Christentum - Es gibt keine Kultur ohne Religion

Kolumne: Grauzone. Nicht viele Menschen in Deutschland glauben noch an die metaphysischen Aussagen des Christentums. Doch das ist kein Indiz für dessen Verschwinden: Die Religion stiftet mit ihren Riten, Bildern und Geschichten jene kulturelle Identität, mit der sich noch immer viele identifizieren

Immerhin 40 Prozent der Menschen in Deutschland gehen an Weihnachten noch in die Kirche / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Religion ist unvermeidbar. Deshalb gibt es keine menschliche Kultur ohne sie. Denn Religion stiftet kollektive Identität, sie legitimiert soziale Ordnungen und vermittelt Sinn. Selbst in Deutschland – nach offizieller Lesart einer der religiös unmusikalischsten Landstriche dieser Erde – gab es daher nie wirklich ein Verschwinden der Religion, sondern deren Transformation zu einem Kulturchristentum. Und das ist kein Verlust. Denn es sind letztlich die religiösen Traditionen und ihre kulturelle Prägekraft, die den Menschen Identität, Halt und Orientierung geben.

Wer darin eine Entfremdung von eigentlicher Religiosität sieht, unterliegt einem Perspektivenfehler. Religionen sind zunächst und vor allem eine Großerzählung, die Sinn stiftet und diesen mittels Symbolen und Ritualen organisiert. Ihre Bedeutung und ihre lebenspraktische Relevanz bekommen sie nicht durch ihren behaupteten Transzendenzbezug, sondern durch die Art und Weise, wie dieser kulturell inszeniert wird: durch Liturgien, Bilder und Zeichen, durch eine spezifische Ästhetik, eine Lebenshaltung.

Keine Entchristianisierung

Das ist der einfache Grund dafür, dass Religionen nur schwer kompatibel sind. Denn was zu religiösen Konflikten führt, ist weniger die behauptete Transzendenz – die unterscheidet sich bei näherer Betrachtung kaum –, es sind durch die Religionen geprägten Lebenswelten. Ginge es in der Auseinandersetzung der großen Weltreligionen allein um ihre Aussagen bezüglich des Übernatürlichen, so könnte man, allen theologischen Spitzfindigkeiten zum Trotz, vermutlich recht schnell einen gewissen Konsens herstellen. Doch wie gesagt: Genau darum geht es nicht. Was Religionen ihre Identität verschafft und Glaubensgemeinschaften formt, ist ihre Kultur, ihre Kunst, ihre Gebräuche und ihre Mentalitäten, die sie über Jahrhunderte ausgeprägt haben und selbst denen einen inneren Halt geben, die an die transzendentale Erzählung nicht mehr glauben können oder wollen.

Es ist daher auch nicht Ausdruck einer umfassenden Entchristianisierung, wenn, wie das Institut für Demoskopie in Allensbach in seiner jüngsten Umfrage festgestellt hat, immer weniger Menschen in Deutschland an die vermeintlichen Kernaussagen des Christentums glauben. Denn was das Christentum für die Menschen zum Christentum macht, sind letztlich nicht die metaphysischen Aussagen hinsichtlich des Übernatürlichen. Es ist vor allem eine unüberschaubare Summe aus kulturellen Überlieferungen: die Feste und Feierlichkeiten, die Lieder, Bilder und Symbole, der Geschmack von Christstollen und Spekulatius.

Die christliche Tradition ist nicht belanglos

Deshalb ist es auch kein Widerspruch, wenn sich immer weniger Menschen mit einzelnen Glaubenssätzen identifizieren können, zugleich aber – und auch das zeigt die Allensbach-Studie – ein starkes Zugehörigkeitsgefühl zur christlichen Kulturtradition empfinden. So sind 56 Prozent der Befragten nicht der Meinung, dass christliche Symbole aus der Öffentlichkeit verschwinden sollten. Die Einführung eines islamischen Feiertags wird von 85 Prozent abgelehnt. Immerhin noch 40 Prozent der Menschen gehen an Weihnachten in die Kirche. Dreiviertel aller Deutschen feiern Weihnachten mit Weihnachtsbaum und Geschenken.

Wer behauptet, Deutschland sei ein entchristianisiertes Land und seine christliche Tradition belanglos und nicht mehr zeitgemäß, der missversteht Religion als ein Nachplappern von Glaubensformeln. Das ist im Interesse all jener, die, aus welchen Gründen auch immer, die Unterschiede zwischen den Religionen nivellieren und diese zu Spielarten einer im Grunde universalen Spiritualität oder Ethik umdeuten wollen.

Religionen als Identitätsanker

Doch die Praxis der Menschen zeigt – und die Allensbach-Studie bestätigt das –, dass Religionen Identitätsanker sind, gespeist aus dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und kultureller Heimat. Gerade zu Weihnachten wird deutlich, wie stark diese kulturelle Prägekraft selbst in einer Gesellschaft ist, die mit Metaphysik wenig anfangen kann und allzu häufig die Besinnlichkeit dem Konsum opfert.

Wer daher – wie mancher Kirchenvertreter hierzulande – das Christentum im Namen einer transreligiösen Ökumene auf den Glauben an einen angeblich allen Religionen gemeinsamen Gott reduziert, ist bereit, gerade dasjenige an der religiösen Überlieferung zu opfern, was den Menschen am meisten bedeutet. Die überfüllten Kirchen zu Weihnachten erinnern eindrucksvoll daran.
 

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