Corona-Talk bei Anne Will - Auf ein Glas Custoza mit Frau Keiner

Unter dem Titel „Impfpflicht auf der Kippe, Lockerungen umstritten – planlos in den Corona-Frühling?“ wurde am Sonntagabend bei Anne Will diskutiert. Zu Gast waren die Politiker Karl Lauterbach (SPD), Markus Blume (CSU) und Joachim Stamp (FDP), die Ärztin Jana Schroeder und die Pflegerin Elke Keiner. Vor allem Letztere hinterlässt einen bleibenden Eindruck.

Talkrunde bei Anne Will / Screenshot
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Lassen Sie mich ehrlich sein – und fangen wir von vorne an. Ich hatte am Sonntag einen ziemlich guten Tag. Ich alleine mit mir, eine große Terrasse und einiges zu tun. Also war es eine gute Idee, finde ich, dass mein bester Freund auf ein Glas Custoza – ein sehr schmackhafter italienischer Vino – am Abend noch vorbeikam. Der Punkt ist der: Wenn wir zusammenkommen, halten wir uns an ein ungeschriebenes Gesetz, das da lautet, dass wir uns gegenseitig Lieder vorspielen. Denn „Musik ist eine Reflexion der Zeit, in der sie entsteht“ (Diana Ross).

Vermaledeite Seuche

Eines dieser Lieder war am Sonntagabend das überragende „Freiheit“ von Marius Müller-Westernhagen. Und da saßen wir also, grölten – wie immer – mit dem einen oder anderen Vino im Kopf genau dieses Lied. Und so schön das auch gewesen sein mag, so sehr spülte mein Kopf dieses eine Bild in mein Bewusstsein: Westernhagen beim Impfen – und dass er dafür wirbt, dass uns das, die Impfung, vor dieser vermaleideten Seuche retten wird. Pustekuchen, sage ich. Wohlwissend, dass ich mir damit wenig Freunde mache.

Wissen Sie, die Sache ist die: Ich habe am Wochenende eine Information bekommen, die mir – in der wilden und pfui-kinderlosen Ehe, in der ich lebe – völlig neu war: In Bayern ist es, beziehungsweise war es bis kürzlich noch so, dass, wenn in einem Kindergarten nur ein einziges Kind positiv auf Corona getestet wurde, ja, dass dann alle anderen Kinder daheim bleiben mussten.

„Kontakt-Quarantäne“ nennt sich das – und es macht, Gott sei’s geklagt, den Eltern das Leben richtig schwer, weil es zwar sehr verständnisvolle Arbeitgeber gibt da draußen, aber weil man, sagen wir, so als Elternteil, die Nerven desselbigen eigentlich nicht überstrapazieren will. Und am Ende des Tages werden wir uns ziemlich sicher fragen müssen, warum die ganz Scheiße eigentlich so ist, wie sie ist – und womit wir das eigentlich verdient haben, dass die Ricarda Langs dieser Welt über uns hereinbrechen, als beginne die „Offenbarung des Johannes“ in der Belle Etage der Grünen.

Seuchen-Kladderadatsch

Auch bei Anne Will ging es am Sonntagabend um diese Seuche, die sich immer mehr wegentwickelt von einer epidemiologischen hin zu einer politischen Pandemie. Zu Gast waren unsere Bundesgesundheitskassandra Karl Lauterbach (SPD), die rechte Hand Markus Söders, Markus Blume, seinerseits Generalsekretär der CSU, außerdem Jana Schroeder, Fachärztin für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie. Außerdem Joachim Stamp von der FDP, der Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration in Nordrhein-Westfalen ist, sowie Elke Keiner – neben Schroeder der einzige Gast in der Runde, der weiß, wovon er spricht –, die Geschäftsführerin der Sozialen Dienste Pesterwitz GmbH in Sachsen und dort Leiterin eines Pflegeheims ist.

Der ganze Seuchen-Kladderadatsch ging schon mal gut los mit einer kleinen „Blume versus Lauterbach“-Seuche, pardon, Sache. „Da zeigen sich im praktischen Vollzug erhebliche Defizite“, sagt Blume über die gesetzliche Impfplicht, die immer noch diskutiert wird, obwohl mittlerweile – außer Politikern wie Ricarda Lang von den Grünen –  jeder weiß, dass sie unsinnig ist. Und zur Wahrheit gehört eben auch, dass Markus Söder der letzte Stratege der deutschen Politik ist, und ein Fähnchen im Wind. Gott bewahre, sage ich. „Wir können uns nicht aussuchen, welche Gesetze für uns gelten“, sagt Lauterbach.

Nicht dümmer, als Sie sind

Blume äußert den Verdacht, dass die Ampel „ein bisschen ablenken“ will. Man sei in einer neuen Phase der Pandemie, so Blume. Außerdem hätte er gerne gewusst, ob Lauterbach an diesem Sonntagabend als Gesundheitsminister oder als Privatperson bei Anne Will spricht. Und Lauterbach so: „Also, äh, jetzt haben Sie drei Dinge gesagt, die falsch waren, und danach eine Polemik eingebracht.“ Tschingderassabum.

Lauterbach spreche bei Anne Will als Bundesgesundheitsminister, sagt Lauterbach, weil er als solcher eingeladen worden sei. Und ich denke an einen guten Freund, der ungeimpft ist und zwei Kinder hat, die in Quarantäne müssen, wenn eines von 20 Kindern in einer Kita-Gruppe positiv auf Corona getestet wird. „Stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind“, sagt Lauterbach ziemlich früh zu Blume, der darauf nicht reagiert. Und ich flüstere mir selbst zu, dass sich das Freiheitsversprechen, das eigentlich die Kernidentität des Westens ist, langsam auflöst. Aber die Wege des Westens scheinen eben unergründlich.

Wissen Sie, ich als Bayer besonders – und Sie bestimmt auch, daher möchte ich das gar nicht geringschätzen, dass Sie vielleicht nicht in diesem wunderbaren Bundesland leben – musste in den vergangenen zwei Jahren viel Blödsinn ertragen. Als ob meinereiner die Pandemie besiegen könnte, wenn wir nach 22 Uhr nicht mehr im Sendlinger Augustiner sitzen. Oder, auch das gab es schon, gar nicht mehr vor die Tür gehen dürfen, weil wir offenbar um 22.01 Uhr mehr Risiko sind als um 21.59 Uhr. Und was das betrifft, darf man vielleicht auch einmal sagen, dass es „die Politik“ weitgehend versemmelt hat, ordentlich zu kommunizieren in pandemischen Zeiten und einen Kompromiss zu finden zwischen den Bürgern und der Angst, nicht wiedergewählt zu werden, wenn die Apokalypse kommt. 

Ein schlechtes Gesetz

Karl Lauterbach will die allgemeine Impfpflicht jedenfalls durchsetzen, wiederholt er bei Will. Und es gibt so viele „Ähs“ in seiner Argumentation, dass ich drei und vier und fünf Mal zurückspulen muss, um zu hören, was Lauterbach da vorhat und warum. Stamp von der FDP guckt derweil wie ein Bobby Car. Dann sagt er zur gesetzlichen Impfpflicht: „Jetzt ist die Situation so, dass Herr Söder diesem Gesetz zugestimmt hat, und da kann ich mich nicht breitbeinig hinstellen und sagen, das ist ein schlechtes Gesetz von der Ampel. Sondern, da muss ich sagen, wir haben möglicherweise etwas im Vollzug übersehen, das sich als schwierig erweist.“ Und ja, dieser Satz ist nicht leicht zu verstehen. Das ist die Corona-Politik aber auch nicht.

Die Menschen bräuchten doch Lösungen, sagt Stamp irgendwann, und da stimme ich voll und ganz zu und sage, wir sollten den Quatsch mit der Impfpflicht, allgemein und auch für Pflegekräfte, einfach lassen. Alles andere wäre die Ricarda-Langisierung unserer Corona-Gesellschaft. Die Pflegerin Frau Keiner jedenfalls, ich erwähnte sie anfangs, ist ganz wunderbar. Anne Will, um ein Beispiel zu nennen, hätte gerne gewusst, warum sich nicht alle Pflegekräfte in ihrer Firma impfen lassen. Von 81 festen Mitarbeitern seien 27 („noch“) nicht geimpft, liest Will von ihrem Zettel ab – Schreck lass nach! Frau Keiner so: „Die Gründe für dieses ,noch nicht geimpft‘ sind so vielfältig, wie die 27 Menschen, um die es hier geht.“

Impfstoffe und Mechanismen

Und es wird noch besser: „Es wurde in dieser Runde schon so oft dieses Konjunktiv bemüht: ‚Es könnte in der Pflege schwierig werden.‘ ‚Es könnten Engpässe entstehen.‘ Sie, Sie und Sie sollten die Zahlen doch kennen aus den vergangenen Jahren. Dass die Lage in der Pflege, ich spreche für die Altenpflege, schon sehr, sehr angespannt ist, ist doch nicht unbekannt“, sagt Frau Keiner in Richtung aller Diskutanten, die am Sonntagabend Zeit hatten für ein bisschen Corona-Plausch.  

Lauterbach guckt dann ratlos, Blume auch, wie Kaninchen, wenn's blitzt, und am Ende des Tages bleibt der ganze Kladderadatsch bei genau jenen Menschen hängen, die wie Frau Keiner buckeln, was der demografische Wandel hergibt. „Meine Aufgabe und meine Profession ist es nicht, diesen Kolleginnen und Kollegen Impfstoffe und Mechanismen von Impfungen zu erklären“, sagt sie. Und sie sagt auch: „Ich möchte meine Mitarbeiter nicht in die geimpften Guten und die ungeimpften Schlechten sortieren.“

Will fragt: „Finden Sie es eigentlich richtig, dass jemand, der/die so nah mit alten, mit verletzlichen Menschen arbeitet, sich nicht impfen lässt?“ Und Frau Keiner sagt: „Das finde ich nicht richtig. Aber ich akzeptiere es, weil zu einer Demokratie gehört auch Akzeptanz.“ Und ich sage: Am Ende sitzen wir – geimpft wie ich und ungeimpft wie andere – doch alle in einem Boot. Darauf einen Custoza – und der Wunsch, dass Frau Keiner vielleicht mal auf ein Gläschen vorbeikommt. Sie wäre in München-Sendling jederzeit herzlich willkommen.

 

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