mitmenschen auf die Nerven fiel, weil er sie selbstgefällig belehrte; an seine Stelle ist der hilfsbereite Nichtswisser getreten, der alles auf seinen Bildschirm zaubert. Ohne es zu wollen, erklärt er das Wissen der anderen für vorläufig und unzuverlässig: Dem Computer steht das entscheidende Wort zu. Keine Ahnung haben wir alle, doch zum Glück gibt’s Wikipedia!

Der Computer mischt sich auch dann ein, wenn er nicht darum gebeten wird. Wer überlegen ist, hat die Pflicht, dem Unterlegenen zu helfen – auch unverlangt. Letztens schrieb ich einem Freund eine Kurznachricht, in der das Wort „Proust“ vorkam. Zugegeben – eine seltene Vokabel, besonders in Kurznachrichten. Der Computer hielt sie denn auch für einen Tippfehler, und fürsorglich wandelte er sie um: Aus Proust wurde „Prosit“. Das bereitete mir Vergnügen, denn es zeigte, dass ich, zumindest in französischer Literatur, der Beschlagenere bin. Doch warten wir ein paar Jahre ab.

 

Dieser Text stammt aus der Februar-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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