Schaumwein zu Silvester - Muss es Champagner sein?

Muss es zu Silvester unbedingt Champagner sein? Keineswegs, findet Rainer Balcerowiak und will den Mythos vom „exklusiven, besonderen Genuss“ beim Verzehr dieses Schaumweins ein wenig demontieren.

Von wegen exklusiv. Champagner wird millionenfach produziert / dpa
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Autoreninfo

Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Auch für die Lebensmittelbranche sind die beiden großen Feste des Jahresendes extreme Umsatzbooster. Vor allem das gehobene Segment, bei dem es um Luxus und Genuss geht, boomt kräftig. Weihnachten mit seinen (in diesem Jahr oftmals nicht ganz so üppigen) Festtagsmenüs haben wir hinter uns, aber Silvester naht mit Riesenschritten. Und da gilt für viele Menschen auch in Deutschland: Um Mitternacht (auch davor oder danach) muss es einfach mal Champagner sein.

Von wegen „exklusiv“

Warum eigentlich? Mit der vermeintlichen Exklusivität dieses Schaumweins aus dem Nordosten Frankreichs ist es jedenfalls schon lange vorbei. In den Spitzenjahren des bald vergangenen Jahrzehnts wurden mehr als 300 Millionen Flaschen pro Jahr produziert. Alleine beim berühmten Branchenprimus Moët & Chandon waren es zeitweilig rund 70 Millionen Flaschen. Auch die inzwischen auf geschätzte 1,5 Milliarden Flaschen angewachsenen Lagerbestände sorgen nicht gerade für gute Laune in der Branche. Derzeit versuchen die Produzenten in einer konzertierten Aktion die Produktion drastisch zu drosseln, um den Preisverfall zu stoppen und den Nimbus der Exklusivität zu retten.

Doch dafür dürfte es längst zu spät sein. No Name-Champagner für 12-14 Euro sind längst Alltag in deutschen Discountern und selbst Markenware wird in Sonderangeboten manchmal für 20 Euro verramscht. Nur im sehr schmalen High-End-Segment von 100 Euro und mehr pro Flasche bleiben die Preise stabil.

Guten Schaumwein gibt‘s auch woanders

Aber ist Champagner nicht dennoch was ganz Besonderes? Nöö, jedenfalls nicht in der Breite. Es ist schlicht ein Schaumwein aus einer bestimmten Region, der aus vorgeschriebenen Rebsorten mit einem festgelegten Produktionsverfahren produziert wird. Doch für guten Schaumwein geeignete Böden, klimatische Bedingungen und Rebsorten gibt es auch woanders, sowohl in Frankreich als auch in anderen europäischen Anbaugebieten. Und die in der Champagne erfundene Produktionsweise mit einer zweiten Hefe-Gärung der bereits durchgegoreren Grundweine in der Flasche ist längst Standard bei gehobenen Schaumweinproduzenten, auch in Deutschland.

So manch deutscher Winzersekt oder Crémant aus Luxemburg kann mit dem „Original“ locker mithalten – und das bei deutlich moderateren Preisen. Wobei natürlich nach wie vor einige sensationelle Top-Champagner produziert werden, die tatsächlich schwer erreichbare Leuchttürme der Genusskultur sind. Aber die entsprechenden Krater im persönlichen Budget, den diese Pretiosen reißen, können nur die wenigsten verkraften.

Genuss oder Autosuggestion?

Wer allerdings meint, sich mit einem Billig-Champagner einen „ganz besonderen Genuss“ zu einer ganz besonderen Gelegenheit (etwa Silvester) zu gönnen, ist leider einem ziemlich simplen Narrativ auf den Leim gegangen. Mit dieser Einschätzung stehe ich keineswegs alleine da. Vom Wiener Physiker und Publizisten Florian Aigner stammt das Statement: „Ich persönlich halte Champagner für kulturell massiv überschätzt, Senf hingegen für furchtbar unterbewertet“.

Auch der Ernährungssoziologe Daniel Kofahl betrachtet den Billigchampagner-Boom mit gehöriger Skepsis. „Der im 19. Jahrhundert zum Statusgetränk des wohlhabenden Großbürgertums aufgestiegene Champagner ist so sehr als nahezu lauwarmes und supergünstiges Allerweltsgetränk in Umlauf, dass er nicht einmal zu Distinktionszwecken mehr taugt, geschweige denn zu gustatorischen Orgasmen. Die Massenware, die seinen Namen als konsumistisches Label trägt, ist das gastronomische Pendant zu Goldkettchen und tiefer gelegten Protzkarren“, lautet sein vernichtendes Urteil.   

Und es gehört schon eine gehörige Portion Autosuggestion dazu, dieses abstrakte Genussversprechen im Glas bestätigt zu sehen. Kleiner Test gefällig? Kaufen Sie einen billigen oder mittelpreisigen (bis 25 Euro) Champagner und einen „Brut“ oder „Extra brut“-Winzersekt oder Crémant von der südlichen Mosel (zwischen zehn und 15 Euro). Und dann blind mit zwei Gläsern verkosten, also ohne zu wissen, was in welchem Glas ist. Ich bin mir ziemlich sicher, was Ihnen besser schmeckt ... In diesem Sinne: Ein genussvolles Silvester und ein genussvolles neues Jahr wünscht Ihnen die Geschmackspolizei, die auch 2021 als Warner und Mahner zu Diensten sein wird.

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