Stadtplaner Hans Kollhoff über zeitgenössische Architektur - „Das Ergebnis ist grauenvoll“

Der Architekt und Stadtplaner Hans Kollhoff über die Zumutungen des modernen Bauens, über den Niedergang der europäischen Stadt – und warum durch die Corona-Krise einiges auch wieder besser werden könnte.

Hans Kollhoff über europäische Städte: „Wir erleben einen Qualitätsverfall ohnegleichen“ / Max Kratzer
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Hans Kollhoff ist einer der bekanntesten deutschen Architekten. Der 73 Jahre alte gebürtige Thüringer studierte Architektur in Karlsruhe und Wien und ging dann zur Cornell University in den Vereinigten Staaten, wo er Assistent von Oswald Mathias Ungers war. 1984 machte er sich mit einem eigenen Architekturbüro selbstständig. Zu seinen bekanntesten Bauten zählen der Kollhoff-Tower am Potsdamer Platz in Berlin und das Main-Plaza-Wohnhochhaus in Frankfurt am Main.

Herr Kollhoff, wann waren Sie zum letzten Mal einkaufen in einem innerstädtisch gelegenen Warenhaus?
Hans Kollhoff: Das ist noch gar nicht so lange her, vielleicht anderthalb Jahre, im Berliner KaDeWe. Dort bin ich samstags immer gerne einkaufen gegangen, weil man in der sechsten Etage alles zum Kochen bekommen konnte – von gutem Fisch bis hin zu Petersilie. Nach der Übernahme durch einen österreichischen Konzern fing das KaDeWe dann an, die Gemüseabteilung auszusortieren, weil damit offenbar kein Geld zu verdienen ist. In der Lebensmittelabteilung wurde es immer überschaubarer; das Üppige, das ganze Flair war weg.

Das KaDeWe meiden Sie seither?
Richtig. Denn die neuen Eigentümer haben nicht begriffen, dass das eine einzigartige Atmosphäre gewesen ist, ein Organismus, der stirbt, wenn man versucht, ihn in Profitcenter zu zerlegen. Es ist halt profitabler, an Dutzenden von Theken für das Massenpublikum, das den Fisch fotografiert, zu kochen – vietnamesisch, indisch, thailändisch, mexikanisch. Halt das, was es schon vom Urlaub kennt. Damit ist das alte, wunderbare Konzept dahin. Das KaDeWe wurde konsequent kaputt gemacht.

Der Handelsverband Deutschland kal­kuliert unter anderem wegen der Corona-Krise mit 50.000 Geschäftsaufgaben und 40 Milliarden Euro Umsatzverlust im stationären Handel. Was bedeutet das für die deutschen Innenstädte? 
Ich bin da guten Mutes. Einerseits glaube ich, dass das Massensegment mit Billigprodukten in den Innenstädten keine Zukunft mehr hat. Andererseits wird im oberen Segment die Luft dünn. Was mir Hoffnung macht, ist die zunehmende Identifikation der Menschen mit ihrem Zuhause – und dass daraus endlich ein neuer Qualitätsanspruch am eigenen Wohnort erwächst. Dann muss man vielleicht nicht mehr massenweise in den Urlaub flüchten und mit Billigflügen ferne Länder überfallen und deren Charme verbrauchen. Man wird in Zukunft mehr darauf achten, dass es zu Hause schön ist. Deshalb finde ich den Satz, den der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte am Anfang der Corona-Krise geprägt hat, so bemerkenswert: „Io resto a casa“, ich bleibe zu Hause. 

Statt Städtetrip mit Easyjet mehr Niveau daheim? Das klingt allerdings sehr kühn.
Mir scheint das realistisch. Wenn die Menschen zu Hause bleiben, haben sie einen anderen Anspruch an ihre Wohnsituation. Ich vermute, dass sich in dieser Hinsicht – nicht zuletzt, weil diese Krise auch im Portemonnaie Spuren hinterlässt – tatsächlich etwas ändert, und zwar zum Besseren. 

Wenn jetzt überall große Kaufhäuser wie die Karstadt-Filialen schließen, wird es in den Innenstädten enormen Leerstand geben. Haben Sie als Architekt ein intelligentes Konzept für die Nutzung ehemaliger Warenhäuser? 
Selbstverständlich. Ich würde diese frei werdenden Flächen für den Bau von Wohnhäusern nutzen, mit Läden im Erdgeschoss – wie wir es aus dem 19. Jahrhundert kennen. Wer sagt denn, dass die Grundstückspreise immer nur steigen müssen? Damit entstünden kleinteiligere Geschäfte, das würde die Straßen beleben! Man könnte draußen sitzen, und die ­McDonald’s- und Kentucky-Fried-Chicken-Filialen wären nicht mehr so dominant. In Ruhe ein Glas Wein trinken oder auch ein Bier, wo geht das denn heute noch?

Vielfach wird gefordert, der Staat müsse jetzt Geld zur Verfügung stellen, um die deutschen Innenstädte zu retten.
Davon halte ich überhaupt nichts. Warum geht es in Deutschland immer nur um Geld anstatt um Lebensqualität? Ich halte ohnehin wenig von dieser Geldverteilerei für alles und jeden, ohne dass daran ein Qualitätsanspruch geknüpft ist. Man redet nur noch davon, dass der Konsum angekurbelt werden muss – egal, ob es um chinesisches Plastikspielzeug geht oder um sorgfältig produziertes Fleisch. Dieser Wahnsinn des Massenkonsums und der Schnäppchenjägerei muss aufhören. Die Menschen würden auch akzeptieren, dass erst einmal vernünftige Konzepte für ein besseres Leben vorgelegt werden müssen, bevor staatliche Gelder fließen. 

Die Fußgängerzone ist eine Art deutsches Markenzeichen, es gibt sie in jeder großen und mittelgroßen Stadt – und zwar mit den immer gleichen Filialen: H&M, Kik, Media Markt. Ist nicht genau diese Uniformiertheit eine Ursache für den Niedergang der Institution Fußgängerzone?
Es geht doch um viel mehr, nämlich um den Niedergang der Institution städtische Straße und damit der europäischen Stadt. Die Fußgängerzone, entstanden nach dem Zweiten Weltkrieg, ist heute allgegenwärtig. Es ist immer das Gleiche: Man hat eine schöne Straße, dann bedarf es einer Verkehrsberuhigung, danach kommen die Bordsteine weg, damit die Masse sich ungehindert durchwälzen kann. 

Was ist so toll an Bordsteinen?
Für mich ist der Bordstein ein Kulturgut allerersten Ranges, weil dadurch eine saubere Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit im städtischen Verkehr stattfindet. Die Straße ist öffentlich, aber die Häuser zu beiden Seiten sind privat. Wenn ich im Haus bin und sitze auf dem Balkon, in der Loggia oder im Erker, dann nehme ich an diesem öffentlichen Leben teil. Wie weit, das habe ich selbst unter Kontrolle. Dieser Charakter des bürgerlichen öffentlichen Raumes ist eine unschlagbare urbane Qualität. Und die droht zugrunde zu gehen durch die elenden Shoppingcenter und Fußgängerzonen, denen es nur um Konsum und Profit geht. 

Viele Städte würden am liebsten sogar komplett autofrei sein; in Berlin etwa soll demnächst die Friedrichstraße für Autos gesperrt werden. 
Damit ist doch nichts gewonnen. Wenn eine Straße wie die Friedrichstraße erst mal auf dem falschen Gleis ist, dann fängt man an, daran herumzubasteln, und es wird nur noch schlimmer. Das ist ein modernes Phänomen und begann schon mit dem Wohnungsbau in den zwanziger Jahren, der Alternative zum konventionellen Hausbau mit Straßen und parzellierten Blöcken. Mit dem genossenschaftlichen Wohnungsbau ging es ja noch ganz gut, doch dann hat man Siedlungen und schließlich Trabantenstädte gebaut, und es kam ein Problem zum anderen. Die neuesten Erfindungen heißen „grün“ und „intelligent“. Daran kann man gut verdienen. Wenn die Moderne erfolgreich war mit ihren fragwürdigen Produkten, dann als Profitquelle. Das Ergebnis ist grauenvoll. 

Aber die Menschen in den Städten sehnen sich doch nicht nach Autoverkehr.
Wenn man die Leute auf der Straße heute fragt: „Wo möchtest du leben, wo möchtest du spazieren gehen oder dich mit Freunden treffen?“, lautet die Antwort sicher nicht „in der Fußgängerzone“ und auch nicht „in der Siedlung“ oder „in der Trabantenstadt“. In den alten Stadtquartieren hat das dichte Nebeneinander von Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Straßenverkehr gut funktioniert. An besonderen Orten entstanden großstädtische Kaufhäuser, aber das waren Ausnahmen, denn 95 Prozent der Stadt bestanden aus parzellierten Blockstrukturen mit Läden im Erdgeschoss. Weiter draußen gab es dann nur noch die Eckkneipe, da hat man auch im Erdgeschoss gewohnt, mit Vorgarten. Das ist immer noch möglich! Man muss sich verabschieden von der Krücke „sozialer Wohnungsbau“ – sozial ist daran gar nichts, wenn Sie die ganzen Folgekosten hochrechnen. Man muss wieder städtische Häuser bauen, damit die Menschen sich erst einmal wohlfühlen zu Hause.
 

Hufeisensiedlung von Bruno Taut in Berlin Britz / dpa

Wenn dieses Konzept so gut funktioniert hat, warum wurde es über Bord geworfen?
Daran haben die Architekten eine große Mitschuld. Weil sie sich haben einreden lassen, es müsse alles neu gemacht werden. Sie haben sich in der Rolle des Erfinders gefallen und ihr Handwerk verlernt. Da waren zu Beginn ja auch gute Sachen dabei, zum Beispiel die Berliner Hufeisensiedlung von Bruno Taut: Das waren kleine Häuschen für Familien, die sich in der Stadt keine Wohnung leisten konnten. Die hatten dort sogar noch einen kleinen Garten und einen Ententeich. Aber die Entscheidung, draußen auf der Wiese diese riesigen Wohnkisten zu bauen, war falsch und eine Geldverschwendung ohnegleichen.

Viele Architekten denken ja bekanntlich gerne groß und wollen sich selbst verwirklichen. Jemand, der im Bestand arbeitet, findet da natürlich weniger Beachtung als ein Architektenkollege, der sich auf der grünen Wiese sein eigenes Denkmal errichtet. 
Auf Dauer wird kein halbwegs intelligenter Architekt noch Spaß daran haben, seine Projekte auf der grünen Wiese zu realisieren. Lieber eine Nummer kleiner, aber dafür besser, feiner und für eine Bauherrschaft, die einen gewissen Anspruch hat. Wenn man sich hinterher mit dem Bauherrn stolz vor sein Projekt stellen kann, das im historischen Kontext keine schlechte Figur macht, ist das doch attraktiver als diese Monster, die eigentlich keinem gehören.

Viele traditionelle Einzelhändler werden mehr und mehr verdrängt durch Shisha-­Bars, Ein-Euro-Shops und Handy-Läden. Was bedeutet das für die Innenstädte im Sinne einer kulturellen Institution?
Wir erleben einen Qualitätsverfall ohnegleichen. Wer das achselzuckend akzeptiert, der macht sich schuldig an der Zersetzung europäischer Städte.

Welche gesellschaftliche Funktion werden Innenstädte in Deutschland künftig haben? Welcher Bedeutungswandel hat sich historisch vollzogen?
Was sich vollzogen hat, ist das Verschwinden einer bürgerlichen Kultur – gemeinsam mit den Menschen, die ein bürgerliches Leben zu schätzen wissen und ein Mindestmaß an Wertschätzung zeigen gegenüber europäischen Städten, die ja bürgerliche Städte sind. Es mangelt an einer Wertschätzung des öffentlichen Raumes und an dem Privileg, hinter diesem öffentlichen Raum sein privates Leben führen zu dürfen. An diese Qualität beginnt man sich aber seit geraumer Zeit zu erinnern, gerade auch junge Menschen. Vielleicht beschleunigt sich das in dieser Corona-Krise, weil man dem Chaos am Wohnort nicht mehr so leicht entfliehen kann. 

Sehen Sie irgendwelche Hinweise auf einen solchen Bewusstseinswandel?
Mein Büro in Berlin liegt an der Fasanenstraße, der kleine Park am Literaturhaus-Café nebenan ist immer voll – die Menschen stehen Schlange, um einen Platz an den Tischen im Garten zu bekommen. Das haben wir vor Corona nicht erlebt.

Beim Wiederaufbau der Frankfurter Altstadt zwischen Dom und Römer haben Sie einen der ersten Preise gewonnen. Kritiker warfen Ihnen daraufhin vor, Sie würden dem Historismus frönen.
Für mich ist im Jahr 1959 die Moderne offiziell an ihr Ende gekommen. Damals wurde beim internationalen Architektenkongress CIAM im niederländischen Otterlo unisono festgestellt, dass der Begriff „Moderne“ nicht mehr trägt. Das war der historische Punkt, von dem aus die Geschichte der Architektur und des Städtebaus nicht mehr eine exklusiv moderne sein konnte, sondern unversehens in die Kontinuität der Geschichte eingegangen war. Zur Geschichte der Architektur gehört eben alles, was war – auch die Moderne. Im Vergleich zur historischen Architektur schneidet die Moderne, an der wir Architekten heute zunehmend krampfhaft festhalten, allerdings miserabel ab. Um wieder so zu bauen, dass sich die Menschen wohlfühlen, müsste es eine andere Prioritätensetzung in der Politik und in der Kultur geben. Einige der Spekulanten, die jetzt mit dem Erfindungsreichtum des modernen Fortschritts, der bestenfalls ein technischer ist, das große Rad drehen, müssten allerdings kleinere Brötchen backen. 

Viele Architekten sehen das anders. 
Zunächst muss man diese Logik einmal durchschauen. Und vielleicht muss man selber unter dem Elend leiden. 

Sie leiden offenbar persönlich darunter. 
Natürlich leide ich darunter! Und wenn ich leide, dann muss ich es eben besser machen. Als ich mich vor langer Zeit selbstständig gemacht habe, habe ich gemerkt, dass es darum geht, die verlorene Architektur wiederzufinden. Was in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren produziert wurde, war mit wenigen Ausnahmen keine Architektur – vom Städtebau bis ins Detail. 

Bis ins Detail?
In den siebziger Jahren gab es zum Beispiel überall diese mit Plastik überzogenen Türgriffe in allen Farben, meistens in Rot. Die Dinger waren an jeder Toilettentür installiert, aber auch an der Haustür, am Eingang der Megastrukturen des sozialen Wohnungsbaus. Wir haben dann andere, angemessenere Griffe für Hauseingänge entworfen und vom Schlosser bauen lassen. Später haben wir Firmen gefunden, mit denen wir das in Serie umsetzen konnten. Es ging uns nicht darum, einen individuellen Türgriff zu erfinden, der unseren Namen trägt – wie bei Gropius.

Beim Stichwort Leidensdruck muss ich an einen Platz denken, unter dem ich persönlich sehr leide und den Sie gut kennen, weil Sie dafür 1993 den Masterplan entworfen haben: der Berliner Ale­xanderplatz. Bisher ist nicht viel daraus geworden. Der Alexanderplatz zeigt sich heute als einer der hässlichsten Plätze Berlins mit dem „Alexa“, einer der wohl hässlichsten Shoppingmalls in der ganzen Stadt. Ist dieser Platz noch irgendwie zu retten?
Er wäre schon zu retten. Schuld an der Misere ist die gegenwärtige Politik in Berlin, die es geschafft hat, dass über Architektur und Stadt gar nicht mehr diskutiert wird. Alles geht einfach seinen Gang. Früher gab es noch Debatten mit Architekten und Planern darüber, wie die Stadt für die Bürger aussehen und gestaltet werden soll. Da prallten unterschiedliche Meinungen aufeinander, aber es hat sich vieles zum Besseren gewendet. Das ist heute alles vorbei.
 

Auch am Berliner Hauptbahnhof wird nachverdichtet / dpa

„Nachverdichtung“ heißt heute das Zauberwort für viele Innenstädte.
Eine hohle Phrase. Schauen Sie sich doch nur die Gegend nördlich des Berliner Hauptbahnhofs an – da entsteht derzeit ein völlig uninspiriertes, seelenloses Wohnquartier. Die Bahn hat dort riesige Gelände verscherbelt, und die neuen privaten Eigentümer haben das Gelände so profitabel beplant, dass man sich einen vernünftigen Städtebau und eine solide Architektur nicht mehr leisten kann. Aber die Senatsbaudirektorin geht hin und freut sich, das sei doch ein ganz schönes Quartier geworden. Gleichzeitig wurden die Bahnhöfe in Deutschland ruiniert, alle!

Alle deutschen Bahnhöfe wurden ruiniert?
Selbstverständlich. Heute sind die kleinen Bahnhöfe brutale Sichtbetonunterführungen mit vandalismussicheren Lampen und Geländern. Und die großen Bahnhöfe sind ein einziges Durcheinander aus Shoppingmalls, Parkgaragen, Feuerwehrzufahrten, Fußgängerüberquerungen, Traforäumen. Darüber befinden sich dann Strukturen mit Büroflächen, die ein- oder zweimal renoviert werden und dann leer stehen – man sieht es an den verschmutzten Fenstern. Ein einziges Ärgernis, ohne Sinn und Verstand.

Die Corona-Pandemie hat einen Homeoffice-Boom ausgelöst. Ist das Bürohochhaus ein Auslaufmodell? 
Das glaube ich nicht. Homeoffice wird sich in der Breite nicht durchsetzen, es gibt nur wenige Tätigkeiten, die dafür auf Dauer geeignet sind. Mit Büros ist es aber wie mit dem Wohnen: Ich will an einem schönen Ort arbeiten, vor allem im Hochhaus. Wenn ich aus dem Fenster schaue, will ich nicht auf ein Sammelsurium von Kiesdächern, Lüftungsrohren, Dunstabzugshauben und Aufzugsüberfahrten schauen oder auf eine ungepflegte, mühsam begrünte Dachlandschaft, für die man Subventionen einstreichen kann. Das will ich nicht sehen.

Sie haben viele Jahre Architektur unterrichtet. Hatten Sie den Eindruck, dass bei den Studenten eine Sensibilität für das herrscht, was Sie gerade beklagen?
Ja, natürlich. Ich sehe doch, welche großartige Arbeit viele meiner ehemaligen Studenten leisten. Aber schauen Sie sich die Hochschulen heute an! 

Und zwar?
Architektur wird da ja gar nicht mehr gelehrt. Es wird nur noch „Öko“ gelehrt. Und weil man es nicht mehr schafft, die vielfältigen Teile einer Bauaufgabe zu einem Ganzen zu fügen, fängt man an, die Fassaden und Dächer zu begrünen. Denken Sie nur an den sogenannten Bosco Verticale in Mailand, ein zotteliger Luxuswohnturm. Das ist nichts anderes als ein jämmerlich zusammengeklebtes Gehäuse, eine Klapperkiste, über die „Grün“ gehängt wurde nach dem bekannten Motto von Egon Eiermann, der beste Freund des Architekten ist der Knöterich. Ein reines Spekulationsobjekt, mit dem man alle möglichen Fördertöpfe anpumpen und Gütestempel bekommen kann und zu allem Überfluss auch noch den Preis des Bundes Deutscher Architekten.

Welche Auswirkungen wird die Corona-­Epidemie auf Architektur und Städtebau haben? Sehen Sie langfristige Auswirkungen, oder ist das nur eine zwischenzeitliche Aufgeregtheit, die wir im Moment erleben?
Ich befürchte eher Letzteres, habe aber Hoffnung, dass es nachhaltige Änderungen geben wird – in den Städten, aber auch auf dem Land. Dieser Satz „Ich bleibe zu Hause!“, der gilt natürlich auch für den ländlichen Bereich. Wenn man im Homeoffice arbeiten kann und Familie hat, kann man das verbinden mit dem Leben draußen, im Grünen, mit dem Wald vor der Tür zum Spazierengehen. Und wenn das Dorf nicht die Kraft hat, einen Bäcker, einen Metzger oder ein Restaurant zu halten, freut man sich dort über Zuzügler, damit sich die Strukturen vielleicht wieder ändern. 

„Licht, Luft und Sonne!“ war vor 100 Jahren das Motto der Lebensreform-Bewegung. Ist es heute wieder aktuell?
Bevor man sich um marode Städte kümmert, sollte man jedenfalls besser versuchen, Menschen, die dafür eine Ader haben und die das zu schätzen wissen, eine Alternative auf dem Dorf zu schaffen. Es gibt gerade im Osten Deutschlands Gemeinden, in denen man wunderbar wohnen kann. Da ein Zeichen zu setzen und das auch zu fördern, ist doch im öffentlichen Interesse, damit die jungen Menschen nicht einfach in die Stadt flüchten und dort in prekären Situationen wohnen und arbeiten müssen. 

Aber war die Flucht vom Land in die Stadt nicht schon immer ein Zeichen für Wandel und das Streben nach höherem Wohlstand?
Ich glaube, das ist heute nicht mehr so, zumindest nicht bei uns in Europa. Da ist die Schwelle zu hoch, um in den guten und begehrten Stadtquartieren zu wohnen. Für das gleiche Geld ist auf dem Land eine ganz andere Lebensqualität zu haben.

Wir hatten in den vergangenen Jahren eine große Migrationswelle. Verändern sich die Städte dadurch?
Der starke Zuzug der vergangenen Jahre ist in Großstädten wie Berlin in einigen Quartieren deutlich spürbar. Wenn das Thema politisch sensibel angegangen wird, dann kann man den Menschen, die in der Großstadt dennoch ihre Chance suchen, dabei helfen, eine Existenz aufzubauen. Vielen gelingt das ja auch. In Kreuzberg konnte man das vor vielen Jahren schon beo­b­achten. Und wir sehen es heute in Neukölln, mit der Vielfalt kleiner Läden, die erfolgreich den Defiziten unserer Konsumgesellschaft mit pfiffigen Geschäftsmodellen begegnen.

In Zuwanderer-Kiezen wie Berlin-Neukölln gehen die Menschen nach draußen, da gibt es Straßenverkehr, viele kleine Läden mit Verkaufsständen auf der Straße. Das entspricht wahrscheinlich nicht dem typischen Bild einer europäischen Stadt. Aber es manifestiert sich an solchen Orten doch eigentlich das von Ihnen vermisste städtische Lebensgefühl.
Vollkommen richtig. Aber damit sind natürlich auch Probleme verbunden, mit denen man fertig werden muss. Man muss vor allem im Blick behalten, dass die Umgebung, das angestammte und in Resten noch vorhandene bürgerliche Leben und die gewohnten Strukturen nicht vollständig verdrängt werden. 

Dieser Text stammt aus der September-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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