Debattenkultur und Demokratie - Was ist eigentlich nicht „umstritten“?

Das Adjektiv „umstritten“ hat Konjunktur. Seine Verwendung ist allerdings häufig irreführend: Denn über eine „umstrittene“ Meinung, so die Botschaft, soll gar nicht gestritten werden. Man soll sie nicht haben. Und einen „umstrittenen“ Politiker nicht wählen.

Hans-Georg Maaßen gilt für viele als der Prototyp des Umstrittenen / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Es gibt eine Sphäre des Wissens und eine Sphäre des Meinens. Das zu akzeptieren fällt vielen Menschen schwer. Man kann das sogar verstehen. Wie angenehmer wäre es doch, wenn die eigenen subjektiven Meinungen objektives Wissen wären. Doch leider: Das ist zumeist nicht der Fall. Der Grund dafür ist einfach: Es gibt große Bereiche unseres Lebens, in denen Wissen per se ausgeschlossen ist. Und wie es der Teufel so will: Es sind genau jene Aspekte unseres Alltags, die uns besonders wichtig sind: Regeln, Werte und Normen. Eine moralische oder ästhetische Aussage artikuliert niemals ein Wissen. Lediglich eine Meinung oder Befindlichkeit.

Das ist der einfache Grund dafür, dass moralische oder eben auch politische Meinungen umstritten sind. Es kann gar keine unumstrittene moralische oder politische Meinung geben. Selbst Dokumente wie die Menschrechtscharta oder das Grundgesetz sind nicht Ausdruck eines normativen Wissens und objektiver Erkenntnis, sondern Ausdruck der westlichen Kultur um die Mitte des 20. Jahrhunderts. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Zu anderen Zeiten und an anderen Orten galten und gelten andere Normen. Objektives Wissen gibt es auch hier nicht. Nur moralische Vorlieben. Und weil man diese nicht abschließend und zwingen begründen kann, sind alle ethischen Präferenzen notwendig umstritten.

Eine erstaunliche Karriere 

Umgekehrt bedeutet das: Die Feststellung, irgendeine Meinung, Ansicht oder Position sei umstritten, ist immer banal und nicht der Rede wert.
Umso mehr muss es daher irritieren, dass das Wort „umstritten“ in den letzten Jahren eine ganz erstaunliche Karriere gemacht hat. Insbesondere in der medialen Berichterstattung wird gerne herausgehoben, Politiker seien „umstritten“, Parteien seien „umstritten“ und politische Ansichten seien „umstritten“.

Offensichtlich gibt es also Positionen, deren Umstrittenheit über ein Normalmaß hinausgeht und daher so umstritten sind, dass man es erwähnen muss.
Diese Verwendung von „umstritten“ setzt natürlich einen Rahmen voraus, der das weniger Umstrittene von dem stark Umstrittenen trennt, ohne dabei selbst umstritten zu sein. Einen solchen Rahmen aber kann es nicht geben. Schließlich kann der Rahmen sich ja nicht selbst einrahmen. 

Der Prototyp des Umstrittenen

Schaut man sich genauer an, was in deutschen Medien als „umstritten“ gilt, muss man zu dem Schluss kommen, dass linke Position anscheinend gänzlich unumstritten sind. Gleiches gilt für Personen. Robert Habeck etwa scheint gänzlich unumstritten. Sogar in der CDU. Hans-Georg Maaßen hingegen ist offensichtlich der Prototyp des Umstrittenen. Sogar in der CDU. Für einen linken Politiker ist es so gut wie unmöglich, sich den Status „umstritten“ zu erarbeiten, der Konservative oder Rechte ist es von Natur aus.
Interessant auch die Bewertung einzelner Standpunkte in der Corona-Krise. Liberale Positionen etwa sind offensichtlich arg umstritten. Anders als Karl Lauterbach, der „Gesundheitsminister der Herzen“. Der scheint gänzlich unumstritten. Man könnte so fortfahren.

„Umstritten“ ist in einer Demokratie alles: Personen, Äußerungen, Positionen. Das Unumstrittene gibt es nicht. Wenn nun einzelne Protagonisten oder Überzeugungen als „umstritten“ markiert werden, so hat das nur eine Botschaft: Sie als indiskutabel zu brandmarken. Der Umstrittene ist nicht einfach nur umstritten, sondern fällt – so der wenig subtile Subtext – aus dem Rahmen dessen, worüber man streiten darf. Wer diesen Rahmen vorgibt bleibt dabei schleierhaft.
So gesehen ist das Adjektiv „umstritten“ in seiner zeitgenössischen Verwendung reine Heuchelei. Es meint eben nicht umstritten, sondern im Grunde: darüber sollte man nicht streiten. Eine Äußerung, Person oder Partei die umstritten ist, sollte es besser gar nicht geben.

Konkurrenz unter Unumstrittenen

Ganz nebenbei offenbart sich hier ein fragwürdiges Demokratieverständnis. Demnach ist eine gelungene Demokratie eine Konkurrenz unter Unumstrittenen. Die Herrschaft des totalen Konsenses. Wozu man dann überhaupt noch Debatten oder Abstimmungen braucht? Vermutlich damit die Vertreter des Unumstrittenen sich gegenseitig beglaubigen, wie demokratisch sie sind.

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