Wahlkampf in Berlin - Alles auf grün

In fünf Monaten wählt Berlin eine neue Landesregierung. Ein Wahlsieg der Grünen gilt als so gut wie sicher. Eine Fortsetzung der rot-rot-grünen Koalition würde dies aber noch lange nicht bedeuten. Ausgerechnet die SPD-Kandidatin stellt diese Konstellation in Frage.

Hat immer noch kein Profil, kann sich ihre Koalitionspartner aber aussuchen: Bettina Jarasch / dpa
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Autoreninfo

Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Der Trend ist eindeutig. Laut einer aktuellen Umfrage des rbb und der Berliner Morgenpost kann die in Berlin regierende rot-rot-grüne Koalition auch bei den kommenden Wahlen zum Abgeordnetenhaus mit einer stabilen Mehrheit rechnen. Allerdings mit deutlich verschobenen Kräfteverhältnissen, denn alles spricht dafür, dass mit Bettina Jarasch erstmals eine grüne Politikerin den Chefsessel im Roten Rathaus besetzen wird. Doch ob sie dann tatsächlich die Koalition mit SPD und Linken fortsetzt, ist noch lange nicht ausgemacht.

Bettina wer? Drei Vierteln der Befragten sind die neue Spitzenfrau und ihre politische Arbeit nicht bekannt, ihr Popularitätswert liegt bei rekordverdächtig niedrigen neun Prozent. Bei größeren öffentlichen Auftritten, etwa in der aktuellen Stunde des Abgeordnetenhauses zum gescheiterten Mietendeckel und beim Nominierungsparteitag der Grünen, wirkte die gewiefte Strippenzieherin eher spröde und offenbarte auch seltsame Lücken in Bezug auf Fakten. Doch das scheint in der derzeitigen politischen Großwetterlage unwichtig zu sein: Die Grünen werden angesichts der Kandidatenkapriolen der CDU und der Dauerkrise der SPD als einzige stabile politische Kraft wahrgenommen, der man zutraut, eine neue Regierung in der Hauptstadt ohne großen Theaterdonner zu führen.

Giffey ist populär, ihre Partei nicht

Für ihre Kontrahentin Franziska Giffey dürfte dies besonders schmerzlich sein. Die als Hoffnungsträgerin der SPD ins Rennen geschickte Bundesfamilienministerin, die noch dazu als frühere Bezirksbürgermeisterin von Neukölln über ausgeprägten Berliner „Stallgeruch“ verfügt, liegt zwar bei den persönlichen Popularitätswerten mit 41 Prozent deutlich vor allen anderen Kandidaten.

Doch nach einem kurzen Aufschwung in den Umfragen dümpelt ihre Partei wieder bei 17 Prozent, satte 10 Prozentpunkte hinter den Grünen. Auch der Spitzenkandidat der Linken, Kultursenator Klaus Lederer, hat gute Popularitätswerte, von denen seine Partei aber nicht profitieren kann. Sie kommt derzeit mit leichten Verlusten auf 14 Prozent. Ihre einzige Trumpfkarte, das Volksbegehren für die Enteignung großer Wohnungskonzerne, hat nach dem Scheitern des Mietendeckels zwar merklich an Schwung gewonnen, scheint aber dennoch nicht wirklich zu stechen.

Eine Neuauflage von Rot-Rot-Grün ist kein Automatismus

Bei der Opposition sieht es nicht besser aus. Die CDU wird als zerstrittener Intrigantenstadl wahrgenommen, ihr Berliner Landesverband hatte sich im Kandidatengerangel eindeutig auf die Seite von Markus Söder gestellt. Ihr Spitzenkandidat Kai Wegner wirkt blass und ist – wie Jarasch – in großen Teilen der Bevölkerung nahezu unbekannt. In den Umfragen kommt die Union auf 18 Prozent. Die FDP hat sich stabilisiert und kommt auf 7 Prozent, was sie als Mehrheitsbeschaffer für künftige Stadtregierungen interessant machen könnte. Die AfD spielt bei Koalitionsplanspielen keine Rolle und kann auch nicht von dem wachsenden Unmut über die Corona-Maßnahmen profitieren. Sie stagniert bei 9 Prozent

Doch was bedeuten diese Zahlen? Rot-rot-grün wird zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit rechnerisch wieder eine komfortable Mehrheit erhalten, doch eine Neuauflage der Koalition ist keinesfalls ein Automatismus. Giffey hat von Anfang an keinen Hehl daraus gemacht, dass sie ihre Partei wieder stärker in die bürgerliche Mitte rücken will und dass sie gerade beim Reizthema Wohnungspolitik auf den Schulterschluss mit der privaten Immobilienwirtschaft setzt.

Giffey will mit dem Thema Innere Sicherheit punkten 

Einer radikalen Verkehrswende, die massive Einschränkungen für die private PKW-Nutzung beinhaltet, steht sie ebenso skeptisch gegenüber wie einer absoluten Priorisierung der Klimapolitik. Stattdessen will sie Themen wie innere Sicherheit und migrantische Parallelgesellschaften wieder mehr in den Fokus rücken. Bei CDU und FDP rennt sie damit offene Türen ein, in der eigenen Partei gibt es dagegen erhebliche Widerstände. Und ohnehin hätte ein derartiges Dreierbündnis höchstwahrscheinlich keine Mehrheit.

An den Grünen führt also kein Weg vorbei. Deren Landeswahlprogramm sollte man nicht sonderlich Ernst nehmen, Papier ist bekanntlich geduldig. Und gerade bei der Wohnungspolitik haben die Grünen bereits Kompromissbereitschaft signalisiert, vor allem die Kooperation mit privaten Marktakteuren betreffend, denen auch ausdrücklich eine profitable Teilhabe an der angestrebten flächendeckenden energetischen Sanierung im Wohnungsbestand eingeräumt werden soll.

Selbst bei der Verkehrspolitik dürften die Gräben zwischen der „Fahrradpartei“ Grüne und möglichen bürgerlichen Koalitionspartnern nicht unüberwindlich sein. Denn außer der AfD stellt in Berlin eigentlich niemand ernsthaft in Frage, dass der Ausbau des ÖPNV und der Fahrradinfrastruktur Vorrang vor der privaten PKW-Nutzung haben müsse.

Grüne haben freie Auswahl

Die Grünen werden also freie Auswahl haben, eine äußerst komfortable Position. Außer rot-rot-grün könnten sie auch mit SPD und FDP, CDU und FDP oder CDU und SPD koalieren. Die Linke wird zwar erfahrungsgemäß versuchen, dies mit allen Mitteln bis hin zur weitgehenden Selbstaufgabe zu verhindern, um weiter mitregieren zu können, aber dieses Buhlen könnte durchaus auf taube Ohren stoßen. Zumal das einzig verbliebene, quasi identitätsstiftende „rot-rot-grüne Projekt“, der Mietendeckel, wie eine Seifenblase geplatzt ist.

Sicherlich, Umfragen fünf Monate vor dem Wahltermin sind immer nur Momentaufnahmen. Allerdings spricht nichts für eine fundamentale Trendumkehr. Der eher diffuse „grüne Zeitgeist“ hat längst die Mitte der Gesellschaft erreicht und wird Bettina Jarasch in das Rote Rathaus tragen. Was sie da machen wird und mit wem, ist dagegen vollkommen offen.

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