Christina Morina im Porträt - Einheit im Zweiland

Die Historikerin Christina Morina forscht zu unterschiedlichen Demokratieerfahrungen in Ost und West. Ihr neues Buch „Tausend Aufbrüche“ macht da weiter, wo Dirk Oschmann aufhört. Dafür ist sie tief in die Archive gestiegen.

Christina Morina / Foto: Andrea Seifert
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Die wirklich großen Probleme zeigen sich erst in der Provinz. Die Orientierungslosigkeit zum Beispiel. Wer etwa in Bielefeld vom Hauptbahnhof zur Universität fahren möchte, der nehme besser ein Taxi! Das ÖPNV-­Netz auf dem Lande, dies zur Warnung, ist voller Lücken und weißer Flecken. Und das ist nur ein Beispiel dafür, warum der Unterschied zwischen den großen Städten und der Provinz in Deutschland längst prägender zu sein scheint als der zwischen Ost und West.

Christina Morina kann das bestätigen. Aufgewachsen in Frankfurt (Oder), zu DDR-Zeiten eine überschaubare Bezirksstadt, die der Lauf der Geschichte an den äußersten Rand des Landes gedrängt hatte, lehrt die heute 47-jährige Historikerin mittlerweile 500 Kilometer weiter westlich: in Bielefeld, jener Stadt also mit dem lückenhaften ÖPNV-System. Und da eben auch diese Stadt nicht gerade das Herzstück des mittlerweile vereinigten Deutschlands bildet, fühlt es sich hier für sie fast ein bisschen wie zu Hause an. Deutsche Provinz eben. „Ich glaube, das politisch weit brisantere Thema ist heute tatsächlich das Stadt-Land-Gefälle“, sagt sie. Zu Recht. Denn geschehen nicht auch die meisten Dinge, die man im Osten bemängelt, irgendwo tief im Hinterland?

Der Unterschied zwischen Ost und West

Mit dem Osten kennt sich Morina aus. Und das nicht nur, weil sie dort 1976 in einem Lehrerhaushalt, in dem man stets eine gesunde Skepsis gegenüber dem SED-Staat pflegte, groß geworden ist. Auch als Wissenschaftlerin hat sie sich der jüngeren Geschichte von Teilung und Wiedervereinigung verschrieben. Sie hat zur Zeiterfahrung im geteilten Deutschland oder zur Geschichte des Marxismus geforscht. 

Dennoch sei der Unterschied zwischen Ost und West für sie persönlich keine sonderlich prägende Kategorie mehr. Am Ende habe die Herkunftsfrage ohnehin mehr Nuancen und Grautöne, als es in den überhitzten Debatten meist scheint. Morina lebte als Wissenschaftlerin in den USA und war bis 2019 Professorin an der Universität Amsterdam. In der Fremde verblasse manches von dem, was einem daheim oft so groß und prägend erscheint.

Noch immer wissenschaftliches Neuland

Nun also Ostwestfalen. Schon der Name dieser Region, die sich entlang des Teutoburger Waldes bis in die Norddeutsche Tiefebene hineinstreckt, wirkt schizophren. Ostwest. Dazwischen kein Komma, kein Gedankenstrich, nicht einmal ein winziger Hintergedanke. Vielleicht also ist dies genau der richtige Ort, um über das merkwürdige Zusammenspiel zweier Himmelsrichtungen nachzudenken: über unterschiedliche Mentalitäten und Erfahrungen. Christina Morina jedenfalls hat genau dies getan. Über drei Jahre hinweg hat sie hier über das nicht immer einfache deutsch-deutsche Verhältnis zur Demokratie geforscht – und das vor 1989 und danach.

Man will es kaum glauben, doch ihr Ansatz umkreist noch immer wissenschaftliches Neuland. Die Zeitgeschichte, so klagt Morina, habe die jüngste Demokratiegeschichte bis dato kaum aus gesamtdeutscher Sicht ins Visier genommen. Das sei wirklich frustrierend. All die vielen Debatten über hüben und drüben – und am Ende sind sie meistens nicht mehr als ein innerostdeutscher Monolog. Denn es seien bis dato vor allem ostdeutsche Publizisten gewesen, die sich in ihren Büchern Gedanken über das stets neu entflammende innerdeutsche Beziehungsdrama gemacht haben. 

Zuletzt etwa stach da vor allem ein Name heraus: Dirk Oschmann. Mit seinem Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ hat der Leipziger Literaturwissenschaftler hohe Wellen geschlagen. Morina kann dem besonders unter Ostdeutschen viel diskutierten Buch nicht viel abgewinnen. „Wutaktionismus“ nennt sie das, was Oschmann da publiziert habe. Und – dieses Buch hinterlasse kaum Fragen oder Irritationen. Publizistik für Ostdeutsche von Ostdeutschen eben.

Bis dato unerforschte Selbstzeugnisse

Ganz anders ist das bei Morina selbst. Gerade nämlich ist ihr eigenes Buch zum Thema unter dem Titel „Tausend Aufbrüche“ erschienen. Auf 400 Seiten, in unzähligen Dokumenten und Zitaten legt sie hier Ost und West akribisch nebeneinander. Dafür ist sie tief in die Archive gestiegen. In bis dato unerforschten Selbstzeugnissen, in Bürgerbriefen und Flugblättern hat sie die Demokratievorstellungen von normalen Bürgern in den einstigen Teilstaaten untersucht. 

„Mit diesen Dokumenten hat sich mir eine Vergleichsperspektive eröffnet“, sagt Morina. Das Frappierende: In Ost wie West hat es zu allen Zeiten spezifische Vorstellungen von Demokratie gegeben. Darüber zu streiten, dürfte sich lohnen. Denn Christina Morina will in ihrem Buch nichts glattbügeln: „Ich habe ja schon Probleme mit dem Begriff Einheit. Warum muss in Deutschland immer alles so harmonisch und einträchtig sein?“, fragt sie. Es gäbe doch nichts Demokratischeres, als in Einigkeit unterschiedlicher Meinung zu sein.
 

 

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