Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier - Einer, der in der Corona-Pandemie nie versöhnte

In seiner Eröffnungsrede beim Katholikentag in Stuttgart beklagt Frank-Walter Steinmeier die tiefen Spuren, die die Corona-Pandemie in der Gesellschaft hinterlassen habe. Die Diagnose ist richtig, und dennoch herrscht Verwunderung über den Bundespräsidenten. Denn Steinmeier ist seiner Rolle als oberster Versöhner der Bundesrepublik in zwei Jahren pandemiegetriebener Politik nicht gerecht geworden. Man kann nicht mahnen und einen, während man gleichzeitig Teile der Bevölkerung stigmatisiert.

Hat selbst Anteil an den tiefen Spuren in der Gesellschaft: Bundespräsident Steinmeier beim Katholikentag / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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„Zwei Jahre Corona-Pandemie haben tiefe Spuren hinterlassen: in den Familien, in den Schulen, in der Arbeitswelt, in der Kultur, im Sport – überall in der Gesellschaft. Jeder von uns ist sich seiner Verletzlichkeit, ja seiner Endlichkeit bewusst geworden. Und gleichzeitig haben wir erlebt, wie wichtig es ist, auf andere Rücksicht zu nehmen. Die Schwächeren zu schützen und als Gesellschaft füreinander einzustehen“, sagte Frank-Walter Steinmeier in seiner Eröffnungsrede beim Katholikentag in Stuttgart.

Ja, lässt sich Steinmeier beipflichten: Zwei Jahre, in denen Deutschland lernte und lernen musste, mit diesem vermaledeiten Coronavirus zu leben, haben in der Tat tiefe Spuren hinterlassen. Und ja, diese ziehen sich – bis heute – durch die gesamte Gesellschaft. Diese Risse haben Menschen aus dem Land fliehen lassen, die sich nicht impfen lassen wollten, und sie zeigen eindrücklich, wohin eine pandemiegetriebene Politik – mit all der Hybris und all dem Irrsinn, der mit ihr in den vergangenen zwei Jahren einhergegangen ist – führt: nämlich nirgendwohin, wo es schön ist, frei und friedlich.

Bis zum letztgültigen Narrativ

Dass es so weit gekommen ist, ist eine Tragödie. Und es ist erstmal gut, dass Steinmeier dies wohl ähnlich sieht. Und doch lässt sich den Worten des Bundespräsidenten nicht lauschen, ohne etwas verwundert auf den Mann im Schloss Bellevue zu blicken, der sich in Stuttgart als Versöhner inszenierte; als Stimme der Vernunft in aufgeregten Zeiten. Das wäre eigentlich die Rolle gewesen, die Steinmeier hätte einnehmen müssen in diesen zwei Seuchenjahren. Als Mahner, als Mäßiger, als Chefdiplomat zwischen den deutschen Gesellschaftsfronten. Eine Rolle, der er nie ausreichend gerecht geworden ist.
 

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Mehr noch: Bundespräsident Steinmeier hatte auch seinen Anteil daran, dass die sich früh abzeichnenden Gräben – als kleine Risse schon während der ersten Corona-Proteste im Jahr 2020 erkennbar – nicht etwa gekittet, sondern über Monate hinweg immer tiefer und tiefer gegraben wurden, bis hin zum letztgültigen Narrativ von der „Pandemie der Ungeimpften“. Selbst gesprochen von dieser „Pandemie der Ungeimpften“ hat Steinmeier, soweit der Autor dieser Zeilen das überblickt, zwar nie. Aber auch er hat mitgemacht, einen Teil der Bevölkerung stigmatisiert und so seinen Beitrag geleistet, dass sich dieser Narrativ in vielen, in Millionen Köpfen festsetzen konnte.

Eine Folge ist, dass bis zuletzt kaum Worte des Bedauerns der politisch Verantwortlichen zu vernehmen waren, weil man die Schuld an dieser Pandemie und ihren Folgen – wohlwissend, dass man es sich damit viel zu einfach macht – längst konsequent ausgelagert hat auf eine Minderheit, die sich im besten Deutschland, indem wir jemals lebten, plötzlich am Pranger wiederfand, beworfen mit Begriffen wie „Nazi“ und „Corona-Leugner“, stigmatisiert von Kopf bis Fuß und zum Abschuss via Schlagstock und Pfefferspray freigegeben. Wider die wissenschaftliche Evidenz, wider jedes Mitgefühl. Ja, zu oft wider jedwede Vernunft.

Steinmeier noch im November 2021:

Diejenigen, die sich nicht impfen lassen, setzen ihre eigene Gesundheit aufs Spiel, und sie gefährden uns alle. (...) Ich bitte Sie noch einmal: Lassen Sie sich impfen! Es geht um Ihre Gesundheit, und es geht um die Zukunft Ihres Landes!

Steinmeier noch im Januar 2022:

„Es gibt sie, die große Mehrheit der Vernünftigen in unserem Land, Menschen, die Verantwortung für andere zeigen! Millionen, das darf nicht vergessen werden, halten sich an die Auflagen. Aber – und darum sitzen wir heute hier – es gibt eben auch all das andere. Jede gewaltsame Eskalation ist eine zu viel. Denn es geht nicht nur um die Missachtung von Versammlungsrecht oder Hygieneregeln. Es geht um die Missachtung des sozialen Friedens in unserem Land. Hass und Gewalt zerstören das Fundament unseres Miteinanders."

Und Steinmeier nochmal im Januar 2022:

Ich sehe aber mit Sorge, dass radikale, vor allem rechtsextreme Kräfte, denen es nicht um Corona geht, sondern die unseren demokratischen Rechtsstaat angreifen, dass die die Proteste für ihre Zwecke instrumentalisieren und zunehmend andere vor ihren demokratiefeindlichen Karren spannen. (...) Nur fürchte ich, diese Mehrheit darf nicht still bleiben, wenn Extremisten die Axt ans demokratische Urvertrauen legen.“

Es wäre an Steinmeier, vor allem an ihm als Bundespräsident gewesen, selbst „Rücksicht zu zeigen, die „Schwächeren zu schützen und sich mahnend zu Wort zu melden, dass aus jedweder, vielleicht auch berechtigter Kritik am ungeimpften Teil der Bevölkerung oder an den Corona-Protesten kein undifferenzierter Hass entstehen darf, kein Zustand, in dem sich die einen erheben über die anderen, weil sie deren persönliche Entscheidungen partout nicht tolerieren wollten. Kein angeblich vernunftbürgerlicher Angriff auf die Menschenwürde.

Man kann nicht mahnen und einen, während man gleichzeitig stigmatisiert. Und obwohl sich zweifellos unter den Corona-Protestlern auch Corona-Leugner finden, Extremisten, Menschen, die sich irgendwann politischen Rändern angeschlossen haben, waren darunter auch viele Menschen, die berechtigte und ernstzunehmende Kritik am Handeln der Regierenden hatten. Die sich zu Recht sorgten um die Freiheit in diesem Land. Und deren Sachargumente nicht gehört und nicht toleriert wurden, weil sie teilweise hingenommen haben, dass mit ihnen Menschen auf die Straße gehen, die eigentlich andere Interessen als die ihren vertreten. Aber eine Meinung ist nicht zwangsläufig falsch, nur weil sie auch von den falschen Leuten artikuliert wird.

Toleranz ist etwas, das jede freie und liberale Gesellschaft braucht, um eine freie und liberale Gesellschaft zu bleiben. Und Steinmeier wäre als Bundespräsident selbstredend nicht der einzige politische Akteur gewesen, aber ein ganz entscheidender, der hätte einstehen müssen für Toleranz, für eine freie und liberale Gesellschaft, die auch jene zu integrieren weiß, die manches anders sehen als eine echte oder angebliche Mehrheit – und dabei auf nichts anderes pochten als die ihnen vom Grundgesetz garantierten Rechte. Auf ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit zum Beispiel. Und auf ihr Recht aufzumucken, wenn sie finden, dass sich die Mächtigen auf einem pandemiepolitischen Irrweg mit weitreichenden Konsequenzen über die reine Virusbekämpfung hinaus befinden.

Kein Wort des Mitgefühls

Keine deutlichen Worte des Bedauerns, dass Schulkinder stundenlang in Masken gezwängt wurden, waren von Steinmeier bis heute zu hören. Kein klares Wort des Mitgefühls für jene, die Angst hatten und haben vor einem neuen Impfstoff. Kein starkes Wort der Warnung an jene, die zugelassen haben, dass Menschen auf den letzten Metern ihres Lebens zuerst isoliert und dann beim Sterben alleine gelassen wurden. Kein deutliches Wort der Mäßigung an jene Politiker, die ihre Bevölkerung nach 22 Uhr nicht mehr aus dem Haus ließen oder den Menschen ihr Recht auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit entzogen haben. Dabei müssen sich Grundrechte – und das ist eine Wahrheit, die sich viele Menschen auch wegen Politikern wie Steinmeier nicht öffentlich zu sagen trauen – nicht in Schönwetterzeiten bewähren, sondern dann, wenn es ungemütlich wird. Dafür wurden sie gemacht.

Wer, wie der Autor dieser Zeilen, über Monate hinweg teils hautnah miterlebt hat, was der Staat alles zu tun bereit war, um den Infektionsschutz durchzusetzen, wieviele Polizisten er schickte, um friedliche Demonstrationen im Keim zu ersticken, wie viele Kinder er gegen ihren Willen isolierte, weil irgendein anderes Kind einen positiven Corona-Test hatte, ja, der kann sich nur wundern über den Bundespräsidenten. Und über seine Worte beim Katholikentag in Stuttgart. Waren die Kirchen während der Corona-Pandemie zu leise? So lautete eine Frage in Steinmeiers Rede. Der Bundespräsident hätte auch fragen können: War ich zu leise? Auf beide Fragen lautet die Antwort: Ja. Sich das einzugestehen, wäre ein erster Schritt in die richtige, in die versöhnende Richtung. Denn die tiefen Spuren sind tiefer, als es sich unsere Gesellschaft auf Dauer leisten kann.

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