Debatte um Amanda Gorman - Wer darf überhaupt noch was?

Das allseits gefeierte Gedicht von Amanda Gorman wird zur Zeit in viele Sprachen übersetzt. Auch ins Holländische. Doch die schwarze Aktivistin Janice Deul äußerte sich empört darüber, dass eine weiße Autorin das Gedicht übertragen sollte. Grotesk.

Die Dichterin Amanda Gorman beim Amtsantritt des neuen US-Präsidenten Joe Biden / dpa
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Jens Nordalm leitete bis August 2020 die Ressorts Salon und Literaturen bei Cicero.

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Die Auswüchse dessen, was man „Identitätspolitik“ nennt, nehmen täglich groteskere Ausmaße an. Positiv betrachtet, mag das ein Zeichen sein, dass die Sache zu kippen beginnt. Denn auch das Unverständnis  über diese Auswüchse wächst – bis hin zu Orten in der Medienlandschaft, wo einen das noch überrascht: in taz, ZEIT oder Spiegel.

Der neueste Fall betrifft die seit Joe Bidens Amtseinführung berühmte Amanda Gorman, die junge schwarze Dichterin mit dem gelben Mantel. Ihr allseits gefeiertes Gedicht wird gerade überall auf der Welt übersetzt. Auch ins Holländische. Das sollte eigentlich die 29 Jahre alte, weiße Autorin Marieke Lucas Rijneveld tun, selbst gerade Booker-Preisträgerin. Eine Entscheidung, über die Amanda Gorman sich sehr erfreut gezeigt hatte. Dann aber erschien in einer holländischen Tageszeitung ein Artikel der schwarzen Aktivistin Janice Deul, die diese Wahl skandalös fand, weil die Übersetzerin weiß sei und auch in anderen Merkmalen nicht mit Amanda Gorman übereinstimme, wie etwa der Geschlechtsidentität – Marieke Lucas Rijeneveld ist „nicht-binär“.

Rijneveld zog sich zurück

Nun geschah, was man hofft, dass es nicht mehr oft geschieht: Rijneveld teilte mit, sie verstehe, dass man sich von ihrer Wahl verletzt fühlen könne, und zog sich aus dem Projekt zurück. Der Verlag zeigte sich einsichtig und reuig. So etwas werde nicht mehr passieren. Dass die Argumentation gegen diese Vorgänge so leicht fällt und dass die Absurdität der Folgen so auf der Hand liegt, die es hätte, wenn diese Maßstäbe konsequent angewendet würden,  – das macht aber fast schon wieder Hoffnung.

Früher – und vielleicht bald wieder – waren wir doch Menschen, die ihre Ehre darein gelegt haben, andere Menschen zu verstehen, uns in sie hineinzuversetzen und zum Beispiel, wenn wir in dem Bereich tätig waren und die Sprache sprachen, die Werke anderer Menschen treffend zu übersetzen. Und wir fanden, dass das auch gelang, jedenfalls gelingen konnte. Dass wir verstehen konnten, was andere Menschen bewegt, was sie freute, woran sie litten und warum sie Erfahrungen so und nicht anders ausdrückten. Vorbei. Heute darf nur derjenige, diejenige oder die „nicht-binäre“ Person solches versuchen, die dem Menschen, um den es geht, buchstäblich bis aufs Haar gleicht.

Das perfekte „match“

Was die Übersetzungen angeht, ist das tatsächlich ein neues weites Feld für identitätspolitische Fahndungen: Das wird mutmaßlich allermeist in den Paarungen von Autor und Übersetzer bisher gar nicht gepasst haben – da muss jetzt ganz viel neu übersetzt werden. Und natürlich dürfte man dann auch nicht bei den Übersetzungen stehen bleiben.

Jede intellektuelle Zuwendung zu den Äußerungen eines anderen Menschen müsste solange unterbleiben, bis man das perfekte „match“ im identitätspolitischen Merkmalskatalog gefunden hätte. Jede fiktionale Gestaltung von Lebenslagen, die nicht der Lebenslage des Schriftstellers, der Schriftstellerin, entsprechen, müsste unterbleiben – und soll es ja auch. Es wird ja bereits Autoren in den USA, karrieregefährdend, genau diese schreibende Hinwendung zu anderen Milieus vorgeworfen – unter dem Namen einer verbotenen „kulturellen Aneignung“.

Nur noch gleiche Merkmalsträger 

Literatur wäre tot, jeder konstruktive Austausch, nicht nur weltgesellschaftlich, auch innergesellschaftlich, wäre tot. Niemand darf über niemanden mehr was sagen. Nur noch der parallele Leerlauf von Äußerungen gleicher Merkmalsträger über gleiche Merkmalsträger. Man wünscht sich fast die Zeiten zurück, als alle Welt ständig und modisch von der „Empathie“ sprach, die wir dringend üben müssten. Da ging man wenigstens noch davon aus, dass das von Mensch zu Mensch möglich sei.

Aber wie gesagt: Die offen zutage liegende Absurdität des Ganzen lässt doch hoffen.
In Deutschland übrigens wird im Verlag Hoffmann und Campe Amanda Gormans Gedicht – na, was tippen Sie? – sehr divers von gleich drei Frauen übersetzt. Da sollten sich genügend Merkmals-Überschneidungen mit Gorman finden, dass das die strengen Wächter durchwinken.

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