130. Geburtstag von Antonio Gramsci - Die Macht der Sprache

Der italienische Marxist Antonio Gramsci wäre gestern 130 Jahre alt geworden. Seine Ideen der Kontrolle durch Sprache sind jedoch aktueller denn je. Warum der Kapitalismus den Lauf der Geschichte trotzdem anders bestimmte, als er ihn ersann.

Antonio Gramsci wäre gestern 130 geworden. Seine Ideen der kulturellen Hegemonie sind immer noch aktuell / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Souverän ist, wer über die kulturelle Hegemonie verfügt – könnte man in Abwandlung einer bekannten Sentenz Carl Schmitts sagen. Denn wer die Deutungshoheit innehat, bestimmt maßgeblich, wie Personen, Ereignisse, Statements und Idee von einer Gesellschaft bewertet und eingeordnet werden. Und er hat entscheidenden Einfluss auf den Rahmen der zu einem gegebenen Zeitpunkt in einem öffentlichen Diskurs tolerierten Ideen.

Allerdings ist der Begriff der kulturellen Hegemonie sehr viel älter als die derzeitigen Debatten um Political Correctness oder Cancel Culture, über Verbotskultur oder neuen Autoritarismus. Geprägt hat ihn der italienische Journalist und marxistische Theoretiker Antonio Gramsci – geboren gestern vor 130 Jahren, am 22. Januar 1891 in Ales, einem Dorf im Südwesten Sardiniens. Ohne seine Theorie kultureller Hegemonie missversteht man viele Phänomene unserer Zeit gründlich.

Gramscis Leben

Antonio Gramsci studierte ab 1911 in Turin, 1913 trat er in die Partito Socialista Italiano (PSI) ein und schrieb unter anderem für die Parteizeitung Avanti. 1921 wurde er Mitglied des Zentralkomitees der sich von der PSI abspalteten Partito Comunista Italiano (PCI), drei Jahre später Abgeordneter und zugleich Generalsekretär der PCI. Ungeachtet seiner Immunität wurde er am 03. November 1926 im Zuge politischer Säuberungswellen verhaftet, aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes aber 1934 aus der Haft entlassen. Im April 1937 starb Antonio Gramsci in einem römischen Krankenhaus an einer Hirnblutung.

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Während seiner Haftzeit verfasste Gramsci die später so berühmt gewordenen Gefängnishefte, die Quaderni del carcere, in denen er unter anderem seine Theorie der kulturellen Hegemonie entwickelte.

Bürgertum als Ideologie

Ausgangspunkt seiner Überlegungen war die Entstehung des Ersten Weltkrieges und die Situation Italiens nach Kriegsende. Offensichtlich war die Revolution gescheitert, zu der es nach marxistischer Lehrbuchmeinung hätte kommen müssen. Wie konnte das passieren? Gramscis Antwort: Der Kapitalismus geht nicht an seinen Klassengegensätzen und ökonomischen Widersprüchen zugrunde, vielmehr muss der Revolution der kulturelle und weltanschauliche Boden bereitet werden.

Denn, so Gramsci, die Herrschaft des Bürgertums beruht nicht allein auf Zwang und ökonomischer Ausbeutung, sondern auf einer Ideologie, die sich in allen Institutionen der bürgerlichen Welt – Kulturbetrieb, Medien, Universitäten, Familie – niederschlägt. Gramsci spricht von der „materiellen Organisation“ der ideologischen Struktur. Deren dynamischster Teil seien die Medien. Hinzu käme alles, „was die öffentliche Meinung direkt oder indirekt beeinflusst oder beeinflussen kann (…): die Bibliotheken, die Schulen, die Zirkel und Clubs unterschiedlicher Art, bis hin zur Architektur, zur Anlage der Straßen und zu den Namen derselben“ (Heft 3, § 49).

Die Sprache der Zivilgesellschaft

Vor einer erfolgreichen Revolution gelte es also, die kulturelle Hegemonie zu erlangen. Ein Schlüssel dafür sei die Sprache. Ziel sei es, mittels entsprechender Sprachpolitik einen „Kollektivmenschen“ zu schaffen beziehungsweise das Erreichen „ein und desselben kulturellen ‚Klimas‘“ (Heft 10, § 44). Dies sei die Aufgabe des Intellektuellen.

Zentrales Herrschaftsmittel sei dabei die Zivilgesellschaft (società civile), eben weil sie größtenteils privat organisiert sei und nicht auf Gewalt, sondern auf Konsens und Zustimmung beruhe. Aus ihren Institutionen heraus müsse die herrschende Ideologie entwickelt werden. Diese sei dann keine Ansammlung abstrakter Ideen mehr, sondern gelebte gesellschaftliche Praxis. Ziel sei dabei der integrale Staat, der seine Macht nicht nur auf Zwang, sondern auch auf den durch die kulturelle Hegemonie erarbeiteten Konsens stützt.

Der Kapitalismus bringt alles ganz allein

Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass Demokratien innerhalb einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung genau jene Machtstrukturen selbstorganisierend hervorbringen, die Gramsci als Teil einer revolutionären marxistischen Strategie ersann: Ab einem gewissen Massenwohlstand und Technisierungsniveau erzeugen sie einen akademisierten Mittelstand, der in die Schlüsselstellungen der Meinungsmultiplikatoren strömt und von dort weitere meinungsbildende Strukturen schafft. Diese sehen sich als Repräsentanten der Zivilgesellschaft (sie nennen es sogar so) und dominieren und domestizieren die öffentliche Meinung.

Gramsci hat diese Entwicklung übrigens erahnt und deshalb vor Reformismus und hochtechnisierter Warenproduktion gewarnt. Umsonst. Aufgrund der technischen, institutionellen und kulturellen Globalisierungsprozesse hat das Ringen um die Deutungshoheit inzwischen globale Dimensionen erreicht.

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