Cancel Culture - Nur ein Storno an der Supermarktkasse?

Die Begriff „Cancel Culture" wird derzeit viel zitiert, einige sind seiner bereits überdrüssig. Ein Blick auf die Mechanismen des Ausschließens lohnt sich dennoch. Denn es scheint paradox: Die Mittel der Cancel Culture schaden ihrem Zweck.

Die Mechanismen der Cancel Culture schaffen einen Teufelskreis / dpa
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Autoreninfo

Bernd Stegemann ist Dramaturg und Professor an der Hochschule für Schauspiel (HfS) Ernst Busch. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschienen von ihm das Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ bei Klett-Cotta und „Identitätspolitik“ bei Matthes & Seitz (2023).

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Was ist Cancel Culture? Über den einfach zu verstehenden Begriff, der eine Kultur des Ausschließens meint, tobt ein erbitterter und zusehends sinnloser Streit. Auf der einen Seite mehren sich die Stimmen, die die wachsende Zahl von Ausschlussforderungen für ein Problem halten. Es wird immer seltener miteinander gestritten, stattdessen werden unliebsame Meinungen immer öfter als böse verurteilt, um sie dann aus der Öffentlichkeit verbannen zu können.

Auf der anderen Seite gibt es Stimmen, die leugnen, dass es so eine Kultur des Ausschließens überhaupt gibt. Wie kann das sein? Es lohnt sich, die Argumente der Leugner anzuschauen, denn im Zentrum ihrer Leugnung steckt ein logischer Trick, der viel mit der angespannten Lage der Öffentlichkeit zu tun hat: Die Art, mit der Cancel Culture geleugnet wird, entspricht der Methode der Cancel Culture. Und zugleich sägt die Methode der Cancel Culture an dem Ast, auf dem sie selber sitzt. 

Am Anfang ist die Leugnung 

Wie funktioniert dieser Trick? Die leugnende Seite behauptet als erstes, dass Cancel Culture ein rechter Begriff sei, der im Kulturkampf die moralischen Forderungen der eigenen, guten Seite entwerten soll. Um den bösen Begriff zu verbannen, wird eine Strategie angewendet, die bereits aus der Ablehnung des Begriffs „Political Correctness“ bekannt ist. Die Strategie funktioniert folgendermaßen: Zuerst wird gesagt, dass es Cancel Culture oder Political Correctness gar nicht gibt. Wird dem widersprochen, so werden Beispiele verlangt. Werden diese gegeben, so werden die Beispiele als harmlose Einzelfälle abgetan, aus denen sich keine allgemeinen Schlüsse ziehen lassen.

So wurde im Fall der Auftrittsabsage von Lisa Eckhart immer wieder behauptet, dass es doch gar keine Gewalt gegeben hätte. Der Auftritt sei ohne Not abgesagt worden und darum könne es auch kein Fall von Cancel Culture sein. Der Trick besteht also darin, dass jedes Beispiel als Ausnahme behandelt wird, aus der sich kein Muster ableiten lässt. Es reihen sich nur Zufälle aneinander, weswegen eine Kultur des Ausschließens geleugnet werden kann. 

Parallelen zu Klimaleugnern

Mehren sich wie in den letzten Wochen die Einzelfälle, so springt die Leugnung auf die nächste Stufe der Argumentation. Nun wird behauptet, dass es sich um ein ganz normales Verfahren handeln würde, ähnlich wie ein Storno an der Supermarktkasse. Man möchte ein Produkt doch nicht kaufen, also wird es storniert.

So argumentiert zum Beispiel Margarete Stokowski in ihrer Spiegel-Kolumne. Die Cancel Culture wird zu einem niedlichen Alltagsquatsch gemacht, über den sich niemand beklagen sollte, denn schließlich sei 1974 in Pusemuckel auch schon mal eine Veranstaltung verboten worden. 

Die letzte Phase der Verteidigung 

Häufen sich die Fälle weiter und sind sie nicht mehr so harmlos wie gerade zum Beispiel in den USA, wo reihenweise Menschen ihre Posten verloren haben, weil sie Black Lives Matter nicht bedingungslos folgen wollten, beginnt die letzte Phase der Verteidigung. Nun wird ein logisches Kunststück aufgeführt: Es könne doch gar keine Cancel Culture geben, weil es noch genügend Menschen gibt, die sich darüber beklagen können. Lisa Eckhart lebt ja noch und kann woanders auftreten.

Diese Logik erinnert verblüffend an die Methode der Klimaleugner. Die behaupten unerschüttert: Im Sommer war es schon immer heiß, und solange wir noch Luft zum Atmen haben, kann es mit dem Klimawandel gar nicht so schlimm sein. Solange man das Wort Cancel Culture noch öffentlich aussprechen darf, gibt es keine Cancel Culture. Statt sie zu einem niedlichen Spaß zu machen, wird sie nun zu einem Dämon, vor dem die realen Fälle wiederum harmlos wirken. Solange Lisa Eckhart nicht auf einem Scheiterhaufen verbrannt wird, sollte niemand von Cancel Culture sprechen. 

Herrscher über Gut und Böse

Das dreistufige Verfahren – Leugnung, Verharmlosung, Übertreibung – wird bei jedem neuen Fall durchdekliniert. Die Folge ist eine ermüdende und fruchtlose Debatte. Und genau das ist das erklärte Ziel der Cancel Culture. Damit kommen wir zum Geheimnis dieser Leugnung. Die gesamte Argumentation geht von einer Prämisse aus, die zum Kern der Cancel Culture gehört. Die Prämisse lautet, dass es einen Kulturkampf gibt, in dem es darum geht, wer die Regeln der Öffentlichkeit bestimmt. Es geht also nicht mehr nur darum, die eigenen Interessen durchzusetzen, sondern man will vor allem bestimmen, wie die Anderen ihre Interessen formulieren dürfen. 

Die neuen Regeln der Öffentlichkeit sollen dabei den Grundsätzen der Identitätspolitik folgen, nach denen Minderheiten und Opfergruppen bevorzugt gehört und geglaubt werden soll, während alle anderen schweigen und zustimmen müssen. Meinungen, die das kritisieren, werden aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen, und die Meinungsfreiheit gilt dann nur noch für die erlaubten Meinungen. Damit ist der ideologische Kern der Cancel Culture erreicht. Die wirkungsvollste Beschränkung der Öffentlichkeit besteht seit jeher darin, die Meinung der Anderen als böse zu brandmarken, um sie dann ausschließen zu können. Man braucht dafür keine Argumente, sondern die Macht, darüber entscheiden zu können, wer als Böse und wer als Gut gilt. Diese Macht zu erringen, ist das eigentliche Ziel der Cancel Culture.

Linke und rechte Cancel Culture

Die Überraschung für die linken Anhänger der Cancel Culture besteht darin, dass sie diese Methode gar nicht erfunden haben. Der aggressive Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts verfügte ebenso wie die neuen Rechten über die Ausgrenzung als Machttechnik. Die Parole der rechten Cancel Culture hallt bis heute nach: „Ausländer raus.“

Dass diese Forderung die deutsche Kultur dominiert, kann niemand behaupten. Jeder, der sie erhebt, wird zurecht dafür scharf kritisiert. Eine der zentralen Parolen der linken Cancel Culture lautet hingegen: Allen Opfern muss geglaubt werden und alle alten weißen Männer sind Täter. Diese Forderung ist ein Frontalangriff auf den Universalismus der Gleichheit und propagiert unverhohlen Doppelstandards, doch er ist inzwischen in einigen Milieus durchaus mehrheitsfähig.

Der gemeinsame Feind ist die Meinungsfreiheit 

Und was für den hegemonialen Anspruch noch wichtiger ist, man kann diese Forderung erheben, ohne dafür als Böse ausgegrenzt zu werden. So sehr sich rechte und linke Forderungen unterscheiden, in einem Punkt sind sie sich einig, sie wollen die liberale Öffentlichkeit in ihrem Sinne verändern. Der gemeinsame Feind heißt für beide der Universalismus der Meinungsfreiheit. 

Doch der gemeinsame Feind macht sie nicht zu Partnern, denn neben den politischen Unterschieden zwischen linker und rechter Cancel Culture gibt es einen fundamentalen Unterschied in der Methode. Während die Rechten ihre Ausgrenzung offensiv und robust betreiben, verpacken die Linken ihre Cancel Culture geschickter. Indem die linke Cancel Culture leugnet, dass es sie gibt, ist sie deutlich intelligenter und erfolgreicher. Um die Meinungsfreiheit einzuschränken, ist es ratsam, diese Absicht möglichst lange zu verschleiern. Während die rechte Cancel Culture sowohl vom Inhalt wie von ihrer Methode her auf breite Ablehnung stößt, erfährt die linke Cancel Culture mit der Kombination aus progressiven Forderungen und geschickter Leugnung ihrer aggressiven Mittel wachsende Zustimmung. 

Es gilt, Widersprüche anzuprangern

Doch gerade weil viele der einst linken Forderungen nach Emanzipation und Gleichberechtigung inzwischen zum gesellschaftlichen Konsens gehören, ist es umso irritierender, dass für die weitere Durchsetzung nun zu Mitteln gegriffen wird, die das Fundament der offenen liberalen Gesellschaft angreifen. Die Methode der linken Cancel Culture steht im Widerspruch zu ihren gesellschaftlichen Zielen.

Auf diesen Widerspruch hinzuweisen, ist darum die schwierige Aufgabe der Verteidiger einer offenen Gesellschaft. Diese Verteidigung ist so schwierig, weil die linke Cancel Culture mit ihrer Leugnungsstrategie jede Kritik ins Leere laufen lässt, und es zugleich viele gute Gründe gibt, weiter an dem Projekt der Gleichberechtigung zu arbeiten. 

Es geht nicht um den Einzelfall, sondern ums Prinzip 

Darum spitzt sich der Widerspruch von Absicht und Methode immer weiter zu. So warnt Yascha Mounk in der ZEIT die deutsche Öffentlichkeit eindringlich davor, die Gefahr der Cancel Culture zu unterschätzen, und rät, dagegen aufzubegehren, solange das noch möglich ist. Denn es geht nicht nur um den Einzelfall, sondern um ein Prinzip, das, wenn es erst mal durchgesetzt ist, jeden Kritiker mundtot machen kann.

Yascha Mounk berichtet, dass in den USA die linke Cancel Culture in den Universitäten inzwischen so durchgesetzt ist, dass jeder, der im privaten Gespräch eine Meinung sagen will, die nicht zu 100 Prozent mit dem jeweiligen Mainstream übereinstimmt, „seine Stimme um 20 Dezibel“ senkt. 

Angriffe ersetzen Gegenargumente

Cancel Culture beschreibt also ein Phänomen, das man auch als toxische Öffentlichkeit übersetzen könnte. In einer aufgeklärten Öffentlichkeit besteht die Grundregel darin, die Meinung des Anderen zu respektieren. Die neuen Kulturkämpfer wollen diesen Respekt beseitigen, in dem sie den Anderen für seine Meinung bestrafen. Auf Argumente wird nicht mehr mit einem Gegenargument reagiert, sondern mit einem Angriff auf die Person.

Eine künstlerische Darstellung, die einem nicht gefällt, wird nicht mehr kritisiert oder ignoriert, sondern sie soll auch für alle anderen verboten werden. Eine Aussage, die einen stört, ist keine mögliche Meinung, sondern ein Beweis, dass die Person böse ist. Je mehr Menschen so aufeinander reagieren, desto vergifteter wird das öffentliche Klima.

Ein Gift mit selbstverstärkender Wirkung 

Und wie alle gesellschaftlichen Gifte hat auch dieses eine selbstverstärkende Wirkung. Denn wenn man die Erfahrung macht, dass man die andere Meinung nicht mehr aushalten muss, bringt man auch keine Mühe mehr für Gegenargumente auf.

Man wird die lästige Meinung einfach dadurch los, dass man die Person mit Schmutz bewirft. Der Begriff Cancel Culture meint also nicht die Verbrennung von Ketzern, sondern ein gesellschaftliches Klima, in dem immer mehr Menschen behaupten, dass ihre gute Gesinnung sie dazu berechtigt, exemplarische Bestrafungen fordern zu können.

Ein Teufelskreis 

Die erstickte Debatte in der Migrationskrise hat deutlich gezeigt, welche destruktiven Folgen das hat. Wer 2015 auch nur Luft geholt hat, um einen kritischen Einwand gegen die offenen Grenzen zu formulieren, wurde als Nazi und Menschenfeind niedergebrüllt. Die Folgen sind bekannt. Je einseitiger die Debatte geführt wurde, desto radikaler haben sich ihre Gegner formiert.

Eine rechte Partei konnte sich etablieren, und die nüchtern kritischen Stimmen verstummten zusehends. Eine toxische Öffentlichkeit erzeugt unablässig Konflikte, die dann nur noch im Modus des Kulturkampfs ausgetragen werden können. Die Positionen radikalisieren sich gegenseitig, weil jeder die Meinung der Anderen als böse benennt und damit die Anderen zu Feinden macht. Und diese Anderen verhalten sich dann entsprechend feindselig, denn wer in der Öffentlichkeit nicht mehr gehört wird, der verschafft sich anderweitig Gehör. 

Canceln, statt zu argumentieren

So produziert die Cancel Culture zuverlässig die Feinde, die sie braucht, um als Kämpferin gebraucht zu werden. Ihre Methode ist ein Rückfall hinter die Standards der Aufklärung und ihr erstes Opfer ist die offene Gesellschaft mit ihren universellen Rechten der Gleichheit. Und es ist zu befürchten, dass das nächste Opfer die diskriminierten Minderheiten sein werden, für deren Gleichberechtigung der Universalismus mehr getan hat, als die Doppelstandards der Identitätspolitik jemals werden erreichen können.

Denn wer doppelte Standards verwendet, verliert die Legitimation der allgemeingültigen Argumente, und dann bleibt nur noch die Cancel Culture. Doch wer cancelt, statt zu argumentieren, wird in einer Gesellschaft aufwachen, in der er nie leben wollte. 

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