Beschluss zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht - Bundesverfassungsgericht: Postfaktischer Wegbereiter des paternalistischen Staates

Mit der Entscheidung, dass die einrichtungsbezogene Impfpflicht rechtens sei, hat das Bundesverfassungsgericht ein weiteres Mal gezeigt, dass die Bürger von ihm keinen Schutz vor einem übergriffigen Staat erwarten dürfen. Der Erste Senat hat sämtliche Argumente, die gegen eine solche Impfpflicht sprechen - fehlender Fremdschutz, Impfnebenwirkungen, niedrige Infektionszahlen - konsequent ignoriert. Betroffene sollten erwägen, das Bundesverfassungsgericht nicht mehr in Sachen Corona anzurufen.

Hauptsache geschützt: Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts / dpa
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Autoreninfo

Jessica Hamed ist Fachanwältin für Strafrecht und Dozentin an der Hochschule Mainz. Seit März 2020 vertritt sie bundesweit in verwaltungs- und strafrechtlichen „Coronaverfahren“ und veröffentlicht eine Vielzahl ihrer Schriftsätze.

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Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht ist eigentlich rasch kommentiert: Zugespitzt würde ein Zitat des seit Wochen viel gefragten ehemaligen Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Immunologie Andreas Radbruch vom 3. April 2022 genügen, um die ins Auge springende Unrichtigkeit des Karlsruher Beschlusses aufzuzeigen: „Wichtig vielleicht noch einmal zu betonen: Auf die Wissenschaft kann sich eine Entscheidung zu irgendeiner Impfpflicht nicht berufen!“  

Kein relevanter Fremdschutz 

Die Covid-Impfungen vermitteln keinen relevanten Fremdschutz, weshalb eine partielle Impfpflicht zum Schutze vulnerabler Menschen bereits Zweifel an der Geeignetheit und an der Erforderlichkeit hervorruft. Warum sollten „fehleranfällige“ (Rn. 193 des Beschlusses) Corona-Tests schlechter sein als mangels sterilisierender Immunität ebenfalls „fehleranfällige“ Impfungen? Jedenfalls aber wird hierdurch die Angemessenheit des tiefgreifendsten Grundrechtseingriffs in der Coronapolitik offensichtlich in Frage gestellt.

In der Gesellschaft und offenbar auch beim höchsten Gericht Deutschlands hält sich jedoch der Aberglaube an einen Fremdschutz derart hartnäckig, dass so manche religiöse Institution – letztlich die PR-Profis schlechthin für die Verbreitung evidenzfreier Narrative – vor Neid erblassen müsste. Weder Bildung noch Intellekt helfen bei tief verinnerlichten Glaubenssätzen. Gleichwohl, in aller Deutlichkeit mit den Worten des renommierten Virologen Hendrik Streeck:   

„Jeder erlebt doch, dass sich Geimpfte und Geboosterte infizieren können und dass es keinen Fremdschutz durch die Impfung gibt. Hier fehlt mir die kluge Kommunikation. Auch zuletzt im Bundestag haben Abgeordnete immer noch von einem Fremdschutz als Argument für die Impfpflicht gesprochen – und zwar nicht von einem indirekten Fremdschutz, dass die Intensivstationen freibleiben, sondern einem direkten Fremdschutz, dass jemand, der geimpft ist, den anderen nicht infizieren kann. Aber das ist schlichtweg falsch.“ 

Vom Abwehrrecht zur Schutzpflicht 

Den vom Bundesverfassungsgericht wortreich und substanzlos insinuierten Fremdschutz, der durch die Ausbreitung der Omikron-Variante „nicht erschüttert“ worden sei (Rn. 184), ist nicht nur als verdrehte Schlussfolgerung aus den – zum Teil sehr unterkomplexen – Stellungnahmen der sachverständigen Dritten (keiner behauptete dort, es gebe einen relevanten Fremdschutz) anzusehen. Sondern der Beschluss stellt im Ergebnis auch einen Paradigmenwechsel dar, der es dem Staat auch in künftigen Krisen ermöglicht, via Einschätzungsspielraum jede Maßnahme, deren Eignung nicht zweifelsfrei widerlegt ist, zu ergreifen – etwa im Umgang mit dem Klimawandel.  

Damit werden sukzessive die Grundrechte, die primär als Abwehrrechte der Bürger gegen den Staat konzipiert waren, nicht nur zu weitreichenden Schutzrechten, sondern sogar zu angeblichen Schutzpflichten umgebaut. Denn der erste Senat, der sich seit Monaten „lauterbachesk im pandemischen Panikmodus“ eingerichtet hat, hat sich sogar andeutungsweise dazu verstiegen, die einrichtungsbezogene Impfpflicht als Handlungspflicht des Staates anzusehen (Rn. 217). Mit dieser anti-freiheitlichen Deutung der Grundrechte liegt es nahe, dass der Senat auch eine allgemeine Impfpflicht unter der Prämisse der Teilhaberechte vulnerabler Menschen am öffentlichen Leben absegnen würde, wohingegen er den Ausschluss ungeimpfter Personen vom soziokulturellen Existenzminimum durch das 2G-Modell bislang nicht beanstandet hat.

Das Gericht verkennt dabei, dass Covid-19 aufgrund des freien Zugangs zu Behandlungsmöglichkeiten, Schutzausrüstung und Impfungen für die gesamte Gesellschaft schon lange zum allgemeinen Lebensrisiko geworden ist. Überträgt man die Linie des Senats auf andere Gefahrenlagen, wären auch eine Grippeimpfpflicht, lebenslanges Maskentragen gegen sämtliche respiratorische Erreger usw. „begründbar“. 

Seuchenpolitischer Imperativ

Rote Linien kennt der Senat bei Corona so gut wie keine. Er hat sich vollständig dem seuchenpolitischen Imperativ unterworfen, wie die Richter spätestens erkennen ließen, als sie im Dezember 2021 die strengsten Corona-Maßnahmen Deutschlands für das Abhalten einer mündlichen Verhandlung erlassen haben.

Die Verhandlung fand unter „2Gplusplus“ statt und wurde nicht nur von der Autorin dieser Zeilen, die vor diesem Hintergrund namens ihrer Mandantin (erfolglos) alle Senatsmitglieder wegen Befangenheit in Sachen Corona ablehnte, scharf kritisiert. Auch heute gilt auf den Fluren des Bundesverfassungsgerichts – auf Anordnung des wegen seiner hochpolitischen Vergangenheit umstrittenen Präsidenten Stephan Harbarth – noch 3G und Maskenpflicht. Damit war der Irrglaube des Präsidenten an die angeblich gerechtfertigte Privilegierung gegen Covid-19 geimpfter Menschen nach außen eindrücklich dokumentiert. 
 

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Indem der Senat in seinem Beschluss übrigens auch (PCR)-Tests aufgrund ihrer „Fehleranfälligkeit“ als weniger geeignet zur Pandemiebekämpfung als eine Impfung abtat (Rn. 193 f.), signalisierte er der Politik zudem en passant, dass 2G in Ordnung und 3G unsicher sei. Mit gutem Willen kann man eine rote Linie bei einem – aktuell nicht bestehendem – Impfzwang erkennen (Rn. 209, 221). Erneut betonte das Gericht, dass die Betroffenen sich nicht impfen lassen müssten, sondern auch (vorübergehend) ihre Tätigkeit wechseln könnten. Dass damit die wirtschaftliche und soziale Existenz in Gefahr ist, thematisiert das Gericht nicht, obgleich es grundsätzlich anerkennt, dass es sich hierbei um eine gravierende Folge handelt.  

Im Zweifel für den Staat 

Dass die Richter mit zweierlei Maß messen und zugespitzt das Ergebnis stets lautet: „Im Zweifel für den Staat“, ist ein weiterer Makel der Entscheidung. Das zeigte sich auch an anderer Stelle: So gingen Unsicherheiten in Bezug auf den Genesenenstatus zu Lasten der Betroffenen (Rn. 201), obwohl auch hier wissenschaftlich allgemein anerkannt ist, dass Genesene und Geimpfte gleichgesetzt werden müssten, wie etwa in der wenig beachteten Anhörung des Gesundheitsausschusses des Bundestags am 6. April 2022 deutlich zum Ausdruck kam. 

Besonders haarsträubend fällt auch die Bewertung des Senats im Hinblick auf die Gefahr schwerwiegender Nebenwirkungen durch die Covid-Impfungen aus. Obwohl gesellschaftlich und fachlich schon längst kontrovers über das Ausmaß der – naturgemäßen – Untererfassung von schwerwiegenden Nebenwirkungen diskutiert wird, kommt das Gericht ganz ungeniert zu einer angeblichen Überschätzung des Risikos, basierend auf den Daten des Paul-Ehrlich-Instituts, da „bei weitem nicht bei jeder Verdachtsmeldung ein Kausalzusammenhang mit der Impfung gesichert ist“, weshalb „davon ausgegangen werden [kann], dass entsprechende Nebenwirkungen oder gravierende Folgen ganz überwiegend nicht eintreten“ (Rn. 227).  

Frappierende Erörterungslücke

Am schockierendsten erscheint jedoch das nonchalante Überspringen der sich aufdrängenden Frage, ob der Staat zum Schutze anderer das Leben und die Gesundheit von in der Regel gesunden Menschen riskieren darf, wohlwissend, dass, statistisch betrachtet – unabhängig davon, wie man die Quote der schwerwiegenden bzw. tödlichen Nebenwirkungen einschätzt – durch die Impfpflicht sicher Menschen zu Schaden kommen.

Statt die Frage zu beantworten, ob der Staat aktiv töten darf oder ob hierin eine Verletzung der Menschenwürde zu erblicken ist, erging sich der Senat in einer knappen utilitaristischen Folgenabwägung und stellte lapidar fest: „Der sehr geringen Wahrscheinlichkeit von gravierenden Folgen einer Impfung steht im Ergebnis die deutlich höhere Wahrscheinlichkeit einer Beschädigung von Leib und Leben vulnerabler Menschen gegenüber“ (Rn. 230).

Der Senat hätte dabei zwingend die vorgenannten Fragen aufwerfen und seine Antwort insbesondere an seinen Ausführungen zum Luftsicherheitsgesetz messen müssen. Die einrichtungsbezogene Impfpflicht wird rein fremdnützig begründet, sodass sich der Gedanke, dass die Betroffenen damit zum bloßen Objekt der staatlichen Rettungsaktion zum Schutze anderer gemacht werden könnten, derart aufdrängt, dass man sich fragen muss, wie es zu der frappierenden Erörterungslücke kommen konnte.

Anders als beim Luftsicherheitsgesetz, mit dem der Staat den Abschuss eines entführten Flugzeugs anordnen und damit das Leben der Insassen opfern hätte können, ohne ihnen eine Wahl zu lassen, gibt es bei der Impfpflicht allerdings keinen unmittelbaren Zwang. Die damalige Entscheidung ist somit zwar nicht ohne weiteres übertragbar, aber aufgrund des existenziellen Drucks durch das drohende Tätigkeitsverbot reicht die Maßnahme auch hier recht nah zumindest an einen mittelbaren Zwang heran. Jedenfalls hätte das Gericht nach althergebrachten Wertmaßstäben des Grundgesetzes nicht ohne weiteres Leben gegen Leben abwägen dürfen.  

Verengter Entscheidungsspielraum

Neben der grotesken inhaltlichen Begründung der Entscheidung bleibt noch auf den Umstand hinzuweisen, dass das Gericht erneut auf eine mündliche Verhandlung verzichtet hatte. Wie auch schon bei den –  den Anfang allen Übels markierenden – harsch kritisierten Bundesnotbremsentscheidungen, obwohl sich bereits aus Gründen der Transparenz und der Bedeutung des Verfahrens das Abhalten einer Verhandlung aufgedrängt hat.

Das Bundesverwaltungsgericht hingegen verhandelt seit dem 2.Mai 2022 über ein ähnliches Thema, nämlich die Duldungspflicht im Hinblick auf die Covid-Impfung bei Soldaten. Obgleich sich nunmehr der Entscheidungsspielraum aufgrund der Bindungswirkung des veröffentlichten Beschlusses deutlich verengt hat, dürfte noch ein gewisser Spielraum für eine anderweitige Beurteilung bestehen, da hier zumindest auch andere Aspekte zu thematisieren sind. Insbesondere dürften in der Bundeswehr kaum vulnerable Personen anzutreffen zu sein.

Nachdem das Bundesverfassungsgericht auffallend schnell – innerhalb nur weniger Monate – in der Hauptsache entschieden hat, stellt sich die Frage, ob der Senat mit seiner Entscheidung vom 27. April 2022 etwa einem abweichenden Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zuvorkommen wollte. Schließlich wurde immer noch nicht in der Hauptsache über die seit 2020 anhängigen Verfassungsbeschwerden zur Masernimpfpflicht (wobei dort die Übergangsfristen verlängert wurden) entschieden. Ein Geheimnis bleibt übrigens, ob die hiesige Entscheidung einstimmig erging. Bei den Bundesnotbremse-Entscheidungen hingegen wurde das (einstimmige) Abstimmungsergebnis mitgeteilt.  

Massiver Vertrauensverlust

Seit den Bundesnotbremse-Entscheidungen, die deutlich machten, dass das Gericht nicht beabsichtigt, eine enge verfassungsrechtliche Kontrolle durchzuführen und es stattdessen bei einer „Vertretbarkeitskontrolle“ belässt (auch in diesem Beschluss, Rn. 187), ist mir bewusst, dass von dem höchsten Gericht Deutschlands – noch weniger als von den Fachgerichten – in Sachen Corona nichts zu erwarten ist. Was folgt daraus? Tatenlos Rechtsbrüchen zusehen? Klagen, um das Unrecht zu dokumentieren?  Nach meinem Dafürhalten sollten Betroffene erwägen, das Bundesverfassungsgericht nicht mehr in Sachen Corona anzurufen. Es verdient das Vertrauen der schutzsuchenden Bürger nicht mehr – und deshalb sollte es auch keine Gelegenheit mehr zur Äußerung erhalten.

Nachdem der Befangenheitsantrag wegen des „Dinners im Kanzleramt“ – zu Unrecht – abgelehnt wurde, wäre es möglicherweise aus politischen Gründen besser gewesen, die anhängigen Verfassungsbeschwerden zur Bundesnotbremse zurückzuziehen und damit den Vertrauensverlust aufzuzeigen. Notwendig wurden diese Erwägungen, da weder die zur Entscheidung berufenen Richter für die Beschädigung des Ansehens des Gerichts noch die beteiligten Politiker Verantwortung für das inakzeptable Verhalten übernommen haben. Einzig schonungslose Transparenz hätte wieder Vertrauen herstellen können.   

Ein Gefühl von Ohnmacht

Es ist eine bittere Erkenntnis, die ein Gefühl von Ohnmacht vermittelt. Und natürlich fällt es schwer, diesen Schritt, die Rücknahme einer Verfassungsbeschwerde, zu gehen. Hat man es erst einmal so weit gebracht, dass der Senat die eigene Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung annimmt (was sehr selten geschieht), fällt es schwer, loszulassen. Von der ganzen Arbeit und der Hoffnung, die unweigerlich aufflammt, einmal ganz abgesehen. Ich sage das nicht leichtfertig. Einer meiner für mich bedeutsamsten Momente in meiner Berufslaufbahn war neben der Vereidigung zur Rechtsanwältin das Unterzeichnen meiner ersten – auch erfolgreichen – Verfassungsbeschwerde. Mich schmerzt, dem höchsten Gericht Deutschlands in grundsätzlicher Hinsicht kein Vertrauen mehr entgegenbringen zu können.  

Es liegt nunmehr an den Richterinnen und Richtern sowie der Politik, das Vertrauen in die Unabhängigkeit und Objektivität des Bundesverfassungsgerichts durch geeignete Maßnahmen wieder herzustellen. Das Gegenteil geschieht indes momentan. Und so wirkt es nach alledem geradezu zynisch, dass Harbarth jüngst konstatierte: „Zu jedem Zeitpunkt der Pandemie haben Gerichte – auch das Bundesverfassungsgericht – auf die Achtung der Grundrechte geachtet und den notwendigen Abstand zur Politik gewahrt.“

 

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