Wolfgang Thierse bietet Saskia Esken Parteiaustritt an - Die SPD cancelt sich selbst

Der langgediente Sozialdemokrat Wolfgang Thierse legt sich mit der Identitätspolitik an. SPD-Chefin Saskia Esken tadelt ihn dafür. Jetzt fragt Thierse, ob seine Parteimitgliedschaft noch „wünschenswert“ sei. Die Genossen sind offensichtlich unfähig zur Debatte.

Wolfgang Thierse versteht die Welt nicht mehr / dpa
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Marko Northe hat die Onlineredaktion von cicero.de geleitet. Zuvor war er Teamleiter Online im ARD-Hauptstadtstudio und Redakteur bei der "Welt". Studium in Bonn, Genf und Berlin sowie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 

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Den ehemaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse sieht man mittags immer noch oft in der Kantine des Deutschen Bundestags. Nicht in der gehobenen, dem sogenannten „Lampenladen“, sondern in der im Jakob-Kaiser-Haus, die kein besseres Essen bietet als eine Uni-Mensa. Ein echter Sozialdemokrat, Arbeiter unter Arbeitern, der Wert darauf legt, keinen großen Wert auf Äußerlichkeiten zu legen.

Auch ansonsten ist Thierse in sozialdemokratischer Sichtweise völlig unverfänglich. Er ist Schirmherr der Amadeu-Antonio-Stiftung, die sich gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus einsetzt. Er ist Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Sprecher des Arbeitskreises „Christen in der SPD“. Und er hat sogar ein Problem mit Schwaben, die nach Berlin ziehen und sich nicht anpassen. Wolfgang Thierse ist ein Vorzeigesozialdemokrat, unantastbar, möchte man meinen.

Der „hot take“ des Wolfgang Thierse

Bis jetzt. Denn Thierse hat es gewagt, sich in die Debatte um die Identitätspolitik einzumischen. In einem FAZ-Beitrag mit dem fragenden Titel „Wie viel Identität verträgt die Gesellschaft“ schreibt er unter anderem über die Debatte um die Umbenennung der Mohrenstraße in Berlin: „Weil mich der Name beleidigt und verletzt, muss er weg, das ist die fatale Handlungsmaxime.“ Thierse mahnt „breite öffentliche Diskussion“ statt Zerstörung an, wenn es um die Denkmalstürze geht. 

Sein Artikel ist wohl das, was man heutzutage einen „hot take“ nennt: ein Rundumschlag gegen alle neu-linken Ansichten, die sich in den letzten Jahren herausgeschält haben. Thierse, der sich seit Jahrzehnten gegen Rassismus einsetzt, schreibt sogar gegen das Buch „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“ von Alice Hasters an, eine Antirassismus-Bibel der identitätspolitischen Strömung. Die Kritik an der Ideologie der weißen Überlegenheit dürfe nicht „zum Mythos der Erbschuld des weißen Mannes werden“, so der SPDler. 

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Vermeintlich rückwärtsgewandt

Um dem ganzen noch die Krone aufzusetzen, plädiert Thierse für einen positiven Heimat- und Nationenbegriff: „Heimat, Patriotismus, Nationalkultur und Kulturnation, das sind Begriffe und Realitäten, die wir nicht den Rechten überlassen dürfen.“ Zu leugnen, dass das Bedürfnis nach einer Nation als kultureller Beheimatung groß sei, halte er für „elitäre, arrogante Dummheit“. 

Der Beitrag schlug hohe Wellen – kein Wunder, denn Thierse spielte die gesamte Triggerklaviatur der Identitätspolitik. Doch nicht nur die Twitter-Welt beschwerte sich über die vermeintlich rückwärtsgewandten Worte des ehemaligen Bundestagspräsidenten, sondern auch seine eigene Parteispitze. In einer Einladung zu einer parteiinternen Debatte, die die SPD-Vorsitzende Saskia Esken und ihr Vize Kevin Kühnert verschickten, schreiben die beiden entschuldigend und zugleich vorwurfsvoll, die „Aussagen einzelner Vertreter*innen der SPD zur sogenannten Identitätspolitik“ würden „ein rückwärtsgewandtes Bild der SPD“ zeichnen, das „Eure Community, Dritte, aber eben auch uns verstört“. Freilich nannten Esken und Kühnert keine Namen, aber es dürfte klar sein, dass sie sich unter anderem auf Thierse bezogen.

Ein Armutszeugnis

Thierse hat Esken nun seinen Parteiaustritt angeboten. In einem Brief bittet er sie darum, ihm öffentlich mitzuteilen, ob sein „Bleiben in der gemeinsamen Partei weiterhin wünschenswert oder eher schädlich“ sei. Er habe Zweifel, „wenn sich zwei Mitglieder der Parteiführung“ von ihm distanzierten. 

Die ganze Posse kann man wohl nur noch als Armutszeugnis bezeichnen. Sie offenbart eine Unfähigkeit zur Debatte auf allen Seiten. Da ist der altgediente Sozialdemokrat Thierse auf der einen Seite, der die Welt nicht mehr versteht und linken Aktivisten „elitäre, arrogante Dummheit“ vorwirft. Selbst wenn man ihm damit Recht geben mag, Thierse zeigt in seinem Gastbeitrag selbst wenig Bereitschaft, auf die Argumente der Identitätspolitik-Ideologen einzugehen, sondern fordert lediglich eine Rückkehr in die ihm bekannte Welt.

Esken und Kühnert auf der anderen Seite diskutieren gar nicht mehr, sondern diffamieren honorige Parteigenossen, ohne sie überhaupt beim Namen zu nennen, und nur, um sich bei einer vermeintlich aussichtsreichen Wählerschicht beliebt zu machen. Dass Thierse aber dazu nur noch einfällt, seine Parteimitgliedschaft zur Verfügung zu stellen, hat wiederum noch weniger mit Debatte zu tun. Es wirkt lediglich beleidigt. 

Die Sache mit dem Respekt

Vor zwei Tagen erst stellte SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz das Wahlprogramm der Genossen vor, flankiert von einem FAZ-Beitrag über eine „Gesellschaft des Respekts“. Wie wenig das mit dem Respekt schon innerhalb seiner eigenen Partei funktioniert, kann man anhand des Ärgers um Thierse sehen.

Dabei hatten sich das Scholz- und das Esken-Lager eigentlich auf einen Burgfrieden eingeschworen, um die Zeit bis zur Bundestagswahl halbwegs unbeschadet zu überstehen. Doch der hält schon jetzt nicht mehr. Stattdessen cancelt sich die Partei gerade selbst.

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