Diskussion um „AllesaufdenTisch“ - Schlimmes suchen und nichts finden

Aus dem „Allesdichtmachen“-Umfeld ist der Welt mit „AllesaufdenTisch“ jüngst ein neuer rechtsradikaler Schwurbel-Gottseibeiuns erschienen – zumindest könnte zu dem Schluss kommen, wer sich bei der Bewertung der Aktion nur aufs Hörensagen verlässt. Dabei ist sie nicht nur legitim, sondern auch deutlich harmloser.

Der Schauspieler Volker Bruch / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen. Und weil es da draußen noch ganz viele Menschen gibt, die sich partout nicht impfen lassen wollen (oder geimpft sind, aber falsch finden, dass Ungeimpfte zunehmend aus dem Alltagsleben gedrängt werden), wird auch mal Tacheles getwittert. Zum Beispiel von Grünen-Politiker Jan Philipp Albrecht, seines Zeichens Minister für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt, Natur und Digitalisierung des Landes Schleswig-Holstein.

Wie Albrechts gesamter Jobtitel auf eine Visitenkarte passen kann, ist eine Frage, die der Klärung bedarf. Eine andere Frage – nämlich die, was Albrecht von der Aktion „AllesaufdenTisch“ hält – ist bereits geklärt. Auf Twitter schrieb er vergangene Woche: „Volker Bruch, Wotan Wilke Möhring und ihre #allesdichtmachen-Gang machen mit #allesaufdentisch deutlich, dass es ihnen nicht um Kunst geht (die mal schief läuft), sondern um die Verbreitung rechtsradikaler, antisemitischer und demokratiefeindlicher Verschwörungsinhalte.“

Klare Kante twittern

„AllesaufdenTisch“, das sind mehr als 50 Videos, die vergangene Woche gleichzeitig online gegangen sind. Diese stammen, mehr oder weniger, aus dem gleichen Umfeld wie schon die heiß diskutierte „Allesdichtmachen“-Aktion vor wenigen Monaten; als Initiatoren werden im Impressum der Schauspieler Volker Bruch und die Künstlerin Jeana Paraschiva genannt. Nur ist der Ansatz, anders als bei „Allesdichtmachen“, kein satirischer. Vielmehr sind die Videos Gespräche zu Überbegriffen oder Metathemen, die mit der Corona-Pandemie zusammenhängen, darunter „Meinungsfreiheit“ oder „Corona und die Rolle der Medien“. Meist befragt ein Kulturschaffender einen Experten oder jemanden, der für die Expertenrolle auserkoren wurde. Ein Video dauert rund 20 Minuten.

Schlimm, diese neue Aktion, mag manch Twitter-User nach der Lektüre des Albrecht-Tweets nun gedacht haben. Und gut, dass da einer klare Kante twittert. Dafür ein Herzchen. Andere wiederum schrieben klare Kante: der Stern etwa von einer „coronaskeptischen Aktion“ und Der Westen davon, dass „AllesaufdenTisch“ einer „Verharmlosung des Virus“ gleichkomme und die Debatte um die Corona-Maßnahmen „unnötig“ aufheize. Die Frankfurter Rundschau lockte ihre Leser mit einem vielversprechenden „Hier lesen Sie, was sich die Corona-Kritiker:innen in ihren Videos zurechtschwurbeln.“ Ist uns mit „AllesaufdenTisch“ also ein neuer rechtsradikaler Schwurbel-Gottseibeiuns erschienen?

Über Faktenchecker und Hassrede

Darauf zwei Antworten. Die erste ist eine Gegenfrage: Wer hat tatsächlich die Zeit, sich über 18 Stunden Videomaterial einer solchen Aktion anzusehen? Die zweite Antwortet lautet: Nach einer mehrstündigen Stichprobe während einer Zugfahrt konnte der Autor dieser Zeilen nichts erkennen, was in irgendeiner Form „wirr“ oder „irre“ gewesen wäre, geschweige denn „rechtsradikal“ oder „antisemitisch“. Auffällig dagegen: In zwei Gesprächen wurde konsequent gegendert – und mindestens zwei der Protagonisten sind bekennend durchgeimpft, was nicht gerade dafür spricht, dass Corona in der Aktion geleugnet würde.

Außerdem kommen bei „AllesaufdenTisch“ sogar Themen zur Sprache, über die im öffentlichen Raum ruhig häufiger diskutiert werden könnte. Etwa, ob Faktenchecker tatsächlich an objektiver Wahrheitsfindung interessiert sind oder eher daran, die Welt nach ihrem Gusto zu deuten. Gleichfalls, ob ein Begriff wie „Hassrede“ nicht viel zu schwammig ist, um den Kampf gegen selbigen zur Staatsräson zu erklären. Entscheidend ist bei der Bewertung der Aktion „AllesaufdenTisch“ aber noch etwas anderes: Sie ist vollkommen legitim.

Kampf um Twitter-Herzchen

Wenn Musiker wie Die Ärzte oder Peter Maffay eine Impfkampagne starten, warum sollten andere Menschen aus dem Kulturbetrieb nicht auch ihre Meinung zu Impfung und zu Corona-Maßnahmen äußern dürfen? Warum diskutieren wir im Anschluss an solche Aktionen oder Meinungsäußerungen lieber über vermeintliche Weltbilder Einzelner statt über tatsächliche Inhalte? Und in welchem Universum ist es eigentlich demokratiegefährdend, wenn Menschen öffentlich vertreten, was nicht strafbar und damit von der Meinungsfreiheit gedeckt ist?

Leider zeigt die (wenn auch im Vergleich zu „Allesdichtmachen“ deutlich geringere) Aufregung um „AllesaufdenTisch“, dass sich manch Diskutant im Kampf um Klickzahlen und Twitter-Herzchen Reflexe antrainiert hat, die sich so schnell wohl nicht mehr abtrainieren lassen. Schade drum. Denn eine besondere Maßnahme in besonderen Zeiten könnte ja auch sein, sich wieder stärker auf Augenhöhe zu begegnen. Übrigens eine Forderung, die in den „AllesaufdenTisch“-Videos mehr als einmal zu hören ist.

Ein Vorschlag zur Güte: Ein 20-minütiges Gespräch zwischen Schauspieler Volker Bruch und Grünen-Politiker Jan Philipp Albrecht. Wenn’s unbedingt sein muss, auch gerne bei Twitter.

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