300. Geburtstag von Immanuel Kant - Der Erfinder der Moderne

Vor 300 Jahren wurde Immanuel Kant geboren. Der Philosoph hat uns aus dem Setzkasten des Denkens befreit. Das ihm zugeschriebene Attribut des „Alleszermalmers“ geht aber an der Sache vorbei. Kant war eher Bewahrer denn Zerstörer.

Immanuel Kant / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Kant ist der Superstar der deutschen Philosophie. Er gilt als der alles überragende Leuchtturm der Aufklärung, als der schon zu Lebzeiten verehrte Gründungsvater modernen philosophischen Denkens und zugleich als gnadenloser „Alleszermalmer“ traditioneller Metaphysik. So sah ihn zumindest Moses Mendelssohn, Zeitgenosse, Kollege und führender Repräsentant der Haskala, also der jüdischen Aufklärung.

Ob ein einzelner Philosoph oder Intellektueller überhaupt in der Lage ist, ein ganzes Zeitalter zu prägen, kann man aber bezweifeln. Auch Kants Verdienst liegt weniger darin, auf geniale Art und Weise bisher Undenkbares in revolutionärer Art gedacht zu haben. Das ist eine ziemlich romantische Vorstellung. Kant ist es jedoch gelungen, die philosophischen Strömungen seiner Zeit zusammenzuführen. 

So gelingt es ihm, aus dem Setzkasten des Denkens der Aufklärung den geistigen Überbau der beginnenden Moderne zu formen und unserem Zeitalter so die Schlagworte zu liefern, die es wirklich zur Moderne machen. Das Attribut des „Alleszermalmers“ geht daher an der Sache vorbei. Bei nüchterner Betrachtung war Kant eher Bewahrer denn Zerstörer. Sein philosophisches Anliegen war nicht die Widerlegung der traditionellen Schulmetaphysik, sondern ihre Rettung unter den Bedingungen radikaler Kritik.

Höhepunkt der Aufklärung

Entsprechend kann man auch das Bild von Kant als Leuchtturm und Höhepunkt der Aufklärung hinterfragen. Gegenüber dem, was in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor allem in Schottland und Frankreich gedacht wurde, kommen die intellektuellen Ergebnisse Kants eher bieder daher. Ein Diderot, ein La Mettrie, ein Baron Holbach und ein David Hume dachten sehr viel radikaler. Unnachgiebig erschütterten sie das Weltbild ihrer Zeit und konfrontierten ihre Mitmenschen mit nüchternen Wahrheiten: Gott? Ein Aberglaube. Moral?Interessengeleitet und kulturabhängig. Geschichte? Eine Abfolge von Mord und Totschlag. Das Schöne, Wahre, Gute? Allenfalls psychologisch beschreibbar. Der Mensch? Ein biochemischer Apparat, der sich einbildet, eine unsterbliche Seele zu haben.

Das waren nicht nur radikale, unerhörte, ja ketzerische Ansagen, die die Vorstellungswelt der meisten Menschen sprengten. Diese Thesen und die Methodik, auf denen sie gründete, stellten zugleich das Projekt Philosophie an sich infrage. Denn wenn es stimmen sollte, dass letztlich nur Sätze der empirischen Naturwissenschaften wirklich wissenschaftliches Wissen darstellen, dann wären nahezu alle Aussagen der Philosophie haltlos. Sätze über Ideen, Vorstellungen oder Werte hätten dann bestenfalls innerhalb einer Kultur eine gewisse Geltung, aber niemals universale, wissenschaftliche Gültigkeit.

Für traditionelle Philosophen ist das ein Problem. Denn wenn nur empirische Aussagen wirklich wissenschaftlich sind, dann ist Philosophie keine Wissenschaft, sondern bestenfalls Fachdisziplin für ihre eigene Irrtumsgeschichte. Diese Einsicht ist für Philosophen naturgemäß eine Zumutung, gegen die sie sich mit allen rhetorischen Mitteln ihrer Zunft wehren. In der Regel läuft die Verteidigungsstrategie darauf hinaus, empirisches Wissen abzuwerten. Dieses sei letztlich unsicher, unsere Wahrnehmung könnte auch eine einzige große Täuschung sein, vielleicht sogar eine Illusion.

So standen sich schon Ende des 18. Jahrhunderts zwei Positionen gegenüber: Auf der einen Seite die Philosophen der radikalen Aufklärung, die den Naturwissenschaften vertrauten und jedem spekulativen Denken mit größer Skepsis begegneten. Auf der anderen Seite die Verteidiger traditioneller Metaphysik und der Vorstellung, es gäbe auch außerhalb der Mathematik gesichertes nichtempirisches Wissen.

Der aufgeklärte Absolutismus hatte ausgedient

Kant haderte mit beiden Lagern: Einerseits wollte er sich die Empirie nicht einfach wegstreichen lassen, sei es im Namen eines radikalen Skeptizismus oder eines platonisch eingefärbten Rationalismus. Andererseits war er viel zu sehr Philosoph, um sich von Empirikern und Naturwissenschaftlern die Butter vom Brot der Erkenntnis nehmen zu lassen. Also suchte Kant nach einem Ausweg.

Er verfiel einige Jahre ins Schweigen, dachte nach, schrieb und veröffentlichte schließlich – wir haben das Jahr 1781, Kant ist 57 Jahre alt – das Buch, das ihn berühmt machen sollte: die „Kritik der reinen Vernunft“. In Fachveröffentlichungen KrV abgekürzt, blieb sie zunächst in den Regalen der Buchhändler liegen, was angesichts der schon für die Zeitgenossen etwas unzugänglichen und komplizierten Sprache nicht weiter verwundert. Gute-Nacht-Lektüre ist das Buch mit Sicherheit nicht.

Illustration: Marco Wagner

Aber die KrV passte zum Zeitgeist, zumal im protestantisch geprägten Deutschland. 1774 war der Bestseller „Die Leiden des jungen Werther“ erschienen, verfasst von einem Praktikanten am Reichskammergericht in Wetzlar, einem gewissen Johann Wolfgang Goethe. Was man später die Epoche des „Sturm und Drang“ nennen wird, fand damit seinen Höhepunkt. Insbesondere Studenten und dem jungen städtischen Bürgertum erschienen der Rationalismus und die strenge gesellschaftliche und modische Ordnung des Rokoko als verstaubt und nicht nur äußerlich ver­zopft. Der aufgeklärte Absolutismus hatte ausgedient. Und das nicht nur als Staatsform, sondern auch als Denkweise.

Denn aufgeklärter Absolutismus, das bedeutete nicht nur die Organisation eines Staatsapparats, der vollkommen auf einen Monarchen ausgerichtet war, welcher gleichsam als Stellvertreter der Vernunft die irdischen Belange organisierte. Dieser Aufbau der Gesellschaft war zugleich Ausdruck einer göttlichen, rationalen Ordnung, an deren Spitze ein Schöpfergott stand, der die Welt vernünftig und hierarchisch eingerichtet hatte.

Gegen dieses rationalistische Bild der Welt wandte sich nun die Jugend. Ihre Parolen lauteten: Subjektivität statt Rationalität, Gefühl statt Vernunft, Spontaneität statt Ordnung. Wie Werther, der sich leidenschaftlich ganz der Liebe hingibt, das Lebendige in jeder Blume, jedem Grashalm spürt und angeödet ist von der vernünftigen, aber toten Welt, die ihn umgibt, revoltiert man gegen die steife, angeblich rationale Ordnung.

Der Nerv der Zeit

Kants „Kritik der reinen Vernunft“ liefert die passende Philosophie zu diesem Lebensgefühl. Natürlich ist Kant allenfalls in einem übertragenen Sinne ein Stürmer und Dränger, und die Leidenschaften eines Werthers hätte er scharf verurteilt. Doch die Idee, dass die Welt nicht einfach objektiv und gegeben ist, sondern, so wie wir sie erleben, mindestens ebenso sehr Produkt unserer Subjektivität, unserer Anschauung ist und dass es in diesem Sinne gar keine objektive, rationale Erkenntnis gibt, traf den Nerv der Zeit.
 

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Es überrascht daher nicht, dass die KrV, aller sprachlichen Hemmnisse zum Trotz, ihren Siegeszug antrat. Dafür brauchte es bei einem so umständlichen Werk allerdings Schützenhilfe. Die kam von einem Wiener Philosophen und Schriftsteller: Carl Leonhard Reinhold. Ursprünglich Zögling des Jesuitenkollegs St. Anna und Mitglied des Ordens der Barnabiten, beginnt sich Reinhold für die Ideen der Aufklärung zu interessieren, tritt zum Protestantismus über und arbeitet schließlich für Christoph Martin Wielands Literaturzeitschrift Der Teutsche Merkur.

Dort erscheinen 1786 Reinholds „Briefe über die Kantische Philosophie“. Sie und die spätere Schrift „Versuch einer neuen Theorie des Vorstellungsvermögens“ machen Kants Erkenntnistheorie erst einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich und sorgen dafür, dass Kant und seine KrV schlagartig in den Mittelpunkt der philosophischen Diskussion rücken. Dank Reinhold wird Kant zum Starphilosophen. Dieser bedankt sich auch artig und bescheinigt Reinhold, dass dessen Darstellung der Grundzüge der KrV „an mit Gründlichkeit verbundener Anmuth nichts übertreffen kann“.

Diese Supernova des Geistes

Doch Reinholds Fanfare war Fluch und Segen zugleich. Denn sie machte Kant nicht nur über Nacht zu einer Berühmtheit, sondern katapultierte seine Philosophie in den rasenden Strom der philosophischen Entwicklung jener Jahre. 1792 betrat der junge Johann Gottlieb Fichte die philosophische Weltbühne und formulierte bald seine eigene, auf Kant aufbauende Wissenschaftslehre. Die Romantiker in Jena und Berlin, allen voran der Reinhold-Schüler Novalis, die Brüder Schlegel und der philosophische Wunderknabe Friedrich Wilhelm Joseph Schelling diskutierten Kants Theorie und entwickelten eigene Ansätze. Und schließlich war da noch der etwas ältlich wirkende Georg Wilhelm Friedrich Hegel, dessen Denken das 19. und 20. Jahrhundert prägen sollte.

Diese Supernova des Geistes, die in den Jahren zwischen 1795 und 1807 in Berlin, Weimar, Heidelberg und Tübingen zündete, überstrahlte bald ihren eigentlichen Urheber, den inzwischen greisen Kant. Der hatte sich mit seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ inzwischen Fragen der Ethik zugewandt. Aufbauend auf dieser etwas kürzeren Schrift erschien dann 1788 seine „Kritik der praktischen Vernunft“ (KpV).

Freier Wille und Ideen der Sittlichkeit

Kants Vorgehen ähnelt dabei den Grundlagen seiner Erkenntnistheorie. Auch hier strebt er wieder eine Art Kompromiss an. Einerseits ging es für ihn darum, weitestgehend empirische Ethiken wie die auf Gefühlen oder Nutzenanalysen aufbauenden Morallehren der Aufklärung zurückzuweisen. Zugleich wollte er aber auch die traditionelle Gebotsethik christlicher Provenienz vermeiden, da sie den Menschen in ein Korsett angeblich göttlicher Gebote oder irgendwelcher anderen objektiv gegebenen Sitten und Normen presste.

Kants Lösung besteht darin, den freien Willen mit den Ideen der Sittlichkeit zu Prinzipien einer praktischen Vernunft zusammenzudenken. Das bedeutet konkret: Die Freiheit des Menschen ist ohne seine Autonomie und zugleich sein Vernunftvermögen nicht zu denken. Dadurch ist der Mensch in der Lage, sein eigenes Handeln quasi von zwei Seiten zu betrachten: als autonomer Einzelner und unter der Perspektive einer allgemeinen Vernunft. Beide Perspektiven lassen sich in dem berühmten kategorischen Imperativ vereinen, wonach man stets so handeln soll, dass „die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“, wie es in der „Kritik der praktischen Vernunft“ heißt.

Illustration: Marco Wagner

Diese zweite Kritik Kants sollte ihre eigentliche Wirkung erst im Laufe des 19. Jahrhunderts entfalten. Das lag auch daran, dass die Schellings, Schlegels und Hegels an Fragen der Ethik zunächst nur am Rande interessiert waren. Insbesondere Hegel mokierte sich darüber, dass man mit dem kategorischen Imperativ so ziemlich alles begründen könne. Zudem sei die Vorstellung einer universalen Ethik obsolet. Moralische Vorstellungen unterlägen permanenten historischen und kulturellen Veränderungen.

Sehr viel eher war diese junge Generation an Fragen der Kunst und des Schönen interessiert. Die bearbeitete Kant 1790 in seiner dritten Kritik, der „Kritik der Urteilskraft“ (KdU), in der er unter anderem eine Ästhetik entwickelt, die weit über die Philosophie hinaus erhebliche Bedeutung erlangen sollte. Wie schon bei seiner Erkenntnistheorie und seiner Ethik, richtet Kant auch bei seiner Theorie des Schönen seinen Blick auf die Prozesse, die im Subjekt ablaufen. Denn das Schöne ist nicht da draußen in der Welt, es entsteht im Zuge von ästhetischen Bewertungen. Die Frage ist daher nicht, was objektiv schön ist, sondern vielmehr, wie ästhetische Urteile zustande kommen.

Eine Theorie des Designs

Wichtig – und zugleich modern – an Kants Ästhetik ist, dass sie sich eigentlich nicht mit Kunst im engeren Sinne befasst. Schaut man sich seine Beispiele genauer an, fällt auf, dass er sich vor allem mit Gegenständen des Alltags beschäftigt, mit Blumenbeeten, Decken oder Mode. Kants Theorie der ästhetischen Urteilskraft ist also keine Theorie der hohen Kunst, sondern eine Theorie des Designs. Das klingt modern und ist es auch. Zugleich aber erweist sich Kant hier als Kind des Rokokos, also einer Epoche der umfassenden Ästhetisierung des Alltags. Nicht die freie Kunst, die eben erst im Entstehen ist, interessiert ihn, sondern das Kunsthandwerk, die Verschönerung des Alltags der Bürgerwelt. Um etwas schön zu finden, bedarf es jedoch des guten Geschmacks, der nicht naturgegeben ist, sondern erst durch Bildung möglich wird. 

Anders als das Form-follows-function-Konzept des modernen Designs trennt Kant Form und Funktion voneinander ab. Das Schöne ist für ihn tatsächlich Äußerlichkeit, Verzierung und Dekoration, die einem Gegenstand zusätzlich hinzugegeben wird. Schönheit in der optimalen Funktionalität zu sehen, wäre für den Königsberger ein abwegiger Gedanke gewesen. Das hat auch damit zu tun, dass Kant der Sohn eines Sattlers und Riemenmeisters war. Für einen traditionellen Handwerker kommt erst die Funktion, dann wird der Gegenstand mit Dekor verschönert. Die Idee, dass die Funktionalität auch schon die ganze Ästhetik darstellt, ist aus dieser Sicht absurd.

Besagter Vater Johann Georg Kant stammte aus Memel, ging als junger Mann nach Königsberg und lernte dort die Riemenmeistertochter Anna Regina Reuter kennen, die er 1715 heiratete. Von den acht Kindern erreichten vier das Erwachsenenalter. Immanuel kommt am 24. April 1724 auf die Welt. Die Familie ist tief vom Pietismus geprägt. Psychologisch gedeutet, kann man Kants Ethik auch als den Versuch verstehen, die strenge Moral des Elternhauses in philosophische Formen zu gießen. Bertrand Russell wird später spöttisch formulieren: Die praktische Vernunft „geht von der Voraussetzung aus, dass alle sittlichen Lehren, die Kant in seiner Kindheit erhielt, wahr sind“.

Ein Denkraum, der nur Philosophen zugänglich ist

Mit acht Jahren kommt der kleine Immanuel an das Collegium Fridericianum, 1740 beginnt er mit dem Studium an der Albertus-Universität Königsberg. Dort hört er Philosophie, Naturwissenschaft und elementare Mathematik. Nach dem Tod des Vaters verdingt er sich als Hauslehrer. 1755 erhält er schließlich die Lehrerlaubnis an der Universität und unterrichtet, wie damals üblich, neben Metaphysik, Logik und Moralphilosophie auch Mathematik, Physik, Mechanik, Geografie, Anthropologie und Pädagogik. Erst 1770, also mit 46 Jahren, erhält er endlich den lang ersehnten Lehrstuhl für Logik und Metaphysik an der heimischen Albertus-Universität.

Kants erste Veröffentlichungen aus den 1750er Jahren befassen sich mit naturwissenschaftlichen Problemen, etwa dem Einfluss des Mondes auf die Erd­rotation oder der Entstehung des Planetensystems – bekannt geworden als Kant-Laplace-Theorie. Seine philosophischen Äußerungen beschränken sich zu dieser Zeit auf kürzere Stücke, beispielsweise über einen Beweis zum Dasein Gottes, über das Gefühl des Schönen und Erhabenen oder die launige Schrift „Träume eines Geistersehers“, eine Auseinandersetzung mit dem zu Kants Zeiten populären Theosophen und Erweckungsprediger Emanuel Swedenborg.

Illustration: Marco Wagner 

Im Jahr 1771 muss Kant dann ein Buch jenes Mannes in die Hände bekommen haben, der sein bisheriges Denken erschütterte: David Hume. Dessen radikaler Skeptizismus wird ihn, wie Kant es später ausdrückte, aus seinem „dogmatischen Schlummer“ erwecken. Insbesondere Humes Kritik an unserer gängigen Auffassung von Kausalität als einem Prinzip der Natur forderte Kant heraus. Denn was war seine Theorie zur Entstehung des Sonnensystems noch wert, wenn die Idee der Kausalität nur eine logisch fragwürdige Verallgemeinerung sinnlicher Erfahrungen ist?

Die Lösung, die Kant fand, war so einfach wie genial und sollte Generationen von Philosophen ihr Aufgabengebiet sichern: Es gibt nämlich, so die Grundthese, einen Denkraum, der ausschließlich Philosophen zugänglich ist und durch keine andere Wissenschaft betreten werden kann. Kant selbst spricht auch vom „Vorhof der Wissenschaft“. In diesem Vorhof finden sich die Voraussetzungen jeder Erkenntnis, also Verstandesbegriffe, die es ermöglichen, aus der empirischen Anschauung rationale Urteile zu bilden. Diese Verstandesbegriffe sind selbst keine Produkte der Wahrnehmung, sondern gehen der Wahrnehmung voraus. Sie sind a priori, wie der Fachphilosoph sagt.

Das System apriorischer Verstandesbegriffe

Die Verstandestätigkeit a priori ist die Bedingung aller empirischen Wissenschaft. Da ihre zentralen Kategorien aber nichtempirischer Natur sind, ist sie zugleich mit empirischen Methoden nicht fassbar. Mit anderen Worten: Die Grundlagen und Voraussetzungen des richtigen Gebrauchs der Vernunft sind allein ein Thema für Philosophen. Denn nur sie haben das methodische Werkzeug, um die Grundlagen wirklicher Erkenntnis zu entschlüsseln. Was immer Denkpsychologen, Kognitionswissenschaftler, Neurologen oder Informatiker zu Erkenntnis zu sagen haben – sie werden niemals in der Lage sein, dieses System apriorischer Verstandesbegriffe und der mit ihnen zusammenhängenden Prozesse zu widerlegen oder zu ergänzen. Der Philosoph behält immer das letzte Wort.

Diese Rettung der Philosophie als Königdisziplin hatte allerdings ihren Preis: Sie trennte das Denken von der Welt. Das war ausdrücklich nicht Kants Absicht. Seine Intention war vielmehr, rationale Wissenschaft und Erkenntnis gegen die Angriffe der Skeptiker zu verteidigen. Doch indem Kant unsere Erkenntnis als Ergebnis von Sinnesreizen darstellte, die mithilfe abstrakter Denkkategorien zu Erscheinungen verarbeitet werden, erklärte er die Welt an sich als mit dem Verstand nicht fassbar. Unsere Wirklichkeit wird zu einem Produkt unseres Denkvermögens. Und das bedeutet: zu einer Konstruktion.

So wird Kant – ungewollt – zum Vordenker des modernen Konstruktivismus. Darunter versteht man Theorien, die davon ausgehen, dass der Mensch informationstechnisch von seiner Außenwelt abgekoppelt ist. Die Vorstellung, die er sich von der Welt macht, ist daher eine reine Konstruktion. Objektive Erkenntnis ist nicht nur nicht möglich, sondern eine sinnlose Vorstellung. Über die Welt an sich lässt sich nichts sagen – so das radikalkonstruktivistische Credo.

Eine Denkfigur, die die Moderne erst zur Moderne macht

Dekonstruktivisten gehen zusammen mit vielen anderen Denkschulen der Moderne davon aus, dass unser Zugang zur Welt über Sprachen und Zeichen vermittelt ist. Mehr noch: Aus dekonstruktivistischer Sicht bildet die Sprache nicht die Realität ab, sondern umgekehrt: Die Sprache erschafft erst unsere Wirklichkeit. Da Dekonstruktivisten zudem davon überzeugt sind, dass unsere Sprache die Machtverhältnisse unserer Gesellschaften widerspiegelt, ist unser Weltbild das Ergebnis gesellschaftlicher Machtverhältnisse.

Das klassische Beispiel für eine durch Machtstrukturen verzerrte Wirklichkeitsauffassung ist aus dekonstruktivistischer Sicht die Vorstellung, es gäbe zwei Geschlechter. Dass es zwei Geschlechter sind, ist daher keine biologische Tatsache, sondern – so die Theorie – das Ergebnis patriarchaler Machtverhältnisse. Also gilt es, die zweigeschlechtliche Sprache durch eine gendergerechte Ausdrucksweise zu ersetzen und so die bisher marginalisierten Geschlechter sichtbar zu machen.

Es wäre Unsinn, Kant direkt für die derzeitigen Genderdebatten verantwortlich zu machen. Allerdings – und das ist das Entscheidende – kommt das moderne Denken mit Kant zu sich selbst. Kant formuliert eine Denkfigur, die die Moderne erst zur Moderne macht und deren wissenschaftliche Vorstellungen ebenso prägt wie ihre ethischen, politischen oder ästhetischen Debatten – oder eben die ideologischen Kämpfe unserer Gegenwart. Die Idee ist dabei immer, einen Denkraum zu beschreiben, der selbst nicht durch die Wahrnehmung geprägt ist, aber seinerseits unsere Vorstellung von der Welt strukturiert. Das können Verstandesbegriffe sein, die Sprache oder auch die angeblich patriarchalen Diskurse einer Kultur.

Man könnte sagen: Kant komponierte die geistige Grundmelodie der Moderne. Jede Weltdeutung steht demnach unter dem Vorbehalt der Subjektivität. Entsprechend sind alle großen Strömungen der Philosophie der Moderne – sieht man mal vom klassischen Marxismus ab – Variationen dieses Leitmotivs: Existenzialismus, Psychoanalyse, Strukturalismus, sprachanalytische Philosophie.

Kant hat die Moderne nicht begründet

Philosophen, Künstler und Intellektuelle verändern nicht die Welt. Das ist mit Büchern oder Kunstwerken nicht möglich, auch wenn einige das immer noch glauben. Im günstigsten Fall jedoch – und Kant ist dafür das beste Beispiel – haben Philosophen, Künstler oder Intellektuelle ein feines Sensorium für die inneren Widersprüche und geistigen Strömungen ihrer Zeit. Ihnen gelingt es dann, das zu formulieren oder darzustellen, was andere nur vage fühlen.

Kant hat die Moderne nicht begründet. Aber er hatte ein sicheres Gespür für die intellektuellen Bedürfnisse des beginnenden bürgerlichen Zeitalters, für sein Streben nach Emanzipation, Autonomie und Subjektivität. Für die Bedeutung von Individualität, persönlicher Weltwahrnehmung und unterschiedlichen Perspektiven. Kants herausragende Bedeutung liegt darin, damit den ideologischen Rahmen geliefert zu haben, den die Moderne benötigte, um wirklich modern zu werden.


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