Zeitenwende in der Nationalen Sicherheit - Zu kurz gesprungen

Die Bundesrepublik hat jetzt eine Nationale Sicherheitsstrategie. Tatsächlich bleibt diese hinter den Ankündigungen, den Erwartungen und insbesondere den Erfordernissen zurück, die man an ein solches Dokument in der Zeitenwende stellen muss.

Getarnte Spezial-Einsatzkräfte der Luftwaffe stehen auf dem Fliegerhorst Laage / dpa
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Autoreninfo

Oberst a. D. Ralph Thiele ist Vorsitzender der Politisch-Militärischen Gesellschaft in Berlin. Er diente unter anderem im Planungsstab des Verteidi­gungsministers, im Private Office des Nato-Oberbefehlshabers sowie als Direktor an der Führungsakademie der Bundeswehr. Thiele ist Herausgeber des Buches „Hybrid Warfare“ ( 2021 ). Foto: ispsw

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Die Bundesrepublik hat seit Juni eine Nationale Sicherheitsstrategie – zum ersten Mal seit ihrer Gründung. Das klingt bedeutend und sollte es auch sein. Bundeskanzler Olaf Scholz nennt das Dokument eine „große Veränderung“. Das ist wohl die Ambition. Mit der Nationalen Sicherheitsstrategie stellt die Bundesregierung der deutschen Bevölkerung, aber auch internationalen Partnern, Neutralen und sogar denkbaren Gegnern ihre Ziele, Wege und Mittel vor, mit denen sie der Verpflichtung ihres Amtseides nachkommen will: die Menschen in Deutschland vor Gefahren schützen und ihren Wohlstand mehren. Tatsächlich bleibt die Strategie hinter den Ankündigungen, den Erwartungen und insbesondere den Erfordernissen zurück, die man an ein solch grundlegendes Dokument in der Zeitenwende stellen muss.

Risiken, Chancen und Kompromisse

Unsere amerikanischen Freunde und Partner sind sicherlich nicht in allem Vorbild. Sie liegen auch nicht immer richtig. Allerdings, Strategie können sie. In den USA befähigt der seit vielen Jahrzehnten etablierte Prozess der Strategieformulierung die Entscheidungsträger, das politische, sicherheitspolitische und haushaltspolitische Umfeld umfassend zu bewerten. Es werden Optionen für die Organisation und den Einsatz der nationalen Machtinstrumente ermittelt, Risiken, Chancen und Kompromisse abgewogen und der beste Weg zur Erreichung der vorgegebenen strategischen Ziele bestimmt.

In einem inhaltlich umfassend vorbereiteten, auch zeitlich durchgetakteten Strategieformulierungsprozess wird festgelegt,

  • welche Fragen zur Entscheidung gestellt werden,
  • wie Fragen an die Führungsebene herangetragen werden,
  • welche Optionen präsentiert werden,
  • wer an der Entscheidungsfindung zu beteiligen ist und
  • wie die Ergebnisse intern und extern kommuniziert werden.

Bereits kurz nach seiner Amtsübernahme artikulierte Präsident Biden in einer Interim National Security Strategic Guidance vom März 2021, wohin seine Reise geht:

„Die führenden Mächte der Welt liefern sich ein Wettrennen um die Entwicklung und den Einsatz neuer Technologien wie künstliche Intelligenz und Quantencomputer, die das wirtschaftliche und militärische Gleichgewicht zwischen den Staaten ebenso beeinflussen könnten wie die Zukunft von Arbeit, Wohlstand und Ungleichheit innerhalb der Staaten.“

Ein Narrativ dieser geballten Wucht und klaren Orientierung könnte auch Deutschland brauchen. Wir finden es nicht in der Nationalen Sicherheitsstrategie. Hier stellt man sich einer sich verändernden Welt anders als die USA – weniger innovativ, weniger zupackend und mit der traditionellen Tendenz zur sicherheitspolitischen Schwarzfahrerei; frei nach dem Motto „Lass andere die anspruchsvolle Arbeit machen“. Dabei stehen die Deutschen doch vor gleichen oder zumindest ähnlichen Herausforderungen wie die USA, unser Senior-Partner in der Sicherheits- und Klimapolitik und knallharter Wettbewerber auf globalen Märkten.

Kein großer Sprung

„Integrierte Sicherheit – Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig“. Unter dieser Überschrift macht die Nationale Sicherheitsstrategie keinen großen Sprung. Sie dockt am – durchaus validen – Konzept der „Vernetzten Sicherheit“ vorausgegangener Weißbücher und früherer Regierungen an – ein Konzept, das in den Ressorts allerdings nur widerwillig akzeptiert wurde. Den zivilen Ressorts war es zu militärisch, dem militärischen Ressort zu zivil. Keiner übernahm die integrierte Planung und Ausführung. Das soll jetzt mit dem inhaltsnahen Begriffswechsel zur „Integrierten Sicherheit“ besser werden? Den Beweis muss die Regierung noch antreten. Allein der Namenswechsel bewirkt keinen Kulturwandel.

Die 76 Seiten der Nationalen Sicherheitsstrategie sind keine spannende Lektüre. Allerdings liefern sie einen nützlichen Spickzettel der deutschen außen- und sicherheitspolitischen Vorstellungen und Ziele. Man betrachtet das Sicherheitsumfeld aus einem umfassenden gesellschaftlichen Blickwinkel. Um drei Dinge muss es nach Ansicht des Kanzlers immer gehen: „Erstens: Die Stärke unserer demokratischen Institutionen. Zweitens: Die Stärke unserer Wirtschaft. Und drittens: Der Zusammenhalt unserer Gesellschaft.“
 

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Die Strategie konzentriert sich dabei nicht nur auf die aktuelle und unmittelbare Herausforderung durch Russland, sondern adressiert die gesamte Palette unserer Sicherheit – neben Streitkräften auch Diplomatie, Polizei, Feuerwehr und THW, Entwicklungszusammenarbeit, Cybersicherheit und die Resilienz von Lieferketten. Das Klima ist mit über 70 Nennungen die am häufigsten adressierte Herausforderung. Hinzu kommen Pandemien, Welthunger und Armut, hybride Bedrohungen, Terrorismus und natürlich China, auch wenn detaillierte Überlegungen zu diesem entscheidenden geopolitischen Akteur erst zu einem späteren Zeitpunkt ausgearbeitet werden sollen.

Die Strategie unterstreicht, dass uns Deutschen Sicherheit, die Stabilität und der Frieden in Europa sowie die Rolle der Vereinigten Staaten in Europa wichtig sind. Sie erklärt die Bundeswehr zum Kernelement von Abschreckung und Verteidigung. Sie bekennt sich ausdrücklich zum Zwei-Prozent-Ziel der Nato. Vorhersehbar betont sie Deutschlands Engagement für Nato und Europäische Union, die engen Beziehungen mit den USA und Frankreich. Weitere wichtige Akteure in Europa und im indopazifischen Raum gehen tendenziell unter. Generell kneift man vor den Arenen einer neuen Weltordnung, die absehbar nicht in Europa gestaltet wird. Und auch die USA sind dabei lediglich Mitwirkende, nicht mehr – wie zuvor – deren dominierende Gestalter!

Eine Schlüsselkomponente fehlt

Wie soll die „integrierte Sicherheit“ gelingen, wenn sie keiner plant und lenkt? Außenministerin Baerbock fordert: „Wir müssen uns integriert aufstellen – das bedeutet, dass alle relevanten Akteure, Mittel und Instrumente ineinandergreifen.“ Recht hat sie! Aber warum macht sie es nicht? Der Nationalen Sicherheitsstrategie fehlt als Schlüsselkomponente der zwingend erforderliche institutionelle Unterbau – ein Gremium mit Planungs- und Abstimmungsbefugnissen zur Unterstützung der Entscheidungsfindung im Kabinett. Offensichtlich fiel er – obwohl vom Kanzleramt gewünscht – dem Gerangel innerhalb der regierenden Drei-Parteien-Koalition zum Opfer.

Das Außenministerium sorgte sich vor dem Verlust von Einfluss. Machtambitionen und Parteiinteressen standen über der Staatsraison. Nun soll es Wunderglaube richten. Wenn die Minister – oder deren Staatssekretäre – im Sicherheitskabinett „in kritischen Momenten in der Lage sind, zusammenzukommen und vertrauensvoll Entscheidungen zu treffen“, so Baerbock, würden sich integrierte Planung und Entscheidungsfindung quasi von allein erledigen.

So bleibt Deutschland ohne einen nationalen Sicherheitsrat, der bei der Umsetzung der Zeitenwende und der Entwicklung einer robusteren strategischen Kultur für die Zukunft hätte helfen können, nicht zuletzt auch, um die Interessenvielfalt und Entscheidungsfindung von Ministerien und Mehrparteien-Regierungskoalitionen besser zu integrieren.

Taten zählen mehr als Worte

„Wir stärken die Bundeswehr als einen Grundpfeiler der konventionellen Verteidigung in Europa“, heißt es in der Nationalen Sicherheitsstrategie. „Die Bundesregierung wird (...) die Bundeswehr in den kommenden Jahren zu einer der leistungsfähigsten konventionellen Streitkräfte in Europa machen, die schnell und dauerhaft reaktions- und handlungsfähig ist.“ Werden den Worten Taten folgen? Bereits die laufenden Haushaltsverhandlungen wecken Zweifel.

Bereits vor einem Jahrzehnt verpflichtete sich Deutschland gemeinsam mit anderen Nato-Mitgliedern, die Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent des BIP zu erhöhen und hat sich daran beharrlich nicht gehalten. Das Strategiepapier wiederholt das alte Versprechen. Dennoch wird die Bundesregierung in dieser Legislaturperiode das Zwei-Prozent-Ziel nur dank eines Rechentricks erreichen. Die 100 Mrd. Sondervermögen für Neubeschaffungen der Bundeswehr wurde rechnerisch auf die kommenden Haushaltsjahre heruntergebrochen.

Dieses Sondervermögen erscheint vielen politischen Akteuren als ein Paukenschlag, der viele Probleme der Bundeswehr löst. Das täuscht leider. Zum einen wird damit etwa nur ein Viertel des Ausrüstungsdefizits der deutschen Streitkräfte behoben. Zum anderen vergrößern die Beschaffungen das bestehende Problem, dass für den laufenden Betrieb der Bundeswehr zu wenig Geld im regulären Verteidigungshaushalt verfügbar ist. Das war schon vor dem Sondervermögen so.

Mit außerordentlicher Dynamik

Mit den Neubeschaffungen wird das Defizit bei den Betriebskosten noch dramatischer. Zusammen mit den Fremdleistungen an die Ukraine, dürfte sich die rapide Aushöhlung der Bundeswehr fortsetzen – trotz der neuen Dynamik unter Verteidigungsminister Boris Pistorius. Zudem braucht eine nachhaltige Zeitenwende weitaus mehr Reform als bisher in den Blick genommen.

Das Kriegsbild wandelt sich mit außerordentlicher Dynamik – und schreit geradezu nach Innovation! Erst wenn der Verteidigungshaushalt die Zwei-Prozent-Vorgabe erklimmt, kommt die Bundeswehr in einen grünen Bereich, wie er mit der Strategie angekündigt wird. Erst dann werden auch die Nato-Verbündeten glauben können, dass Deutschland in der sicherheitspolitischen Realität angekommen ist.

Bereits im Februar wollte die Regierung die Nationale Sicherheitsstrategie bei der Münchner Sicherheitskonferenz öffentlichkeitswirksam vorstellen. Daraus wurde nichts. Die Auffassungen der Koalitionspartner passten nicht zusammen. Der holprige Prozess der Strategieerarbeitung unterstreicht das Mentalitätsproblem vieler Berliner Entscheidungsträger mit der Zeitenwende. Derart entsteht kein überzeugendes Narrativ, das die Amtsseite und darüber hinaus die deutsche Öffentlichkeit mitnimmt und vermittelt, dass und wie sich die Welt verändert hat und warum und wie sich Deutschland anpassen muss.

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