Geplanter Staatsstreich? - Lauterbach-Entführer vor Gericht

Heute begann der Prozess gegen eine fünfköpfige vermeintliche Terrorgruppe, die einen Staatsstreich und die Entführung Karl Lauterbachs geplant haben soll. Letzterer instrumentalisiert dies bereits, um seine Pandemie-Politik im Nachhinein zu rechtfertigen.

Ein Fahrzeug der Justiz steht vor Prozessbeginn gegen Mitglieder der Gruppierung „Vereinte Patrioten“ vor dem Oberlandesgericht / dpa
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Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Ohne Frage: Karl Lauterbach (SPD) ist das Opfer. Sollte sich nämlich tatsächlich als wahr erweisen, was der Generalbundesanwalt erstmals am 11. Januar 2023 gegen Sven B., Michael H., Thomas K., Thomas O. und Elisabeth R. vorgebracht hat und was heute erstmals vor dem 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz zur Verhandlung gekommen ist, dann hat der Gesundheitsökonom aus dem Wahlkreis Leverkusen – Köln IV zumindest für kurze Zeit im Visier von Entführern und potentiellen Terroristen gestanden. Laut der heute verlesenen Anklage nämlich sollen die fünf Beschuldigten im Alter von 44 bis 75 Jahren, die sich zu der angeblich terroristischen Gruppe „Vereinte Patrioten“ zusammengeschlossen hatten, einen Umsturz samt Entführung von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach geplant haben.

Es soll laut Anklage ein dreistufiges Vorhaben gewesen sein: In Phase eins, von der Gruppe selbst angeblich „Silent Night“ genannt, sollte demnach zunächst ein mindestens zweiwöchiger Stromausfall via Sprengstoffanschlag herbeigeführt werden, in Phase zwei, „Klabautermann“, der Gesundheitsminister mit Gewalt aus einem Fernsehstudio entführt und in der darauf folgenden letzten Phase mit dem Titel „False Flag“ die Regierung abgesetzt werden. Laut Staatsanwaltschaft soll die Operation in zwei unterschiedlichen Bereichen geplant gewesen sein: Sven B., Thomas K. und Thomas O. sollen demnach dem operativen „militärischen Zweig“ angehört haben, Michael H. und Elisabeth R. – letztere eine 75-jährige hagere Rentnerin, die die Gruppe angeblich mit reichsbürgerlichem Gedankengut vertraut gemacht und die stets auf eine rasche Umsetzung des Plans gedrängt haben soll – sollen dem „administrativen Zweig“ angehört haben.

Gegen die „Zumutungen des Staates“

Das klingt in der Tat wie absurdes Theater. Doch im Jahr 2023 ist kein Stück mehr zu abgedreht und kein Stoff zu verrückt, als dass er nicht tatsächlich auf den harten Brettern des realen Lebens angesiedelt sein könnte. Laut Bundesanwalt Nikolaus Forschner jedenfalls soll am Ende nichts Geringeres als „die Beseitigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ im Zentrum der geplanten Straftat gestanden haben. So zumindest hat Forschner es am heutigen ersten Sitzungstag bei der Verlesung der Anklage formuliert.

 

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Und in der Tat: Einer der Angeklagten, der 55-jährige Sven B. aus dem brandenburgischen Neuruppin, soll nach Angaben seines Anwalts Teile der gegen ihn erhobenen Vorwürfe bereits eingeräumt haben. Er habe sich gegen die „Zumutungen des Staates in der Corona-Pandemie“ zur Wehr setzen wollen, zitiert die Tageszeitung taz heute den Anwalt des Beschuldigten. Belegt indes ist damit wenig. Denn an den kommenden 43 Verhandlungstagen dürfte vor allem auch zu klären sein, inwieweit ein verdeckter Ermittler, der bereits über Monate im Umfeld der Beschuldigten eingesetzt gewesen sein und den Angeklagten den Kauf von Schusswaffen angeboten haben soll, aktiv in das Geschehen mit eingegriffen hat. Das zumindest behauptet der Anwalt eines der Angeklagten. Mit dem Angebot des verdeckten LKA-Ermittlers „Mark“ seien die Straftaten erst provoziert worden und die daraus erlangten Beweise nicht verwertbar, so der Anwalt.

Urteil erst 2024 erwartet

Wie aus einer Telegram-Chatgruppe, die sich erstmals ab September 2021 zusammengefunden haben soll, am Ende die vermeintliche Terrorgruppe „Vereinte Patrioten“ – zwischenzeitlich auch umbenannt in „Tag X Deutschland“ oder „Aktive Patrioten/Veteranen“ – unter der geistigen Führerschaft einer 75-jährigen ehemaligen Theologin und Lehrerin werden konnte, das werden die nächsten Monate zeigen. Auch die eigentliche Motivation, die von Berichterstattern immer wieder in der Reichsbürger-Ideologie, wahlweise aber auch in der Verschwörer- oder Querdenker-Gesinnung angesiedelt wird, wird dabei zu klären sein.

Zu einem abschließenden Urteil wird es in dem heute begonnen Prozess daher wohl erst im Jahr 2024 kommen. Genug Zeit also, um das Scheinwerferlicht vor dem Koblenzer Oberlandesgericht für die je eigene Performance und die liebgewonnene persönliche Erzählung zu nutzen. Der Angeklagte Sven B. etwa, der in dem gescheiterten Umsturzplan dafür zuständig gewesen sein soll, den Bundesgesundheitsminister aus einem Fernsehstudio zu entführen, soll heute im Gerichtssaal zu Protokoll gegeben haben, dass er Journalisten gerne für Interviews zur Verfügung stehe. Und Karl Lauterbach, das anvisierte und zum Glück verschonte Opfer des mutmaßlich geplanten Staatsstreichs, nutzte die Interviewanfragen zum Prozessauftakt, um seine Pandemie-Politik im Nachhinein noch einmal zu einer Frage von Leben und Tod aufzubauschen: In einem Interview mit der Online-Ausgabe der Wochenzeitung Die Zeit etwa nannte er jüngst Staatsgefährder und Kritiker seiner Politik in nahezu einem Atemzug.

Doch so wenig alle Männer Sokrates sind, nur weil Sokrates umgekehrt vermutlich ein Mann war, so wenig stehen alle Kritiker des aktuellen Bundesgesundheitsministers oder der zurückliegenden Corona-Politik bereits mit dem ersten oder gar dem zweiten Bein jenseits der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Ganz klar: Karl Lauterbach ist in diesem Fall ein Opfer. Der Schaden, der ihm durch erhöhten Personenschutz oder gesteigerte Angstgefühle entstanden sein dürfte, ist zumindest im persönlichen Bereich immens. Es sollte aber dennoch politischer wie journalistischer Konsens sein, mutmaßliche Kriminelle nicht vor den eigenen Karren zu spannen. Gerade in Zeiten der Gefährdung sollte in der Mitte der Gesellschaft eines klar sein: Mit vermeintlichen Irren ist kein Staat zu machen – aktiv eh nicht, und passiv schon gar nicht.  

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