Debatte um Trans- und Intersexualität - Wenn das binäre Geschlechtersystem die eigene Agenda stört

In der aktuellen Debatte über das binäre Geschlechtersystem und Trans- und Intergeschlechtlichkeit geht es längst nicht mehr nur um den individuellen Lebensentwurf des Einzelnen, sondern darum, dass Aktivisten im Sinne der eigenen Agenda immer selbstverständlicher an den Grundfesten unserer Gesellschaft rütteln. Das zu thematisieren ist weder transphob noch Ausdruck eines reaktionären Geistes. Sondern angesichts der weitreichenden Konsequenzen, die mit einem trans-affirmativen Zeitgeist einhergehen, längst überfällig.

Gay-Pride-Teilnehmerin in Madrid / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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„Ich habe überlegt, ob eine Reaktion den Beitrag nicht noch aufwertet, was er nicht verdient hat. Da er aber stellvertretend für eine immer aggressivere Hetze vor allem gegen trans Menschen steht, entgegne ich an dieser Stelle stellvertretend für alle, die diese Möglichkeit nicht haben“, leitete jüngst der Queer-Beauftrage der Bundesregierung, Sven Lehmann (Grüne), seine Erwiderung in der Welt auf einen dort erschienenen Gastbeitrag ein. Darin hatten fünf Gastautoren – darunter der Münchner Jugendpsychiater und Experte für Geschlechtsdysphorie Alexander Korte – dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk vorgeworfen, bei Aufklärungsbemühungen rund um Trans- und Intersexualität journalistische Grundsätze nicht einzuhalten, biologische Tatsachen zu ignorieren und sich im Prinzip vor den Karren der Transverbände spannen zu lassen.

In der Folge braute sich – wenig überraschend, aber in der Intensität dann doch bemerkenswert – ein geballter Sturm zusammen, der über Gastautoren und Medium hinwegzog. Also sah man sich bei der Welt nicht nur bemüßigt, den Queer-Beauftragten der Bundesregierung für einen Meinungsbeitrag über die angebliche Transfeindlichkeit genannter Gastautoren anzuheuern. Auch Springer-Chef Mathias Döpfner machte sich auf, in einem weiteren Artikel klarzustellen: „Unser Haus steht für Vielfalt.“ Dafür reihte er Floskel an Floskel und setzte sich wenig sachlich, dafür ziemlich emotional mit dem ÖRR-kritischen Beitrag auseinander. Döpfner schrieb unter anderem:

„Der ganze Ton ist oberflächlich, herablassend und ressentimentgeladen. Nicht weit entfernt von der reaktionären Haltung: Homosexualität ist eine Krankheit. Transsexualität ist Einbildung. Statt des freiheitlichen Geistes des „jeder soll nach seiner Façon selig werden“, raunt es hier vom Schutz der „sittlichen Überzeugungen der Bevölkerung“. Der Text hat einen Sound, der für jeden freien toleranten Geist unangenehm ist.“

Hierzu folgende Anmerkungen: Ein wirklich freier und toleranter Geist – von dem Döpfner schreibt – müsste erstens sehr wohl in der Lage sein, Texte nicht nach ihrem „Sound“ und dem Gefühl, das er beim Rezipieren hat, zu beurteilen, sondern nach dem konkreten Inhalt – und sich die Frage stellen, ob an der darin skizzierten Kritik etwas dran sein könnte. Denn die Basis für jenen Gastbeitrag in der Welt, der letztlich zum Shitstorm gegen das Blatt führte, ist ein 50-seitiges Dossier samt Aufruf, der nicht nur von den fünf Gastautoren unterzeichnet wurde, sondern von weiteren rund 120 Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen. Darin heißt es unter anderem:

Wir, die Unterzeichner, beobachten als Wissenschaftler seit langem, wie sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk die Darstellungen der „queeren“ Transgenderideologie zu eigen macht und dabei naturwissenschaftliche Tatsachen leugnet. Ausgangspunkt ist stets die Falschbehauptung, es gäbe nicht nur ein männliches und weibliches Geschlecht, sondern eine Vielfalt von Geschlechtern bzw. Zwischenstufen zwischen Mann und Frau. Der klar umrissene Begriff des Geschlechts, das die anisogame Fortpflanzung ermöglicht, wird vermengt mit psychologischen und vor allem soziologischen Behauptungen, mit dem Ergebnis, dass konzeptionelle Unklarheit entsteht. (...) Das Thema „Trans“ wird durch die Sendungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks an Kinder und Jugendliche herangetragen mit dem Ergebnis, dass sich die Zahl der wegen Geschlechtsdysphorie behandelten Kinder und Jugendlichen in weniger als zehn Jahren verfünfundzwanzigfacht hat.

Und zweitens: Indem Döpfner das liberale „Jeder soll nach seiner Façon selig werden“ bemüht, ignoriert der Springer-Chef, dass es in der aktuellen Debatte über das binäre Geschlechtersystem und Trans- und Intergeschlechtlichkeit längst nicht mehr nur um den individuellen Lebensentwurf des Einzelnen geht. Sondern dass bestimmte Aktivisten – bisweilen überaus aggressiv und flankiert von zahlreichen Journalisten bei ARD und ZDF – immer selbstverständlicher an den Grundfesten unserer Gesellschaft rütteln, inklusive des binären Geschlechtersystems. Das zu thematisieren, ist eben nicht Ausdruck eines reaktionären Geistes, sondern – gemessen an den Konsequenzen, die damit für alle Menschen im Land einhergehen würden – längst überfällig.

Entfernung der Gebärmutter und der Eierstöcke

Gleichwohl stehen die Oberflächlichkeit, mit der sich Döpfner dem Thema angenommen hat, und der Transphobie-Vorwurf, der von Lehmann in Zusammenhang mit dem in der Welt erschienenen Gastbeitrag erhoben wurde, stellvertretend für eine über die vergangenen Jahre stetig gewachsene Unterkomplexität, mit der hierzulande nicht nur über die Mann-oder-Frau-Frage gesprochen wird, sondern auch über Themen wie Geschlechtsdysphorie – das Gefühl, im falschen Körper geboren zu sein –, angebliche Geschlechtsidentitäten wie non-binär oder gender-fluid und über Transitionen, also den Geschlechtswechsel auf dem Papier und durch operative Eingriffe, namentlich Sterilisationen, Amputationen und anderes.

Ernüchternd ist bei dieser Diskussion unter anderem, dass man als Außenstehender den Eindruck bekommen könnte, Deutschland sei ein geradezu transfeindliches Land mit einer transfeindlichen Gesetzgebung – und es herrsche im Sinne der Freiheit und der Selbstbestimmung des Einzelnen dringend Handlungsbedarf. Das Gegenteil ist der Fall. Zunächst fast unbemerkt von der breiten Bevölkerung, hat sich in den vergangenen Jahren an entscheidenden Stellen ein trans-affirmatives Klima entwickelt, das es kaum noch möglich macht, sich kritisch mit dem Thema auseinanderzusetzen, ohne sich den Vorwurf der Transphobie einzuhandeln.

Viele Medien machen da längst mit, nicht nur die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, Schulen ebenso und die Ampel-Regierung könnte noch dieses Jahr das Transsexuellengesetz streichen und durch ein Selbstbestimmungsgesetz ersetzen, das unter anderem vorsehen dürfte, dass Kinder bereits im Alter von 14 Jahren einfach zum Standesamt gehen und ihr Geschlecht wechseln können. Ungeachtet der Tatsache übrigens, dass Kinder und Jugendliche in der Regel noch gar nicht in der Lage sind, vollumfänglich zu begreifen, wie sich ihre Sexualität als Erwachsener später ausdrücken wird. Geschweige denn, ob eine im Jugendalter eingeleitete Transition in zehn oder fünfzehn Jahren immer noch als richtige Entscheidung gewertet wird. Stichwort: Detransition, also die Rückkehr zum Status quo ante, die allerdings nie wieder wirklich gelingt, sobald sich ein Patient für eine Transition entschieden hat.

Geschlechtsdysphorie als Menschenrecht

Die Wahrheit ist auch: Das seit Jahrzehnten existierende und in der Zwischenzeit aktualisierte „Transsexuellengesetz“ eröffnet grundsätzlich jedem Bürger bereits die Möglichkeit, sich im Sinne einer Geschlechtsumwandlung bestimmten Prozessen zu unterziehen; von der Einnahme sogenannter Cross-Sex-Hormone, also Testosteron und Östrogenen, bis hin zur Entfernung der Gebärmutter und der Eierstöcke respektive der Hoden und des Penis. Im Detail müsste das Transsexuellengesetz vielleicht tatsächlich reformiert werden. Hier tut es dann auch Not, jene Menschen einzubinden, die eine (teilweise) Transition hinter sich haben. Doch eine Reform ist etwas anderes als ein Freifahrtschein für irreversible Eingriffe in das eigene Leben und in den eigenen Körper. Doch darum geht es den Aktivisten in der Sache: die bestehenden Hürden nicht auf ihren Sinn oder Unsinn abzuklopfen, sondern sie unisono aus dem Weg zu räumen. Und hier schließt sich der Kreis zur eingangs erwähnten Diskussion: Damit das gelingt, soll im ersten Schritt das binäre Geschlechtersystem negiert und letztlich aufgelöst werden, weil es selbstredend die eigene Agenda stört.  

Doch spätestens hier wird aus einer individuellen Frage eine gesamtgesellschaftliche Fragestellung, die sich mit hanebüchenen Verweisen auf den Liberalismus und mit irgendwelchen Transphobie-Vorwürfen nicht einfach beiseite wischen lassen. Denn die Frontlinien, und auch das gehört zur Wahrheit dazu, trennen mitnichten einfach die Transfreunde auf der einen und die Transfeinde auf der anderen Seite. Das zeigt sich schon daran, dass sich Transpersonen wie Till Amelung und andere öffentlich dagegen aussprechen, dass sich das eigene Geschlecht ähnlich unkompliziert wechseln lässt wie die Haarfarbe. Vielmehr geht es um die hochkomplexe Frage, welche Folgen damit einhergehen, wenn Geschlechtsdysphorie ausnahmslos affirmativ begleitet und als individuelles Menschenrecht auf Selbstbestimmung gewertet wird – und nicht mehr als „hochkomplexe biologische-psychosoziale Konstellation“ (siehe Interview).

Angststörungen und Depressionen

Genau das aber scheint das primäre Ziel eines aus dem Ruder laufenden Aktivismus zu sein, dem es längst nicht mehr nur darum geht, gesellschaftliche Akzeptanz für sexuelle Minderheiten oder Transsexuelle zu schaffen, was der Autor dieser Zeilen ausdrücklich begrüßt. Sondern darum, jegliche kritische Betrachtung – und sei es durch Psychologen und Psychoanalytiker – als „menschenfeindlich“ zu etikettieren. So will man sich nicht zuletzt wohl aus der eigenen Verantwortung stehlen, sich kritisch mit sich selbst und womöglich mit einer unangenehmen Diagnose auseinanderzusetzen.

Insbesondere bei vielen Kindern und Jugendlichen nämlich, bei denen Genderdysphorie diagnostiziert wird, treten auch andere Störungen auf, darunter Angststörungen und Depressionen oder eine Autismus-Spektrumsstörung. Die entscheidende Frage lautet dann: Leidet ein Patient wirklich unter Genderdysphorie? Oder ist die, vereinfacht ausgedrückt, nur ein Symptom für etwas anderes? Insofern dienen die hohen Hürden nicht zuletzt auch dem Kinder- und Jugendschutz, was sich schon dadurch belegen lässt, dass sich die allermeisten Fälle von Geschlechtsirritationen bei Kindern und Jugendlichen im Laufe der Pubertät von selbst erledigen. Nämlich um die 80 Prozent, sagen Experten.

Werden Kinder- und Jugendliche mit Genderdysphorie allerdings früh affirmativ behandelt, zum Beispiel durch die Verabreichung von Pubertätsblockern, gehen wiederum zwischen 80 bis 90 Prozent über zu Cross-Sex-Hormonen und bis hin zum operativen Weg, ist zu lesen. Welche Schlüsse man daraus zieht, darüber lässt sich selbstredend streiten. Dass solche Zahlen aber genannt und öffentlich diskutiert werden müssen – ohne Scheuklappen und Transphobie-Vorwürfe – versteht sich eigentlich von selbst.

Errungenschaften des Feminismus

Das Thema Genderdysphorie, ihre Ursachen und Folgen, ist das eine. Das andere ist, dass eine wie auch immer geartete Auflösung des binären Geschlechtersystems nicht nur die Argumentation für eine Absenkung der gesetzlichen Hürden für Transitionen vereinfacht. Sie führt im Prinzip auch die hart erkämpften Errungenschaften des Feminismus und der Schwulen- und Lesbenbewegung der vergangenen Jahrzehnte ad absurdum. Dann nämlich, wenn Männer per Sprechakt wieder in sichere Räume für Frauen vordringen können oder Frauen als schwule Männer oder Männer als lesbische Frauen behandelt werden sollen.

Kein Wunder also, dass etwa Alice Schwarzer und die Emma schon länger dagegen anschreiben, dass sich Männer einfach zu Frauen erklären können, und dass sich mittlerweile Lesben- und Schwulenbewegungen gebildet haben, die sich öffentlich mit bestimmten Transaktivisten anlegen – übrigens auch mit dem Queer-Beauftragten der Bundesregierung, der suggeriert, er würde stellvertretend für alle sprechen, die sich zur LGBTQ-Szene zählen lassen. Und es gibt, wie bereits erwähnt, eben auch Menschen, die selbst trans sind, denen die Entwicklung in vermeintlich eigener Sache trotzdem deutlich zu weit geht. Es wäre daher wünschenswert, wenn auch ihre Stimmen mehr Gehör finden. Vor allem im Programm des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Und auch ungeachtet dessen, ob irgendeinem Verlagschef dann der „Sound“ nicht gefällt.

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