Verfassungsschutzbericht - Die AfD beschert Haldenwang ein Drittel mehr Rechtsextreme

Der Verfassungsschutzbericht listet nun fast so viele Rechts- wie Linksextremisten auf. Die Botschaft von Verfassungsschutz und Innenminister ist jedoch klar: Die größte Bedrohung kommt von rechts.

Thomas Haldenwang und Horst Seehofer stellen den Verfassungsschutzbericht vor / dpa
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Es gibt nur eine gute Nachricht an diesem Donnerstag: Die Zahl der rechtsextremistischen Gewalttaten ist gesunken, und zwar von 1.088 auf 925. Aber die reine Zahl sagt nichts über die Qualität der Gewalt aus: Denn 2019 war das Jahr, in dem ein Rechtsextremist den CDU-Politiker Walter Lübcke tötete und ein anderer in Halle - glücklicherweise, so zynisch es klingt - nur zwei Menschen erschoss.

Ansonsten gilt im Haus der Bundespressekonferenz, wo Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang, flankiert von Innenminister Horst Seehofer, den Verfassungsschutzbericht für das letzte Jahr vorstellt: Der Extremismus ist auf dem Vormarsch, sowohl in seiner verbalen als auch in seiner gewalttätigen Ausformung. 

Auch Teile der AfD werden dazugezählt

Die Zahl der Rechtsextremisten ist um ein Drittel auf knapp über 32.000 gestiegen, davon gelten 13.000 als gewaltorientiert. Grund für den sprunghaften Anstieg der Rechtsextremen ist, dass in die Gesamtzahl sowohl die komplette Jugendorganisation der AfD, die Junge Alternative, mit ihren 1600 Mitgliedern aufgenommen wurde, sowie 7.000 Mitglieder des „Flügels der AfD. Beide waren im Berichtszeitraum noch Verdachtsfälle, weshalb es zwischen Innenministerium und Verfassungsschutz im November 2019 Diskussionen darüber gab, ob deren Mitglieder so einfach zum Personenpotenzial der Rechtsextremisten hinzugezählt werden könnten. Erst im März 2020 stufte der Verfassungsschutz beide als gesichert rechtsextremistische Bestrebungen ein. 

Dazu mussten BfV-Chef Haldenwang und Innenminister Seehofer heute kritische Fragen beantworten. Wacklig erscheint die Zahl 7.000: Haldenwang beruft sich auf Aussagen von AfD-Parteiführern wie Gauland, die dem Flügel etwa ein Drittel der AfD-Mitglieder zuordnen, sowie auf eigene nachrichtendienstliche Erkenntnisse. Im Bericht selbst heißt es: „Aufgrund der fehlenden formellen Vereins- und Mitgliederstruktur kann nicht konkret beziffert werden, wie viele Anhänger „Der Flügel“ tatsächlich hat.“ Die Zahl 7.000 wird im Bericht als „untere Grenze“ des Personenpotenzials genannt. Auf Nachfrage gibt Haldenwang am Donnerstag an, das sei eine „Schätzung, die der Sache sehr sehr nahe kommt.“  

Die Auflösung des Flügels hat das Problem der AfD vergrößert

Die AfD wird den Verfassungsschutz in diesem Jahr vor noch größere Definitions-Probleme stellen: Denn Ende April erklärte der Flügel seine Selbstauflösung. Wie wird man damit im nächsten Verfassungsschutzbericht umgehen? Haldenwang lässt auf Nachfrage durchklingen, dass sich die Beobachtung der AfD mit der formellen Selbstauflösung des Flügels eher noch erweitert hat. Hier seine Antwort:

„Wir kümmern uns um die Teilorganisationen der AfD, die wir als Verdachtsfall oder erwiesenes Beobachtungsobjekt bezeichnet haben. Diverse Personen, die diesen Teilorganisationen angehörig sind, sind auch Abgeordnete des Bundestags. Insofern schauen wir dort auch hinein. Was die Gesamtpartei und ihre Repräsentanten angeht, so tun wir unsere Arbeit, wie wir immer unsere Arbeit tun. Ich halte diese Arbeit aber auch für ganz besonders notwendig. (...) Es ist die Aufgabe des Verfassungsschutzes, auch politische Parteien in den Blick zu nehmen, wenn von diesen Parteien Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung ausgehen. Diese Situation sehe ich hier zumindest in Teilorganisationen der AfD gegeben. Insofern ist es notwendig, dass wir uns als Verfassungsschutz mit unserem Auftrag darum kümmern.“ 

Das falle in den von Seehofer angesprochenen Zusammenhang: „Wir wollen uns nicht nur die Täter anschauen, sondern auch die geistigen Brandstifter.“ 

Linksextreme: „Gewalt nur gegen Sachen“ ist Vergangenheit

Die Zahl der Linksextremen ist nur geringfügig auf 33.500 gestiegen, davon sind 9.200 gewaltorientiert. Dafür ist die Zahl der Straftaten auf dieser Seite des politischen Spektrums explodiert: Mit fast 6.500 Straftaten stieg die Zahl um 40 Prozent, und dies vor dem Hintergrund, dass es 2019 in Deutschland keinerlei Großereignisse wie etwa einen G7-Gipfel gab. Neu ist im linksextremistischen Spektrum eine „gesteigerte enthemmte Gewalt“, vor allem im „linksextremistischen Hotspot Leipzig“, so Haldenwang.

Der oberste Verfassungsschützer sieht „die Auflösung des früheren Szenekonsenses, Gewalt gegen Personen auszuschließen.“ Viele Angriffe finden zudem nicht mehr im Zuge von Demonstrationen statt, stattdessen gebe es nun ein „planvolles Vorgehen gegen Menschen und Werte abseits von Demonstrationen.“ Als jüngsten Beleg dieser Tendenz mag der brutale Angriff von Linksextremisten auf Vertreter der als rechts geltenden Gewerkschaft „Zentrum Automobil“  in Stuttgart im Mai dienen, bei der ein Gewerkschafter lebensgefährlich verletzt wurde.

Ein „unerträglicher Vorgang“

Einen besonderen Akzent setzte Haldenwang mit seiner Positionierung gegenüber der Wahl der Linken-Politikerin Barbara Borchardt zur Verfassungsrichterin in Mecklenburg-Vorpommern. Borchardt war Mitbegründerin der vom BfV als linksextrem bewerteten „Antikapitalistischen Linken“. Haldenwang sagte am Mittwoch, den Linksextremisten gelinge es „teilweise, die eigenen Vertreter in hohe Staatsämter zu hieven. Die Wahl von Frau Borchardt sei „ein für mich als Verfassungsschützer unerträglicher Vorgang.“

Etwas aus dem Blick geraten ist zuletzt die islamistische Gefahr. Hier sei die Lage jedoch „auf hohem Niveau angespannt“, so Haldenwang. Die Zahl der Gefährder liegt weiter bei 650, die Zahl der Islamisten bei 28.000, etwa fünf Prozent mehr als im Vorjahr. Allerdings befinde sich die Islamistenszene nach der Zerschlagung des Islamischen Staats in einer „Konsolidierungsphase“, wie es im Bericht heißt. Neben den sogenannten „Rückkehrern“ aus dem Islamischen Staat habe man nun auch tadschikische Islamisten besonders im Blick. 

Wenig überzeugend

Gegen Ende der Präsentation bekommt auch noch Russland sein Fett weg: Haldenwang spricht von Versuchen der Einflussnahme „auf hohem und in immer brutaleren Niveau“, und erwähnt sowohl den offenbar von Moskau beauftragen Mord an einem Georgier im Berliner Tiergarten im August 2019 als auch die Tätigkeit der von Russland finanzierten Sender RT und Sputnik. Ein Sputnik-Mitarbeiter beschwert sich prompt in der Fragerunde über den Vorwurf der Desinformation und bittet Haldenwang um ein Beispiel: Dieser beruft sich auf von RT und Sputnik verbreitete überhöhte Teilnehmerzahlen der Hygiene-Demonstrationen. Dies erfülle den Tatbestand der Desinformation. In diesem Punkt klingt Haldenwang eher wenig überzeugend.

Knallhart gibt er sich dagegen in seinen Ankündigungen, was den Kampf gegen die „geistigen Brandstifter“ im Internet angeht: „Kein Terrorist und Extremist darf sich mehr sicher fühlen, auch und gerade nicht im Internet.“ Dort werde sein Amt „die Zahl der virtuellen Agenten deutlich ausbauen.“

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