Antisemitismus im Kulturbetrieb - „Die Bestürzung über den BDS kann man sich schenken“

Umstrittene Preisverleihungen und die Absage von Veranstaltungen aufgrund von Haltungen zu Israel: Was ist los im deutschen Kulturbetrieb? Ein Gespräch mit dem israelischen Soziologen Natan Sznaider.

Anti-Israel-Demonstration in Berlin / dpa
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Das Goethe-Institut in Tel Aviv hat eine Diskussion über zwei Bücher abgesagt, ein Preis des Schauspiels Stuttgart an die britische Dramatikerin Caryl Churchill wurde nicht vergeben. In beiden Fällen ging es um Haltungen zur israelischen Politik. Wir sprachen per Videoschalte zwischen Tel Aviv und Berlin mit dem Soziologen Natan Sznaider, dessen Buch „Fluchtpunkte der Erinnerung“ (Hanser Verlag) die Debattenlage und ihre theoretischen Wurzeln ausgeleuchtet hat.

Sznaider wurde 1954 in Mannheim geboren. Seine Eltern waren aus Polen stammende staatenlose Überlebende der Shoa. Sznaider, der an der Akademischen Hochschule in Tel Aviv unterrichtet, wurde 1992 an der Columbia University in New York mit einer Arbeit über die „Sozialgeschichte des Mitleids“ promoviert. Später unterrichtete er an der Columbia, der Hebräischen Universität in Jerusalem sowie der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Schwerpunkte seiner Forschung sind Kultursoziologie, Politische Theorie, Hannah Arendt, Globalisierung, Kosmopolitismus, Erinnerung und Shoah. 

Herr Sznaider, in Ihrem Buch „Fluchtpunkte der Erinnerung“ diskutieren Sie das Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust in der gegenwärtigen Erinnerungspolitik. In Tel Aviv wurde gerade eine Veranstaltung des Goethe-Instituts abgesagt, bei der es anlässlich eines Buches der Autorin Charlotte Wiedemann um genau dieses Thema gehen sollte. Wie stellt sich Ihnen der Fall dar?

Da ist viel Lärm um nichts entstanden. In Charlotte Wiedemanns Buch geht es primär gar nicht um das Verhältnis von Shoah und Kolonialismus. Ausgehend von der Frage, wie man den Schmerz der anderen begreifen kann, so der Untertitel des Buches von Wiedemann, sollte im Goethe-Institut diskutiert werden, ob und wie das Trauma des Holocausts mit dem palästinensischen Trauma der Nakba von 1948 verbunden ist. Das kann man so machen, die beiden Wissenschaftler Amos Goldberg und Bashir Bashir, die ebenfalls eingeladen waren, haben ein Buch darüber geschrieben.

Vermutlich hätte man von einer Veranstaltung in einem akademischen Rahmen kaum mehr Notiz genommen. Die Nakba von 1948 ist kein Tabuthema in Israel. In einem Kibbuz-Museum findet dazu im Norden des Landes gerade eine Ausstellung von fünf palästinensischen Künstlern statt. Eine ganz andere Frage ist es allerdings, ob solch eine Diskussion ausgerechnet in einer deutschen Institution am 9. November durchgeführt werden sollte. Das kann man peinlich und geschmacklos finden, es hat aber nichts mit Redeverbot, Zensur und Gedankenpolizei zu tun. Die Wahl des Datums in Verknüpfung mit dem Ort war in meinen Augen instinktlos.

Charlotte Wiedemann hat die Absage als Schwäche gegenüber dem rechten Milieu in Israel kritisiert. Die deutsche Israelpolitik bedürfe einer dringenden Neuausrichtung. Hat sie nicht recht mit der Einschätzung, dass Veranstaltungen wie diese einer sehr großen Nervosität unterliegen?

Ja, das stimmt. Und es ist nichts Schlimmes daran, dass sie einer gewissen Nervosität unterliegen. Es hat meines Erachtens nichts mit einem Einknicken vor der neu gewählten israelischen Rechten zu tun. Ich habe den Verdacht, dass es nun vielmehr darum geht, sich als politische Märtyrer zu inszenieren. Man sollte die Absage nicht dramatisieren.
 

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Ein anderes Beispiel einer politisch-kulturellen Friktion: Die britische Autorin Caryl Churchill sollte mit dem „Europäischen Dramatiker:innen-Preis“ für ihr Lebenswerk ausgezeichnet werden. Als jedoch ihr Engagement für Aktionen der Organisation BDS („Boycott, Divestment and Sanctions“), die Israel wirtschaftlich und kulturell isolieren will, öffentlich wurde, zog die Jury den Preis zurück. Hat sie sich richtig verhalten?

Wenn man sich für die Vergabe eines Preises entschieden hat, sollte man ihn auch vergeben. Ich war nach der Installation des Taring-Padi-Plakats bei der Documenta übrigens auch der Meinung, dass man es hätte hängen lassen sollen. Das Abhängen eines Kunstwerks und die Zurücknahme eines Preises lenken ab von einer politischen Haltung, die in den Kultureliten offensichtlich verbreitet ist. In nachträglichen Korrekturen und erschrockenen Bekundungen wie „Das haben wir nicht gewollt“ drückt sich eine intellektuelle Unehrlichkeit aus.

Zweifellos war das Bild von Taring Padi antisemitisch, aber es ist aufgehängt worden, also müssen wir damit umgehen. Das gilt ebenso für den Preis an Caryl Churchill sowie für den Literaturnobelpreis an Annie Ernaux. Insbesondere Juden müssen erkennen, dass viele Angehörige der Kulturelite kein Problem in BDS-Positionen sehen. Eine nachträgliche Bestürzung sollte man sich schenken. Ich plädiere für mehr Ehrlichkeit.

Ein Einwand bei der Diskussion um Annie Ernaux bestand darin, dass Antisemitismus und Israelkritik in deren Werk keine Rolle spielen.

Ich kann die Unterscheidung von Künstler und Werk sehr wohl nachvollziehen. Ich gehöre der Generation an, für die die Musik von Pink Floyd prägend war. Es ist immer noch so, dass etwas Gutes mit mir passiert, wenn ich Pink Floyd höre. Das ist so, und ich kann leider nichts dagegen tun, dass Roger Waters politisch nicht der Hellste ist, wie viele andere großartige Künstler.

Wer geglaubt hat, dass aus dem Desaster der Documenta heilsame Lehren gezogen werden können, muss jetzt eingestehen, sich geirrt zu haben. Verbittert Sie das?

Nö. Die Lehre, die aus der Documenta gezogen werden kann, besteht in der Einsicht, dass sich ein großer Teil der deutschen und internationalen Kulturelite mit Zielen des BDS identifiziert. Juden sollten erkennen, dass der Satz „Für Antisemitismus gibt es in Deutschland, in Europa keinen Ort“ einfach nicht stimmt. Es gibt Antisemitismus im öffentlichen Raum, und er kommt keineswegs nur von rechts. Und es gibt nicht nur rassistischen Antisemitismus, sondern eben auch antirassistischen Antisemitismus, der vorgibt, sich an Universalismus, einer Kultur der Menschenrechte und der Gleichheit zu orientieren. Das verbittert mich nicht, aber ich denke, dass jüdische Menschen in Europa ein stärkeres jüdisches Selbstbewusstsein entwickeln und sich nicht darauf verlassen sollten, dass der deutsche Staat sie vor Antisemiten schützt.

Soziologe Sznaider / dpa

Der deutsche Staat scheint aber immer stärker unter Rechtfertigungszwänge zu geraten. Noch vor seinem Amtsantritt als neuer Chef des Hauses der Kulturen der Welt steht der aus Kamerun stammende Kulturmanager Bonaventure Ndikung in der Kritik, BDS-Aktivitäten unterstützt zu haben. Steht uns jetzt eine Art BDS-Prüfpflicht für den gehobenen Dienst in Kultureinrichtungen bevor?

Das lehne ich ab. Leitungspositionen in Kultureinrichtungen sollten nach Eignung besetzt werden. Weder sollte die Affinität für den BDS sanktioniert, noch eine proisraelische Haltung gratifiziert werden. Das wäre absurd. Aber wer sich für den BDS engagiert, sollte mit Gegenreaktionen rechnen. Es ist kein Geheimnis, dass BDS eine reaktionäre, dezidiert kulturfeindliche Organisation ist. Sie hat sich einen kulturellen Boykott auf die Fahnen geschrieben und ist erfolgreich damit. Ein wirtschaftlicher und politischer Boykott, den sie ebenfalls in ihrem Namen führen, findet indes kaum statt. Ich kann nicht verstehen, warum Akteure des Kulturbetriebs mit einer derart antiliberalen Vereinigung sympathisieren. Den Versuch, BDS-Unterstützer von wichtigen Positionen fernzuhalten, halte ich trotzdem weder politisch noch moralisch für sonderlich klug. 

Wird der BDS viel zu wichtig genommen?

Ich bin der Meinung, man sollte die, wie man ironisch sagt, nicht einmal ignorieren. Es hat meines Erachtens nichts mit Politik zu tun, eine Unterschrift unter einen Aufruf zu setzen. Nahostpolitik wird im Nahen Osten gemacht, nicht in Berlin oder Paris. Wer glaubt, mit einer Unterschrift etwas für den Frieden oder mehr Gerechtigkeit getan zu haben, dem kann man sagen: Du verstehst nichts von Politik. Eine Form von Politik, die von dem Gedanken getragen ist, den Schmerz der anderen begreifen zu können, halte ich für Augenwischerei. Der Nahe Osten ist nun einmal kein Trauma-Labor, wo aus dem Verständnis für das Leid der anderen gleich eine bessere Politik hervorgeht. Das beruht meines Erachtens auf einem völligen Missverständnis der Möglichkeiten politischer Prozesse.

Ihr Buch „Fluchtpunkte der Erinnerung“ ist von vielen als Vermittlungsversuch in einer festgefahrenen Debatte verstanden worden. Bleiben Sie optimistisch hinsichtlich der Frage, ob ein offener Diskurs möglich ist?

Es war nicht meine Absicht, einen Kompromiss zwischen Kolonialismus und Shoa durchzuwinken. Es ging um den Versuch zu verstehen, dass Gewaltgeschichten über keinen gemeinsamen Nenner verfügen, sondern Menschen voneinander trennen. Es geht mir um ein Verständnis des anderen als Anderen, die Einsicht, dass seine Gewalterfahrung eine andere ist. Es geht mir also nicht um Mitgefühl, sondern um Anerkennung. Tatsächlich gibt es in Israel viele, die anerkennen, dass die Palästinenser 1948 fliehen mussten und vertrieben wurden. Mir geht es um ein Verständnis davon, dass wir uns in unseren partikularen Geschichten verfangen haben, und dass der Universalismus nicht immer und unbedingt die richtige politische Antwort ist.

Das Gespräch führte Harry Nutt.

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