Mehr Demokratie wagen - Zeitenwende? Ja, aber dann richtig!

Die Tatsache, dass es offenbar eines Krieges bedarf, um eine „Zeitenwende“ auszulösen, zeigt, wie sehr wir eine brauchen. Entscheidend hierfür ist aber nicht die Wehrhaftigkeit einer Demokratie nach außen, sondern dass wir sie endlich wieder mit Leben füllen. Denn die Bedrohungen der Freiheit kommen nicht nur von außen, sondern vor allem von innen.

Ändert sich in unserer Gesellschaft nur dann etwas, wenn Putin uns in den Krisenmodus versetzt? / dpa
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Autoreninfo

Matthias Heitmann ist freier Publizist und schreibt für verschiedene Medien. Kürzlich hat er das Buch „Entcoronialisiert Euch! Befreiungsschläge aus dem mentalen Lockdown“ veröffentlicht. Seine Website findet sich unter www.zeitgeisterjagd.de.

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Krisen und Kriege sind die Zeiten großer Worte und Gesten. Derzeit macht der Begriff der „Zeitenwende“ die Runde. Als Folge von Russlands Krieg gegen die Ukraine scheint die westliche Welt aus dem Dornröschenschlaf zu erwachen. Vor nicht allzu langer Zeit hatte der französische Präsident Emmanuel Macron noch den Hirntod der Nato diagnostiziert. Nun scheint es, als wäre das nordatlantische Bündnis munter wie nie und der „Kalte Krieg“ nie zu Ende gegangen.

Ganz offensichtlich braucht die westliche Welt einen äußeren und klar benennbaren Feind, um sich ihrer Handlungsfähigkeit zu erinnern. Der Spiegel bezeichnet Putin bereits ironisch als „Einiger Europas“. Aber nicht nur das, denn plötzlich sind auch versteinerte europäische Politblockaden überwindbar. Die aktuellen Entwicklungen erinnern an ein Erdbeben, bei dem sich über viele Jahre aufgebaute Spannungen zwischen tektonischen Platten abrupt entladen und sich die Landschaft sprunghaft verändert. Und erneut zeigt sich: Politische Dynamik ist außerhalb einer Notsituation von historischer Dimension kaum noch denkbar. Globale Klimakatastrophe, lokale Umweltkatastrophen, lokale Atomkatastrophen, der Untergang des Abendlandes, Flüchtlingsschwemmen, Pandemien und jetzt der drohende Flächenbrand in Europa – unterhalb des Levels einer ordentlichen Apokalypse kommt hier politisch nichts mehr in Gang.

Der Notstand als Motor des Fortschritts?

Diese zunehmende Krisenfokussierung verändert Gesellschaft und Politik in mehrfacher Hinsicht: Zum einen stumpfen die Menschen ab und entfernen sich immer weiter von dem, was man einst als Normalität bezeichnete. Diese erscheint heute vielen wie ein Leben, dessen Unbekümmertheit fast schon verantwortungslos ist. Zum anderen setzt sich in den Köpfen der Menschen die Vorstellung fest, dass in der „Normalität“ Veränderungen unmöglich sind. Eine Rückkehr in diese Normalität wirkt da wie ein obszön-reaktionärer Wunsch, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und dort anzuhalten. Tatsächlich sind die „normalen“ politischen Prozesse so bürokratisiert und verstopft, dass Veränderungen sogar bewusst verhindert werden. Es liegt daher nahe, das eigene politische Anliegen als Verhinderung einer bevorstehenden Katastrophe anzupreisen, um in den weitaus agileren „Notstandsmodus“ zu wechseln.

Auf diese Art erreichte Durchbrüche durch die dicke Schlammschicht des Politmanagements sorgen zwar kurzzeitig für eine hohe Veränderungsdynamik. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, wie erstarrt unsere Demokratien im Normalfall sind. Und es werden unangenehme Fragen aufgeworfen. So auch jetzt: Warum kann die Bundesregierung zur Modernisierung der Bundeswehr ein „Sondervermögen“ von sagenhaften 100 Milliarden Euro lockermachen, während sie sich außerstande sah, für die überfällige Modernisierung des Gesundheitswesens oder der Bildungslandschaft auch nur Bruchteile dieser Summe bereitzustellen? Warum mussten von der Corona-Politik wirtschaftlich schwer getroffene Menschen Unterstützungsleistungen trotz anderslautender Versprechungen zurückzahlen, warum wird deren „Not“ nicht angemessen gewürdigt? Warum scheitert Deutschland, das sich als „Brückenbauer“ zwischen Ost und West geriert, daran, die eigenen Brücken instand zu halten und Infrastrukturen aller Art rechtzeitig zu erneuern? Warum baut Deutschland Offshore-Windparks in der Nordsee, schafft es aber nicht, Stromtrassen in den Süden durchzusetzen? Fragen über Fragen.

Westliche Demokratien im Wachkoma

Man kann es sich leicht machen und einfach behaupten, dass die vermeintliche Zeitenwende ohnehin an den bürokratischen Klippen des alltäglichen Politikbetriebs zerschellen werde. Möglicherweise liegt man mit dieser Einschätzung am Ende sogar richtig – doch das eigentliche Problem ist grundlegender. Wenn es nur an der mangelhaften Umsetzung läge, wäre dies kein politisch-gesellschaftliches, sondern eher ein technisch-organisatorisches Defizit. Tatsächlich aber sind die großen westlichen Gesellschaften insgesamt immer weniger in der Lage, vereinte, vereinende und koordinierte Anstrengungen zu unternehmen, um zuvor mehrheitlich verabschiedete Vorhaben konsequent zu verwirklichen.

Offenbar fehlt es an klaren Orientierungen sowie an grundlegenden Überzeugungen, aus denen Entschlossenheit erwachsen kann und an denen sich Menschen festhalten oder reiben können. Es mangelt aber auch an funktionierenden Mechanismen, um diese Prozesse zu moderieren und das Gemeinwesen insgesamt voranzubringen. Wirft man einen Blick von außen auf die Gesellschaften des Westens, so fallen ganz andere prägende Eigenschaften auf: individuelle Isolation, wachsendes Misstrauen zwischen Gesellschaft und Politik statt Gemeinsinn, zunehmende Regulierung des Alltags statt Entfaltung von Freiheit, fortschreitende Reglementierung des Wirtschaftslebens statt Dynamik und Fortschritt, Bürokratisierung von politischen Prozessen statt demokratischer Integration, Entzweiung der Zivilgesellschaft in immer kleinere Einheiten statt solidarischer Vielfalt sowie die Entstehung abgeschotteter Parallelgesellschaften kultureller, politischer, ethnischer oder religiöser Natur statt eines toleranten und weltoffenen Miteinanders in Unterschiedlichkeit.

All diese Trends verstärken die Entpolitisierung und Demokratiemüdigkeit, die in nahezu allen westlichen Staaten seit Jahrzehnten spürbar ist. In der Vergangenheit rühmte sich der Westen für seine Offenheit, seine Vielfalt und seine Agilität und führte den Triumph im Systemkonflikt gegen den Sozialismus genau darauf zurück. Heute werden gerade diese Werte gerne als Schwächen und die demokratiefreie Kommandowirtschaft Chinas als nahezu übermächtig effizient beschrieben. Die westliche Überheblichkeit ist tiefer Verunsicherung und Selbstzweifeln gewichen. Werden derart irritierte Gesellschaften dann mit unbekannten, schwer greifbaren und unsichtbaren Bedrohungen konfrontiert – wie etwa Epidemien –, dann entsteht zwar kurzfristig eine thematische Fokussierung. Sie reicht aber nicht aus, um die über Jahre entstandenen Widersprüche und Spaltungen zu überwinden. Im Gegenteil: Die sozialen und politischen Folgen der Corona-Krise werden noch spürbar sein, wenn die eigentliche Gefahr schon lange gebannt sein wird.

Angst frisst Freiheitsdrang

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum sich jetzt neben dem Gefühl der Angst vor einer weiteren Eskalation des Ukraine-Konflikts bei vielen Menschen noch ein weiteres einstellt: das Gefühl einer gewissen Erleichterung, da nunmehr plötzlich Veränderungen möglich sind und etliche Verkrustungen und Lähmungen über Nacht hinweggefegt werden. Die Geschwindigkeit, mit der Deutschland über Jahrzehnte festgemauerte Grundüberzeugungen seiner Außen-, Sicherheits- und Europapolitik zur Disposition stellt, suggeriert eine innere Dynamik und Handlungsfähigkeit, wie sie seit Jahrzehnten nicht spürbar war. Tatsächlich ist der Eindruck nachvollziehbar, dass man trotz der aktuellen Krisenlage plötzlich ein bisschen besser Luft bekommt – und dies nicht nur, weil auf einmal das Maskenthema ein wenig in den Hintergrund geraten ist.

Man wünschte sich, das Land könnte derlei Veränderungswillen auch ohne Bedrohung von außen und auch zu anderen Themen aufbringen. Doch genau dies gilt es zu bezweifeln. Es stimmt zwar, dass sich plötzlich die Aufspaltung der Gesellschaft in Geimpfte und Ungeimpfte im Rahmen von Antikriegsdemonstrationen in ein großes Nichts aufzulösen scheint. Und auch wenn die Menschen die „krisenbedingte Wiedervereinigung“ einer sonst so zersplitterten Gesellschaft als positive Erfahrung wahrnehmen – die alten Gräben werden schnell wieder aufreißen, sollte die Krise an Angstpotenzial einbüßen. Denn die Veränderungen der politischen Prioritätensetzung sind nicht das Ergebnis einer eigenen kritischen Selbstanalyse, sondern von außen aufgezwungen und somit rein reaktiver Natur. Für ein grundlegendes Umsteuern bedürfte es einer Zeitenwende, die uns nicht gegen unseren Willen aufgedrückt wird, sondern von uns selbst gewollt und definiert wird.

Krisen liefern Anstöße für Veränderung, nicht deren Richtung

Wenn der grüne Bundeswirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck plötzlich die Verlängerung der Laufzeiten von Kohlekraftwerken in den Mund nimmt, dann nicht, weil ein grundlegender Umdenkprozess stattgefunden oder er freiwillig seine grüne Woke-Ideologie gegen olivgrüne Realpolitik ausgetauscht hat. Tatsächlich dürfte eine Beruhigung der Bedrohungslage zu einer schnellen Rückkehr alter Überzeugungen führen. Es sei denn, die Gesellschaft nimmt diese Krise zum Anlass, über ihre eigene Beschaffenheit, ihre eigene Ausrichtung und über die Art, wie in den vergangenen Jahren mit internationalen wie auch mit inneren Konflikten umgegangen wurde, zu überdenken. Dass dies Not täte, liegt auf der Hand: Stagnation, Verknöcherung und Selbstzerfleischung haben ein Ausmaß angenommen, das ihren Fortbestand auch ohne russische Aggression mehr und mehr infrage stellt.

Ein Blick auf unsere politische Debattenkultur offenbart, dass wir dem Putin-Regime tatsächlich ideologische Munition für die Rechtfertigung seiner Kriegspolitik liefern. Nimmt man die schrillen Ausprägungen der täglichen politischen Auseinandersetzungen für bare Münze, dann wimmelt es in Deutschland nur so von Nazis, und zwar unterschiedlicher Richtungen und Farben: Man hört (Sch)Impftiraden gegen „Corona-Nazis“ und erklärt Menschen, die konstatieren, dass Frauen keinen Penis haben, zu „Gender-Nazis“. Dazu kommen „Klima-Leugner“ und „rechter Abschaum“ in Gestalt von fleischessenden Tier-Genozid-Befürwortern und die Umwelt vergasenden Autofahrern, nicht zu vergessen die klassischen Vorurteile gegen Migranten und Muslime. Dieses aufgehetzte und vergiftete soziale Klima, in dem rationale und inhaltsorientierte Auseinandersetzungen kaum noch möglich sind, führt zu einer Schwächung von Gesellschaften; es macht sie angreifbar, denn es zerrüttet, worauf Bundespräsident Steinmeier so gebetsmühlenartig wie blutleer und verzweifelt hinweist: „die Stärke der Demokratie“.

Freiheit ist mehr als Militär

Wenn wir wirklich an der Stärke unserer Demokratie arbeiten wollen, dann braucht es dafür mehr als Wehrhaftigkeit gegen äußere Bedrohungen. Es braucht einen inneren Aufbruch, der sich auch mit den unbequemen Fragen beschäftigt, die die aktuelle Ukraine-Krise aufwirft. Die seit Jahrzehnten zu beobachtende Doppelmoral westlicher Außenpolitik im Umgang mit eigentlich fundamentalen Überzeugungen wie der nationalen Souveränität liefert Putin nicht nur brauchbares Propagandamaterial, sondern hat auch zur innenpolitischen Lähmung und Entfremdung vieler Menschen beigetragen. Die Aufstockung von Verteidigungsetats trägt nicht zur Belebung der Demokratie bei.

Es wäre zu begrüßen, wenn der derzeit allgegenwärtige Anspruch, „die westlichen Werte der Demokratie und der Freiheit“ zu verteidigen, ernster genommen würde. Dazu würde es gehören, Freiheit und Demokratie nicht nur als Plakataufschrift auf Antikriegsdemos oder als wohlfeile Beschreibungen militärischer Operationen, sondern auch als Handlungsmaxime in der politischen Praxis verteidigt zu sehen. Daher brauchen wir ein Umdenken in Bezug auf unseren Umgang mit Andersdenkenden. Es sind Werte wie Toleranz und Meinungsfreiheit, die Menschen mit unterschiedlichen Meinungen an einen Tisch bringen und damit die Gemeinschaft insgesamt robuster machen, da sie lernt, aus Unterschieden Stärke zu entwickeln, ohne sich spalten und aufhetzen zu lassen. Diese Art der nationalen Souveränität – Souveränität im Umgang mit der eigenen Vielfalt – strahlt auch nach außen und kann die Demokratie zu einem Projekt machen, an dem Menschen nicht nur teilnehmen wollen, sondern auch die Bereitschaft erwächst, es zu verteidigen.

Für eine echte Zeitenwende

Von der etablierten Politik ist diese Belebung des demokratischen Lebens nicht zu erwarten, schließlich ist sie selbst Teil des Problems und Produkt der Erdrosselung demokratischer Freiheit. Schon jetzt wird deutlich, dass sich die jetzt zutage tretende überraschende Entschlossenheit im politischen Umsteuern fast ausschließlich auf die Sicherheits- und Verteidigungspolitik konzentrieren wird. Alles Darüberhinausgehende muss aus der Gesellschaft und von den einfachen Menschen kommen. Und wenn es kommt, könnte es für diejenigen, die jetzt an den Schalthebeln der Macht stehen, ungemütlich werden.

Eine echte Zeitenwende wäre eine, die nicht mehr die Kontrollierbarkeit, Überwachung und Bevormundung der vermeintlich unvernünftigen Bürger zum Ziel hätte, sondern Freiheit und Demokratie als eigentliche Antriebskräfte der Gesellschaft anerkennt und stärkt. Es sind dieselben Kräfte, für die in diesen Tagen die Menschen in der Ukraine bewundert werden und von der man hofft, dass sie auch von den Menschen in Russland Besitz ergreifen – warum sollten wir diese Kräfte nicht auch aufbringen können?

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