Verfassungsschutz-Chef Thomas Haldenwang wehrt sich gegen Kritik - Ein intellektueller Trümmerhaufen

Die Deutungshoheit des Verfassungsschutzes bröckelt. Erst jüngst holte dessen Chef Thomas Haldenwang zu einer öffentlichen Selbstverteidigung aus. Und er bestätigte darin all das, was seine Kritiker ihm mit Recht vorwerfen: die Beschädigung der Meinungsfreiheit.

Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang / dpa
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Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Es ist wohl ein einmaliger Vorgang, wenn der Präsident des deutschen Inlandsgeheimdienstes glaubt, öffentlich zu seiner Selbstverteidigung ausholen zu müssen. Aber genau das hat Thomas Haldenwang jüngst in der FAZ getan. In einem Gastbeitrag wehrte er sich gegen den Vorwurf, er strebe zu sehr in die Öffentlichkeit und trage so selbst zur Einschränkung der Meinungsfreiheit bei. Einen derartigen Vorgang wird man weder beim Chef des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) noch des Bundesnachrichtendienstes (BND) finden können. Aber auch bei keinem anderen Inlandsgeheimdienst westlicher Demokratien. Und das aus gutem Grund.

Volkspädagoge der Nation

Eigentlich müsste ein Geheimdienst diskret und geheim Gefährdungen der demokratischen Staatsordnung aufspüren und die Verantwortlichen rechtzeitig mit sachhaltigen Informationen versorgen. Thomas Haldenwang hingegen scheint es stattdessen als seine Hauptaufgabe zu betrachten, als Volkspädagoge der Nation in Erscheinung zu treten, um den Souverän in die von ihm definierten Schranken zu verweisen.

Dabei dokumentiert sein Selbstbild eine ziemliche Verkennung der Realitäten. Wer bisher dachte, die Meinungsfreiheit werde in Deutschland vor allem von Gerichten, einer freien Presse und in den Universitäten verteidigt, muss sich durch Haldenwang nun eines Besseren belehren lassen. Er behauptet nämlich, die Meinungsfreiheit werde in Deutschland „gerade auch vom Verfassungsschutz geschützt“.

Mangelndes Problembewusstsein

Das einzig wirksame Instrument, das er hierfür zur Verfügung hat, ist aber die denunzierende Öffentlichkeitsarbeit. Es ist sein gesetzlicher Auftrag, regelmäßig über aus seiner Sicht verfassungsfeindliche Bestrebungen zu informieren. Was Haldenwang als Verteidigung der Meinungsfreiheit adelt, ist in Wahrheit das Zuteilen von Stigmata. Die öffentlichen Äußerungen des Verfassungsschutzes greifen damit unzweifelhaft selbst in die Meinungsfreiheit ein, die der Verfassungsschutzchef gerade dadurch zu schützen beansprucht. In dieser dialektischen Konstellation lauern für eine Demokratie zahlreiche Fallstricke. Für sie scheint ihr Präsident nicht einmal ein Bewusstsein zu haben.

Die Behörde wird aber nicht erst dann in der Öffentlichkeit aktiv, wenn sie verfassungsfeindliche Bestrebungen im konkreten Fall für erwiesen hält. Das tut sie bereits im Falle eines aus ihrer Sicht begründeten „Verdachts“. Unter Haldenwang ist das Amt sogar noch einen Schritt weiter gegangen und hat selbst über bloße „Prüffälle“ öffentlich berichtet. In diesen Fällen lag also nicht einmal ein begründeter Verdacht vor. Es brauchte seinerzeit ein Gericht, um das rechtswidrige Agieren der Behörde zu stoppen. Für ein rechtsstaatliches Problembewusstsein beim derzeitigen Behördenchef spricht all das nicht gerade. Quod erat demonstrandum.

Einfach grober Unfug

Schon Haldenwangs Sprache ist verräterisch. Er lobt an der deutschen Demokratie, dass „selbst anstößige, absurde und radikale Meinungen“ geäußert werden dürften. Allerdings haben „radikale“ Meinungen nichts von Absurdität und Anstößigkeit. Sie gehören schlicht nicht in diese Reihe. In einer aktuellen Vorstellungsbroschüre des Verfassungsschutzes heißt es vielmehr: „Radikale politische Auffassungen haben in unserer pluralistischen Gesellschaftsordnung ihren legitimen Platz.“

„Radikale“ Programme sind demnach bloß solche, die unsere Gesellschaft zwar weitreichend umgestalten sollen, dabei aber weder die Menschenwürde noch das Rechtsstaats- oder das Demokratieprinzip in Frage stellen. Sie sind – verfassungsschutzrechtlich – also schlicht nicht der Rede wert. Warum spricht der Behördenchef dann trotzdem ständig über sie? Weil bei der Behörde regelmäßig Wort und Tat auseinander fallen. Und ihre wichtigsten Taten sind eben die Worte.

Obwohl der Verfassungsschutz radikale politische Auffassungen ausdrücklich für „legitim“ erklärt, rückt er sie dennoch – und zwar in derselben Broschüre – in den Bereich der Verfassungsfeindlichkeit. Der Radikalismus leide nämlich, so heißt es dort, unter „mangelnder Verfassungstreue“ und der politische Extremismus unter „mangelnder Rechtstreue“. Ersteres führt zu einem eklatanten Selbstwiderspruch. Was legitim ist, kann nicht auf Kriegsfuß mit der Verfassung stehen. Zweiteres ist einfach grober Unfug.

Extremismus ist als verfassungsfeindliche Bestrebung noch weit vor jeder rechtswidrigen Handlung definiert. Das ist aus Sicht der deutschen Verfassungsschützer ja gerade der Clou der weltweit einmaligen deutschen Behörde! „Mangelnde Rechtstreue“ kann somit gerade kein Kriterium für politischen Extremismus sein. Selbst in der Broschüre der Behörde heißt er hierzu klar und deutlich: „Der Staat behält sich vor, nicht erst dann zu reagieren, wenn Extremisten konkret gegen gesetzliche Bestimmungen verstoßen, sondern bereits im Vorfeld der eigentlichen Strafbarkeit.“ Aber dann haben „mangelnde Rechtstreue“ und politischer Extremismus schlicht nichts miteinander zu tun.

Eine sprachlos machende Behörde

Ich habe mich im Sommer 2023 für die Recherche zu meinem Buch „Gesinnungspolizei im Rechtsstaat?“ wegen dieser Widersprüche beim Bundesamt für Verfassungsschutz nach einer präzisen Definition von „Radikalismus“ erkundigt. Darauf kommt am Ende alles an. Wird der politisch legitime radikale Rand nicht messerscharf vom illegitimen politischen Extremismus unterschieden, werden unweigerlich unbescholtene Bürger und Meinungen rechtswidrig in Verruf gebracht. Die Grenze des folgenlos Sag- und Denkbaren wird so illegitimerweise verschoben – und zwar durch den Staat selbst. Genau das ist es, was immer mehr Pressevertreter, Politiker und Rechtswissenschaftler Haldenwang mit Recht vorwerfen.

Die Antwort des Amtes kann nur sprachlos machen: „Der Begriff Radikalismus ist kein klar definierter ,Arbeitsbegriff‘ der Verfassungsschutzbehörden, da dieser Bereich der politisch-gesellschaftlichen Aktivität nicht in den Aufgabenbereich der Verfassungsschutzbehörden fällt. Er dient lediglich zur Abgrenzung zum Bereich des Extremismus. Eine fachliche Definition durch das BfV kann daher nicht erfolgen und ist auch nicht erforderlich.“ Der Verfassungsschutz behauptete damit, dass die von ihm selbst gegebene Definition im Grunde gar nicht existiert und man sie auch nicht benötigt – aber natürlich dennoch mit ihr verfassungsschutzrechtlich operiert.

Rund 75 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes ist ein derartiger intellektueller Trümmerhaufen im Kern des Schutzes der Verfassung nicht nur ärgerlich, sondern letztlich ein Skandal. Auf diese Schwammigkeit und Widersprüchlichkeit der Begriffe stützt sich die Behörde, wenn sie die Zahl ihrer Beobachtungsobjekte immer mehr ausweitet. Das eine geht nicht ohne das andere. Begriffliche Schlampigkeit ist im Verfassungsschutzrecht kein intellektuelles Glasperlenspiel, sondern der erste Schritt hin zum staatlich verantworteten Rechtsbruch.

Seit dem Sommer 2023 stand die Behörde somit vor folgender Alternative: Sie hätte ihre Vorstellungsbroschüre korrigieren können, damit aber eingestehen müssen, auch mehr als 70 Jahre nach ihrer Gründung über keine saubere begriffliche Grundlage zu verfügen. Oder sie hätte die Hinweise auf entsprechende Widersprüche in ihren eigenen Veröffentlichungen einfach ignorieren können, wäre damit aber zu einer regelrechten Desinformationsbehörde geworden. Der Verfassungsschutz hat sich für die zweite Option entschieden. Ihre Vorstellungsbroschüre, mit der sie interessierten Bürgern eigentlich den Kern des Verfassungsschutzes erklären will, beinhaltet bis heute den oben ausgeführten kolossalen Unfug.

Alarmismus aus Eigeninteresse

Im Grunde bleibt Thomas Haldenwang in bedrängter Lage nur noch ein einziges Argument, um seine international einmalige Stellung als politischer Sittenwächter der Nation zu verteidigen: „In der Nachkriegsgeschichte war die Demokratie in unserem Land selten so in Gefahr wie heute“, behauptet er. Das allerdings wird von interessierten Kreisen bereits seit Jahrzehnten vorgetragen und dürfte sich weniger auf Tatsachen als auf eigene Absichten stützen.

Je geringer die Gefahr, desto kleiner auch die eigene Bedeutsamkeit. Und desto schlechter die Aussichten der Behörde, bei Haushaltsverhandlungen noch mehr Stellen herauszuverhandeln und noch mehr gesetzlich gesicherte Kompetenzen zur Einschränkung von Grundrechten. Allein in den vergangenen 20 Jahren hat sich die Zahl der Mitarbeiter beim Bundesamt für Verfassungsschutz mehr als verdoppelt. Nur, wenn man die Alarmstimmung aufrecht erhalten kann, lässt sich weiter Geld für diesen Zweck einsammeln und der Apparat weiter ausbauen.

Haldenwangs Beleg für die aktuelle Bedrohung der Demokratie: Die Zahl der Extremisten nehme stetig zu. Er vergaß allerdings zu erwähnen, dass er sich damit auf die Statistik seiner eigenen Behörde stützt. Und dass eben diese Behörde die Maßstäbe für politischen Extremismus in den zurückliegenden Jahren Stück um Stück aufgeweicht und dadurch deren messbare Zahl durch einen deus ex machina selbst vermehrt hat.

Frisierter Bericht

So soll allein von 2021 bis 2022 die Zahl der Rechtsextremisten von 34.000 auf 39.000 Personen gestiegen sein. Erreicht hat das Haldenwangs Behörde allerdings bloß dadurch, dass für den Bericht 2022 von heute auf morgen ein Drittel der AfD-Mitglieder pauschal und ohne detaillierte Erkenntnisse dem Phänomenbereich Rechtsextremismus zugeschlagen wurde. Es handelt sich um eine bloße Schätzung. Andernfalls hätte die Statistik eine deutlich rückläufige Bedrohung von rechts ausgewiesen.

Der Befund allerdings, Deutschlands Demokratie sei akut bedroht, dürfte international mit Kopfschütteln zur Kenntnis genommen werden. Durch wissenschaftliche Befunde lässt er sich nicht erhärten. Erst kürzlich bestätigte das V-Dem-Institut der Universität Göteborg der Bundesrepublik, mit Platz elf von 179 eine der erfolgreichsten Demokratien der Welt zu sein. Im Vergleich zum Jahr 2019 hat sich Deutschland damit sogar deutlich von Platz 20 um neun Plätze nach vorne geschoben. Die Analysen des V-Dem-Projekts gelten in der Politikwissenschaft als demokratietheoretischer Goldstandard. In seine Arbeit sind weltweit mehr als 8.000 Wissenschaftler eingebunden. Aber diese Befunde passen nicht zur Interessenlage des Verfassungsschutzes.

Wie der Verfassungsschutz die Verfassungswirklichkeit gefährdet

Dabei könnte es lohnend sein, tatsächlich intensiver über eine Bedrohung der Demokratie nachzudenken – die allerdings vom Verfassungsschutz selbst ausgeht. Zumindest für den Osten der Republik ist die Annahme nicht ganz abwegig, dass die Arbeit Haldenwangs der AfD sogar zusätzliche Wähler zutreibt.

Der dahinter liegende Mechanismus ist nicht allzu schwer zu verstehen: Die Ossis haben sich ihre politische Freiheit einst gegen einen bevormundenden Staat selbst erkämpft. Und das haben sie mutmaßlich nicht getan, um dann statt von Erich Mielke von Thomas Haldenwang gesagt zu bekommen, was sie denken und sagen dürfen.

Die Erfindung des Phänomenbereichs „Delegitimierung des Staates“, auf die der Behördenchef ganz besonders stolz zu sein scheint, dürfte der real existierenden Demokratie daher am Ende einen Bärendienst erweisen. Auch er wird hinter vorgehaltener Hand nicht nur von Verfassungsschützern wegen seiner Beliebigkeit kritisiert, sondern auch von immer mehr Staatsrechtlern. Es sei gerade die aus unklarer Begriffsdefinition folgende „Ungewissheit, die bei potentiell Betroffenen wie Nichtbetroffenen zu Einschüchterung und Grundrechtsverzicht führen" könne. Oder anders gesagt: Wenn man nicht genau weiß, was zu sagen erlaubt ist, hält man lieber den Mund. Dies wäre dann aber seinerseits geeignet, „die freiheitliche und pluralistische Demokratie zu delegitimieren“ (Christoph Gusy).  

Ausgerechnet der Verfassungsschutz würde sich dann als Delegitimierer der Verfassungsordnung betätigen. Über diese dialektische Volte nachzudenken, könnte sich auch für Thomas Haldenwang lohnen.

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