Der Flaneur - „Die City respektiert keine Aura“

Wer durch Berlin flaniert, hat jedes ästhetische Schmerzempfinden verloren. Als Flaneur muss man hier ein Stoiker sein. Trotzdem erschrickt auch Stefan aus dem Siepen bei seinen Streifzügen durch die Hauptstadt

Erschienen in Ausgabe
In Deutschland ist Revolutionspathos undenkbar, denn es bringt kein Geld ein
Anzeige

Autoreninfo

Stefan aus dem Siepen ist Diplomat und Schriftsteller. Von ihm erschien zuletzt im Verlag zu Klampen „Wie man schlecht schreibt. Die Kunst des stilistischen Missgriffs“. (Foto: © Susanne Schleyer / autorenarchiv.de)

So erreichen Sie Stefan aus dem Siepen:

Anzeige

Da ich regelmäßig durch Berlin flaniere, ist jedes ästhetische Schmerzempfinden in mir erloschen. Als Flaneur muss man hier ein Stoiker sein, unerschütterlich seinen Weg durch die optischen Schrecknisse nehmen. Erstaunlicherweise zucke ich trotzdem noch manchmal zusammen, so letztens bei einem Spaziergang auf der Tauentzienstraße. Der Glockenturm der Gedächtniskirche ist mit riesigen Werbeplakaten verhängt – Huawei darf die frohe Botschaft einer neuen Kamera verkünden. Gewiss, das kennt man: Die Kirche wird renoviert, also liegt es nahe, sie in eine Litfaßsäule zu verwandeln. Auch kann man nicht bestreiten, dass der Glockenturm schon in unverhülltem Zustand wenig ermutigend aussieht. Die Architektur gehört zum Trübsten, was die fünfziger Jahre uns hinterlassen haben, erfüllt den Tatbestand der Gotteslästerung. Und doch …

„Die City respektiert keine Aura“, schrieb Hannelore Schlaffer. In der demokratischen Stadt besitzen alle Gebäude den gleichen Rang oder vielmehr überhaupt keinen. Was früher die maßgeblichen Bauwerke waren, die der Stadt so etwas wie einen Charakter vorgaben, das Rathaus, das Theater, das Schloss, verliert sich im Brei des Bestands. Das Museum darf den Kopf nicht höher tragen als das Bürogebäude, das Stadttor ist ebenso von parkenden Autos umzingelt wie der Aldi-Markt im Baustil einer Hundehütte. Und alles und nichts wird zum Gerüst für ein Werbeplakat, der Unterschied zwischen Hauswand und Plakatwand ist nur theoretisch. Rangfolgen entstehen allenfalls durch Quadratmeterzahlen. Huawei bepflastert eine ganze Kirche und ist die Nummer eins.

Die Innenstädte strotzen vor Wörtern

Als Notre-Dame brannte, setzte vorübergehend eine Art Nachdenken ein. Die Zeitungen holten ihr feierlichstes Vokabular hervor, man konnte von auratischen Bauwerken lesen, die Identität stiften, um die sich ganze Nationen scharen. Falls es solche Gebäude bei uns noch geben sollte, haben wir eine sonderbare Art, ihnen unseren Respekt zu bezeigen. Demnächst ist vielleicht der Kölner Dom reif für eine Generalrenovierung; dieser Gedanke lässt mich trotz Stoizismus zucken. Die auratischste Einrichtung, die unser Land aufzubieten hat, der große Identitätsstifter, ist die Fußballnationalmannschaft. Und gerade sie ist mit Werbung bis zur Unkenntlichkeit übersät.

Die Innenstädte strotzen vor Wörtern, überall sieht man Geschäftsnamen, Reklamesprüche, Firmenlogos. Eine gehaltvollere Aussage als „Huawei – das Fotowunder“ ist nirgendwo zu entdecken. Die Werbung hat ein Monopol auf Beschriftungen, und alle anderen schweigen. Der Staat schreibt kein einziges Wort mehr an Häuser, vielleicht weil er es früher zu oft getan hat und nicht immer sehr geschickt. In Frankreich sieht man an jedem öffentlichen Gebäude, an Polizeiwachen, Standesämtern, Rathäusern, eine kleine Tafel: „République française – liberté, égalité, fraternité“, dazu die Trikolore. Das ist hübsch, Revolutionspathos im Biedermeierformat. Bei uns undenkbar, denn es bringt kein Geld ein.

„Dem deutschen Volke“ steht in Jugendstillettern an der Fassade des Reichstags. Der Spruch gehört zur historischen Bausubstanz, daher sind wir großzügig und gewähren ihm ein Bleiberecht. Vielleicht ist es wohltuend, dass sich der Staat heute mit Beschriftungen zurückhält, sonst hieße es wohl „Den in Deutschland derzeit lebenden Bürgerinnen und Bürgern einschließlich der Geflüchteten“. Ein Lob auf den Denkmalschutz!

Dieser Text erschien in der August-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

Jetzt Ausgabe kaufen

 

 

Anzeige