Wohnungslosigkeit in Berlin - Bei den Obdachlosen vom Stuttgarter Platz

Es wird viel geredet über die Obdachlosen am Stuttgarter Platz in Berlin-Charlottenburg. Die meisten von ihnen kommen aus Osteuropa, so wie der Bulgare Nikolaj. Die Berliner Caritas schätzt die Lage auf den Berliner Straßen düster ein – die Kapazitäten der Obdachlosen- und Armenhilfe reichen für einen neuen Flüchtlingszustrom aus der Ukraine kaum aus.

Obdachlose unter der Brücke am Stuttgarter Platz / dpa
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Nathan Giwerzew ist Journalist in Berlin.

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Wer des Öfteren in der Nähe des S-Bahnhofs Berlin-Charlottenburg unterwegs ist, dem ist die Szenerie unter der Brücke an der Lewishamstraße mittlerweile ein vertrauter Anblick: Auf beiden Seiten der darunter verlaufenden Straße campieren Obdachlose. Sie hausen in Verschlägen aus Pappe, Regenschirmen, Decken und Schlafsäcken. Manche schlafen auf ihren Matratzen, andere sitzen darauf und hoffen auf Spenden. Einige wiederum sind irgendwo in der Stadt unterwegs und lassen ihr Hab und Gut dort unter der Brücke liegen, wohin sie in der Nacht zum Schlafen zurückkehren. Viele sind Alkoholiker oder drogenabhängig. Selbstverständlich ist für die Passanten weder der Anblick noch der Geruch besonders angenehm.

Den Berlinern fällt es auf, dass sich in den letzten Jahren das Stadtbild verändert hat. In eher gehobeneren Gegenden wie etwa am Stuttgarter Platz in Charlottenburg-Wilmersdorf, in denen vor zehn Jahren Obdachlose ein eher seltener Anblick waren, gehören sie mittlerweile zum Viertel dazu. Wie viele im Laufe der letzten zwei Corona-Jahre aus der Wohnungs- in die Obdachlosigkeit abgerutscht sind, ist statistisch noch nicht erfasst. Dazu kam eine weitere Verschärfung in diesem Winter: Die Obdachlosen hatten zusätzlich damit zu kämpfen, dass diejenigen, die nicht die Anforderungen der 3G-Regel erfüllen konnten, vom Zutritt zu einem großen Teil der U-Bahn-Steige ausgeschlossen wurden. So mussten sie den kalten Winter oftmals draußen verbringen. Wie die Berliner Morgenpost meldet, sind trotz aller Bemühungen der Kältehilfe allein schon dieses Jahr 22 Obdachlose in Berlin erfroren. Das sei die höchste Zahl seit zwölf Jahren.

Die Lage am Stuttgarter Platz

Die Gegend südlich der Gleise am Stuttgarter Platz sei „von zunehmender Verwahrlosung bedroht“, so die Grünen-Abgeordnete Petra Vandrey in einer Anfrage an den Berliner Senat. „Insbesondere die Gervinusstrasse zwischen Wilmersdorfer Straße und Lewishamstraße entwickelt sich zu einer Straße, in der man sich nicht gerne aufhält.“ Auf ihre Anfrage veröffentlichte der Senat im Januar dieses Jahres eine Antwort mit Ausführungen zu verschiedenen Fragen, so etwa zum Thema des „Wildpinkelns“ und der Betreuung der Obdachlosen. Von der Reinigung des Straßenabschnitts ist die Rede, es geht außerdem um das gescheiterte Projekt eines „festen Drogenkonsumraumes innerhalb des geplanten Fahrradparkhauses am Stuttgarter Platz“ und um Beratungsprojekte für die Obdachlosen. Wie es aber einigermaßen hilflos in dem Berliner Senatsdokument heißt, könnten „den Betroffenen […] lediglich Angebote unterbreitet werden“ die „auf freiwilliger Annahme basieren“.

Auch in der Berliner Lokalpresse war über die Obdachlosen am Stuttgarter Platz einiges zu lesen: So sei an dieser Stelle zum Beispiel der Artikel „Behörden kapitulieren am Stuttgarter Platz“ in der Berliner Morgenpost vom 19. Januar genannt. Trotz parteienübergreifender Bemühungen, so heißt es in dem Artikel, habe sich die Lage an diesem „Brennpunkt für Obdachlosigkeit und Drogenkonsum“ noch immer nicht verbessert. Weder in der Anfrage der Abgeordneten noch in der Antwort des Senats oder in den dazu erschienenen Zeitungsartikeln war aber von den Obdachlosen selbst die Rede, die dort unter der Brücke hausen. Eher tauchen sie als Fürsorgeobjekte auf, für die nur der richtige Ort zum Drogenkonsum, zur Beratung und zur adäquaten Unterbringung geschaffen werden soll. Das ist ein Teil des Problems.

Nikolajs Abstiegsgeschichte

Um herauszufinden, warum sich trotz der im Senatspapier erwähnten Hilfsangebote am Stuttgarter Platz wenig tut, haben wir uns mit einem der Obdachlosen vor Ort unterhalten. Er heißt Nikolaj, ist 47 Jahre alt und kommt aus Bulgarien. Weil er kein Deutsch spricht, unterhalten wir uns auf Russisch. Auf der Matratze kauernd und in eine Decke eingehüllt, nimmt er einen Schluck aus der Weinflasche und fängt an zu erzählen. Sein Gesicht ist rot und aufgedunsen.

Nikolajs Geschichte ist beispielhaft für die Situation sehr vieler Arbeitsmigranten aus Osteuropa, die auf verschiedenen Wegen auf den Straßen deutscher Großstädte landen. Früher hatte Nikolaj in Bulgarien ein gutes Leben gehabt. Früher: Das heißt vor mehr als 15 Jahren. Bis dahin musste er sich und seine Familie damit versorgen, dass er für wenig Geld in einer Fabrik in Rasgrad gearbeitet hatte.

Kurz nach dem Beitritt Bulgariens zur Europäischen Union entschied er sich dann, zusammen mit einem Geschäftspartner vier Hektar Land zu erwerben, darauf Erdbeeren anzubauen und sie gewinnbringend an Abnehmer zu verkaufen. Weil er wenig Eigenkapital hatte, musste er für den Kauf einen Kredit aufnehmen. Zunächst lief das Geschäft gut, denn die EU hatte damals die bulgarische Landwirtschaft mit hohen Subventionen gefördert. Drei Tonnen Erdbeeren habe er in der Erntesaison am Tag verkauft. Auch Nussbäume habe er auf zweieinhalb Hektar Land gepflanzt. Das Risiko aber war immens: Mit den hohen Investitionen in seinen Betrieb saß er sofort auf einem hohen Schuldenberg. Als dann vor etwa acht Jahren in der bulgarischen Landwirtschaft die Lebensmittelpreise einbrachen, konnte er seine Schulden nicht mehr bezahlen. Es war zum Schluss nicht einmal für die Bewässerung der Erdbeeren genug Geld da, also musste er Insolvenz anmelden. Nach 20 Jahren des Zusammenlebens zerbrach schließlich auch seine Ehe, und er fing an zu trinken.

Nikolajs älterer Sohn ist 25 Jahre alt. Er ist verheiratet und arbeitet heute in einer sehr wichtigen Bank in London, erzählt Nikolaj sichtlich stolz. Stets habe er seinem Sohn eingebläut, wie wichtig Bildung sei. „Er ist groß und klug. Mein Herz tut mir sehr oft weh für ihn. Ich frage mich oft: Was bin ich für ein Idiot? Ich sitze hier auf der Straße und trinke.“ Seine Ex-Frau und ein weiteres Kind hat Nikolaj in Bulgarien zurücklassen müssen, als er auf der Suche nach Arbeit nach Deutschland ging. Der jüngere Sohn gehe jetzt in die zehnte Klasse, erzählt Nikolaj, und er sei ein fleißiger Schüler. Die Hauptsache sei, dass er auf seine Kinder stolz sein könne, sagt Nikolaj und bekreuzigt sich.

„Wenn ich arbeite, dann trinke ich nicht. Wenn ich aber trinke, dann kann ich nicht arbeiten“

Wie er letzten Endes auf der Straße landete, lässt sich aus seiner Erzählung schwer rekonstruieren. Wie viele andere Arbeitsmigranten aus Osteuropa entschied er sich, fürs erste auf der Straße zu schlafen, um nicht für Wohnraum zahlen zu müssen: So hatte seine Familie in Bulgarien mehr von dem erarbeiteten Geld, das er ihr jeden Monat zuschickte. Drei Jahre habe er sich so über Wasser halten können. Als sich dann aber sein Alkoholproblem verschlimmert hatte, hörte er auch auf zu arbeiten.

Ohne Wohnsitz hat er keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Und nicht einmal mehr ein Handy oder gültige Ausweisdokumente besitzt er: In der Gegend ist schließlich Taschendiebstahl und Gewalt unter den Obdachlosen und gegen Obdachlose Alltag. Neue Ausweispapiere könne er aber gegen die passende Gebühr auch problemlos im bulgarischen Konsulat bekommen, behauptet er. Und in Deutschland habe er nichts mehr zu suchen. Schließlich sei Bulgarien seine Heimat: „Bulgarien ist das schönste Land der Welt. Alle verstehen meine Sprache, ich kenne jeden“, sagt er. Sobald er trocken sei, würde er sofort anfangen zu arbeiten, damit er sich seinen Traum von der Rückkehr nach Bulgarien erfüllen kann.

Auf dem Bau könne er zwar ein wenig Schwarzgeld verdienen, dafür müsste er aber nüchtern sein. „Wenn ich arbeite, dann trinke ich nicht. Wenn ich aber trinke, dann kann ich nicht arbeiten“ – so bringt Nikolaj sein Dilemma auf den Punkt. Und nachdem sein Aufenthalt in einer deutschen Entzugsklinik ergebnislos geendet hatte, hat er seinen Widerstand gegen den Alkohol vollends aufgegeben. Heute sei er zu hundert Prozent vom Alkohol abhängig. Als Alkoholiker kann er auch nicht in die Notunterkunft, weil er sich stark alkoholisiert oft daneben benehmen würde. Also hat er keine Wahl, als weiter auf der Straße zu bleiben. Es sei deshalb Schicksal, erklärt er, dass er unter dieser Brücke lebe.

Deutsch spricht Nikolaj kaum, denn wo hätte er es schon lernen können? Die längste Zeit, die er in einem deutschsprachigen Umfeld verbracht habe, sei im Gefängnis gewesen. In Ingolstadt sei er einmal von einem Polizisten im Park aufgeweckt und kontrolliert worden. Diesem habe er vollalkoholisiert die Schulterklappen heruntergerissen, woraufhin er drei Monate in Haft gemusst habe – die 1500 Euro Bußgeld konnte er nicht aufbringen. Noch einmal drei Monate habe er für eine ähnliche Ordnungswidrigkeit in der JVA Berlin-Moabit und in Plötzensee zubringen müssen.

Eine Covid-Schutzimpfung habe er bis heute nicht angeboten bekommen, sagt Nikolaj. Und auf der Straße sei sich sowieso jeder selbst der Nächste. „Alle hier sind Trinker“, sagt Nikolaj über die Obdachlosen unter der Brücke. Auch andere Drogen wie etwa Heroin seien bei einigen im Spiel.

Dabei gibt es für Nikolaj genug Hilfsangebote. Es gibt Passanten, die ihm Kleingeld, Essen, Bier oder warme Kleidung vorbeibringen. Allein während unseres Gesprächs brachte ihm eine Frau Kekse und ein älterer Herr eine wärmende Jacke vorbei – Geschenke, für die er sich freundlich bedankt. Die Caritas lobt er dafür, dass er sich in einer ihrer Einrichtungen waschen könne, kostenlos Medikamente abholen dürfe und auch Kleidung bekomme. Seine Notdurft verrichtet er in der Citytoilette um die Ecke. Und falls er zum Arzt müsse, würden ihm bei der Caritas Sozialarbeiter helfen, die ebenfalls Russisch oder Bulgarisch sprechen. Einmal wurde er am Bein operiert, und er sei auch einmal wegen einer Covid-Infektion im Krankenhaus gewesen. Nach der entsprechenden Behandlung konnte er zum Stuttgarter Platz zurück.

Obdachlose aus Osteuropa stellen in Berlin die relative Mehrheit

Nikolaj ist kein Einzelfall. Wie er erklärt, sind fast alle der Obdachlosen am Stuttgarter Platz Osteuropäer: Sie kommen aus Bulgarien, Polen, Estland, Litauen, Lettland oder Rumänien. Zwei Bulgaren aus Sofia, die ebenfalls unter der Brücke leben, kennt er persönlich. Sie heißen Valerij und Kristof. Im Unterschied zu ihm wolle aber keiner von ihnen nach Bulgarien zurück.
Laut einer Befragung im Januar 2020 stellen nichtdeutsche Obdachlose aus EU-Ländern mit knapp 50% in Berlin die relative Mehrheit. Der Statistik zufolge sind etwa 40% der Obdachlosen in Berlin Deutsche und weitere 10% entfallen auf Obdachlose aus Nicht-EU-Drittstaaten.

Mit der Zeit wächst das Problem immer weiter, ohne dass bisher eine befriedigende Lösung für die Betroffenen gefunden wurde. Dabei müsste ein Weg her, der es den betroffenen Obdachlosen ermöglicht, mithilfe einer fachgerechten Betreuung in Suchtkliniken behandelt und therapeutisch betreut zu werden.

Die Perspektive der Caritas

Um uns genauer zu der aktuellen Lage auf den Berliner Straßen zu informieren, haben wir uns telefonisch bei Kai Gerrit Venske erkundigt. Er ist Fachreferent für Wohnungslosenhilfe, Straffälligenhilfe und Existenzsicherung bei der Caritas. Sein Résumé ist durchwachsen: Er geht davon aus, dass 4000 bis 6000 Menschen in Berlin auf der Straße leben. Zwei Drittel von ihnen seien nichtdeutscher Herkunft. Und es könnten unmöglich 2000 sein, wie bei der letzten Zählung Ende Januar 2020 angegeben wurde. Die sei schließlich nachts und im Winter durchgeführt worden, und angesichts der Kälte ist es für viele Obdachlose naheliegend, Zuflucht in U-Bahn-Stationen, verfallenden Lagerräumen oder baufälligen Gebäuden zu suchen. Die Osterweiterung der EU habe dazu geführt, dass immer mehr Arbeitsmigranten aus Osteuropa ihr Glück in Deutschland gesucht hätten. Und denen, die aus den verschiedensten Gründen auf der Straße gelandet sind, fehlen in der Regel die sozialrechtlichen Ansprüche auf staatliche Hilfe. Zu Hilfsangeboten wie etwa den 24/7-Einrichtungen des Berliner Senats hätten zwar Deutsche und Osteuropäer Zutritt, nicht aber Obdachlose aus Nicht-EU-Drittländern. Zudem gibt es die Angebote der Kältehilfe, der Notübernachtung und kostenlose medizinische Dienstleistungen. Die Angebote für den Drogen- oder Alkoholentzug seien aber noch immer für Obdachlose die Ausnahme. Und sie könnten bei Obdachlosen auch nicht effektiver anschlagen als bei anderen Abhängigen, schließlich sei auch bei „normalen“ Patienten der Rückfall eher die Regel als die Ausnahme.

„Das Leben auf der Straße, mit dem wir in der Obdachlosenhilfe jeden Tag zu tun haben, ist ein Seismograph für den inneren Zustand unserer Gesellschaft“, sagt Venske. Schon jetzt hätten viele Menschen aufgrund der Inflation mit Energieschulden zu kämpfen und seien von Wohnungslosigkeit bedroht. Es gäbe daher einen klaren Aufwärtstrend bei Wohnungsverlust. Und auch wenn der Zustrom aus Osteuropa in den letzten Jahren rückläufig gewesen sei, könne sich die Situation auf der Straße durch den Flüchtlingszustrom aus der Ukraine noch einmal deutlich verschärfen. Schließlich sei man allein schon auf den logistischen Aufwand für die Flüchtlingshilfe nicht vorbereitet gewesen, betont Venske. Viele Mitarbeiter, die in der Obdachlosen- und Armenhilfe schon alle ihre Ressourcen aufbieten, müssten so noch zusätzlich die hier ankommenden Flüchtlinge versorgen. Erst bei der nächsten Zählung im Sommer wisse man überhaupt, wie viele Menschen auf den Straßen leben würden.

Dabei gerät das Problem der steigenden Obdachlosigkeit zunehmend in den Fokus der Politik. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) schlug während der Rede zu seiner Wiederwahl vor, „diesem drängenden Thema gemeinsam mehr Aufmerksamkeit [zu] verschaffen“ und erwähnte dabei die vorbildliche Arbeit des Linkspartei-Kandidaten fürs Bundespräsidentenamt, Gerhard Trabert. Den Mainzer Professor und Obdachlosenarzt hatte Steinmeier daraufhin zu einem Gespräch ins Schloss Bellevue eingeladen. Es ist noch nicht abzusehen, ob dieses Treffen neue parteiübergreifende Schritte einleiten wird, damit Obdachlosen effektiver geholfen werden kann. Für Nikolaj und seine Bekannten vom Stuttgarter Platz wäre es aber zu hoffen.

 

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